VERGRABEN, VERBRENNEN, VERDRÄNGEN

August 26, 2022 | | No Comments

CHF 10.00


Beschreibung

  • Cover: Jonas Fischer
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EDITORIAL

Vergraben, ­verbrennen, verdrängen

Wir kennen den Benzinpreis pro Liter, CHF 2.26 (Bleifrei 98, am 18.5.22), den Preis einer Kilowattstunde Strom (Zürich: 12–16 Rp. im Niedertarif) oder eines ­STRAPAZIN-Abos (CHF 50/EUR 34), aber der Wert einer gesunden, weder Mensch noch Tier ­krank­machenden Umwelt scheint uns egal zu sein.


Von 1964 bis 1990 soll Texaco, das 2001 mit Chevron fusionierte, mehr als 16 Millionen Liter Rohöl und 18 Milliarden Liter verschmutztes Abwasser in den Amazonas-Regenwald geleitet und dabei Boden und Wasser mit giftigen Chemikalien verseucht haben, was bei den dort lebenden Menschen Krebs, Fehlgeburten, Hautkrankheiten und Geburtsfehler verursacht haben soll. Mehr als 30000 Menschen sind von dieser Umwelt­katastrophe lebensbedrohlich betroffen. Ein ecuadorianisches Gericht verurteilte Chevron zur Zahlung von 19 Milliarden Dollar Schadenersatz – der höch­sten jemals gegen einen Ölkonzern wegen Umweltschäden verhängten Strafe. Chevron ak­zeptierte das Urteil nicht, ein Anwalt des Unternehmens sagte: „Wir werden dagegen ankämpfen, bis die Hölle zufriert, und dann werden wir es auf dem Eis weiter bekämpfen“. Chevron hat dieses Versprechen mehr als eingelöst – ein New Yorker Bundesrichter entschied 2014 zugunsten von Chevron und stellte fest, das Urteil in Ecuador sei durch Bestechung und Nötigung erreicht worden. Der klagende US-amerikanische Rechtsanwalt, Steven Donziger, wurde mit fadenscheinigen Gründen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, seine Zulassung wurde ihm aberkannt. Und im September 2018 erklärte der Ständige Schiedshof in Den Haag das ecuadorianische Urteil für ungültig…
Unterdessen verbleiben die toxischen Nebenprodukte der Erdölförderung im Boden und werden noch weitere Generationen der dort ansässigen Bevölkerung krank machen. Amelia Fiske und Jonas Fischer haben den Horror in Bilder umgesetzt.

In der Schweiz entstehen jährlich rund 80 bis 90 Millionen Tonnen Abfall, das sind ca. 720 kg Abfall pro Person (Dänemark: 845 kg, Deutschland: 632 kg, Rumänien: 287 kg), ein Teil davon ist hochgiftig. Wohin damit? Zum Beispiel in den Boden. 1978 wurde in Kölliken (Kanton Aargau) eine Sondermülldeponie eröffnet. Dort wurde so ziemlich alles verbuddelt, was irgendwie giftig war. Bald begann es zu stinken und in den Gewässern der Gegend starben tonnenweise Fische. Erst 2005 begann man die Deponie zu sanieren, es mussten über 600 000 Tonnen Material abgeführt und in Spezialöfen verbrannt werden, was fast eine Milliarde Schweizer Franken kostete.
Die Beseitigung von Giftmüll, aber auch von normalem Hauskehricht, von Grünabfällen, Tierkadavern und – ja, menschlichen Leichen gehört nicht zu den begehrtesten Jobs, doch viele Leute nehmen täglich in die Hand, was wir angeekelt wegwerfen. Celine Künzle hat einige von ihnen besucht und zu ihrem Alltag befragt.

Nach dem Reaktorunfall von Fukushima beschloss die Schweiz, schrittweise aus der Atomenergie – beschönigend «Kernenergie» genannt – auszusteigen, die bestehenden Kraftwerke dürfen jedoch in Betrieb bleiben, «solange sie sicher sind». Die letzten Atomkraftwerke in Deutschland sollen bis Ende dieses Jahres vom Netz gehen. Das ist lobenswert, aber in letzter Zeit ist die Atomkraft weltweit wieder im Kommen, nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und den damit verbundenen Sanktionen gegen Russlands Öl- und Gaslieferungen.
In Finnland, zum Beispiel, ist gerade das fünfte AKW ans Netz gegangen, ein weiteres ist geplant. Die USA erzeugen mit 94 Anlagen und zwei im Bau befindlichen am meisten Atomstrom, vor Frankreich mit 56, China mit 49, und Russland mit 38 Reaktoren. Dabei ist nach wie vor unklar, wie die noch Zehntausende von Jahren weiter strahlenden Abfälle und der kontaminierte Schutt abgebauter Reaktoren entsorgt werden sollen.
Dass radioaktive Strahlung Schäden verursacht, ist seit langem bekannt, dass aber auch nur sehr schwache Strahlung Einfluss auf Lebewesen haben kann, wurde erst zum Thema, als Cornelia Hesse-Honegger mit ihren Bildern von strahlengeschädigten Insekten aus der Nähe von AKW darauf aufmerksam machte.

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DAS GESCHRIEBENE WORT

Verfluchtes Öl, Dschungelwelten und Sklavenaufstände

Der 1878 in Baltimore USA geborene Upton Sinclair war einer der populärsten Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt. Noch in den 1970er-Jahren fand man in vielen Schweizer Brockenhäusern seine Romane in den deutschsprachigen Ausgaben des Berner Alfred Scherz Verlags und der Büchergilde Gutenberg. Ich habe den einen oder anderen Roman dort billig erstanden, weil es ja immer hiess, Upton Sinclair schreibe kommunistischen Kitsch. Und den habe ich immer gerne gelesen.
Die offizielle Literaturkritik war nicht gnädig mit Sinclairs sozialkritischem Werk, aber wie wir ja alle wissen, haben diese Kreise oftmals wenig Einfühlungsvermögen und ihre harsche Kritik bedeutet eher ein Qualitätszeugnis.

Upton Sinclair – der Ölrausch in Südkalifornien als Geburtsstunde des Raubtierkapitalismus

Vor ein paar Jahren erschienen im Manesse Verlag zwei Romane von Sinclair in ausgezeichneten Neuübersetzungen: Boston, im Original 1928 erschienen, eine bitterböse satirische Schilderung des Justizmordes an den beiden Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, sowie Öl!, ein Jahr vorher erschienen, die Geschichte des Ölrausches in Südkalifornien zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Öl! habe ich eben wieder gelesen. Ein grandioser Roman. Die Hauptrolle darin spielt Bunny, der Sohn des Ölbarons J. Arnold Ross. Ross Senior war übrigens Vorbild für die Titelrolle des mit dem Oscar prämierten Hollywood-Ölschinkens There Will Be Blood von 2007.
Bunnys Vater macht einen klassisch amerikanischen Aufstieg vom Maultiertreiber zum Ölmagnaten und wünscht sich seinen Sohn als Nachfolger. Doch Bunny ist hin- und hergerissen: Früh findet er Freunde aus der ­Arbeiterklasse, die für ihre Überzeugung ins Gefängnis marschieren. Bunnys Geld holt sie wieder heraus. So sieht er später als Student, reicher Erbe und Liebhaber einer Holly­wood-Schönheit, immer beide Seiten, nämlich, was die Reichen so treiben und die Armen so leiden. Und irgendwann muss sich auch jemand wie Bunny entscheiden, auf welche Seite er gehört.
Das klingt jetzt wirklich ein bisschen kitschig, aber Upton Sinclair hat eine sehr nüchterne, lakonische und satirische Art, über die Gefühlsregungen des unentschiedenen Bunny zu schreiben. Dabei erfährt man etwas über Ölförderung, sehr viel darüber, wie die Aussicht auf Wohlstand die Beziehungen der Menschen kaputt macht, und wie das Geld, welches das Öl bringt, sich in die Politik einmischt, alles korrupt und käuflich macht. Mit dem Öl hat sich der Kapitalismus endgültig durchgesetzt und manipuliert nun die sogenannte älteste Demokratie der Welt, die USA. Womöglich war der erste Ölbohrturm die Geburtsstunde des Raubtierkapitalismus.

Berühmt wurde Upton Sinclair, der als Enthüllungsjournalist zu schreiben begann, allerdings schon mit seinem Erstling The Jungle aus dem Jahr 1906. Der Dschungel ist ein Enthüllungsroman über die Zustände in den Fleischkonservenfabriken von Chicago. Sinclair wurde unter anderem vom damaligen Präsidenten Teddy Roosevelt als «Muckraker», als Dreckaufwühler und Nestbeschmutzer bezeichnet. Ein Ehrentitel! Sinclairs Anliegen war es eigentlich, die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in jenen Fabriken zu zeigen, aber das Publikum empörte sich vor allem über die Beschreibung der ekligen Dinge, die in die Konserven gelangten. Insofern hatte das Werk auch Folgen: Per Gesetz wurden hygienische Vorschriften in den Fleischfabriken erlassen. Dass die Arbeiterschaft weiterhin gnadenlos ausgebeutet wurde, interessierte nicht so sehr.

Ursula K. Le Guin, grosse Ideen- und Weltenbauerin der Literatur

Bleiben wir im Dschungel oder im Wald. Nicht Erdöl, sondern Holz ist der gesuchte Stoff im nächsten Roman. Das Wort für Welt ist Wald von Ursula K. Le Guin (1923–2018) ist einer meiner allerliebsten Science-Fiction-Romane. Ich weiss, dieses Genre ist etwas anrüchig und bringt die literarischen Kulturverweser*innen dazu, die hohe Stirn zu runzeln. Aber der Blick in die Zukunft war schon immer sehr faszinierend und längst haben sich kühne Visionen bewahrheitet oder sind zumindest ins Narrativ der Hochkultur eingedrungen.
Die Handlung des Romans: Die Erde, ausgepowert und beherrscht von Konzernen, rückt in den Weltraum vor, um unbekannte Welten zu kolonisieren. Darunter ist auch Athsche, wie die Indigenen ihren Planeten nennen. Athsche heisst Wald und dieser wird von den Kolonisten gefällt, denn Holz ist auf der Erde ein sehr seltener Rohstoff geworden. Die Indigenen von Athsche wehren sich zuerst nicht gegen ihre Versklavung. Sie haben keine Regierung und keine Repräsentanten, sie leben in Gemeinschaften in einer nahezu symbiotischen Beziehung mit dem Wald. Die Frauen machen die Politik, die Männer träumen. Denn die Traumzeit ist ebenso wichtig wie die Weltzeit. Die Athsche sind Humanoide, einen Meter gross, mit einem seidigen, grünen Fell – so hat sich das die Autorin ausgedacht. Sie werden von den Kolonisten gnadenlos ausgenützt und erst, als ein Indigener mit dem Namen Selver von einem brutalen terranischen Offizier fast zu Tode geprügelt wird, lernen sie, was Gewalt ist und wie man sie ausübt. Sie erheben sich unter Selvers Führung gegen die Eindringlinge und endlich siegt mal wieder ein unterdrücktes Volk.
Das Werk galt seit seinem Erscheinen 1972 als eine Art Gleichnis für den Vietnamkrieg, was auch heute noch durchaus zutreffend scheint. Der nicht allzu voluminöse Roman ist jetzt in einer eleganten und stimmigen Neuübersetzung von Karen Nölle erschienen, zusammen mit einem späteren Kurzroman Le Guins mit dem Titel Die Überlieferung aus dem Jahr 2000. Auch dort geht es um Hegemonie, um ein Volk, das sein reiches kulturelles Erbe, das aus erzählten Geschichten besteht, unterdrücken muss.

Ursula K. Le Guin, eine der grossen Ideen- und Weltenbauerinnen der Literatur, hat sich schon immer für Gesellschaftssysteme interessiert. Ihr wichtigster Roman diesbezüglich ist The Dispossessed, den es ebenfalls in einer kundigen Neuübersetzung von Karen Nölle gibt. Freie Geister heisst er, und darin geht es um einen Wettstreit der Systeme: Anarchismus gegen Kommunismus gegen Kapitalismus. Und mittendrin die Wissenschaft. Aktueller geht es fast nicht mehr!

Arthur Koestler über die Eigendynamik von Rebellionen

Wie’s der Zufall so will, habe ich am Ostermontag den Fernseher angestellt und plötzlich schaut mir Kirk Douglas mit ehernem Blick und ohne mit der Wimper zu zucken ins Gesicht. Spartacus! Diese Hollywood-Schwarte von 1960, mit Stanley Kubrick als Regisseur, ist ideologisch geradezu einwandfrei. Das Drehbuch stammt von Dalton Trumbo, einem Kommunisten, der sich 1947 geweigert hatte, vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe auszusagen und dafür nicht nur elf Monate Gefängnis bekam, sondern auch jahrelang nur noch unter einem Pseudonym für Hollywood arbeiten konnte. Erst bei Spartacus erschien sein eigener Name wieder im Vorspann.
Sklavenaufstände gegen das römische Imperium gab es einige und sie waren teils spektakulär. Roms Wirtschaft beruhte fast gänzlich auf der Sklaverei und Aufstände brachten das Imperium an den Rand des ­Zusammenbruchs. Im sogenannten Dritten ­Sklavenkrieg im Jahr 73 vor Christus führte Spartacus, ein Sklave aus Thrakien und Gladiator in Capua, in der Nähe von Neapel, die Aufständischen an. Militärisches Geschick und die Dummheit der Römer brachten ihm zuerst grosse Siege, doch dann kam es zu internen Streitigkeiten, die Aufständischen trennten sich und wurden besiegt.

Arthur Koestler, 1903 in Budapest geboren und 1983 in London gestorben, war Kommunist, verliess aber die Partei nach den Moskauer Schauprozessen unter Stalin. In seinem bekanntesten Roman Die Sonnenfinsternis beklagt er die Pervertierung der Russischen Revolution. Zudem hat er noch zwei historische Aufstände gegen die Unterdrückung beschrieben: In Ein spanisches Testament berichtet er von seinem Gefängnisaufenthalt in Malaga 1937, das eben von den Truppen Francos erobert worden war. Und in Der Sklavenkrieg erzählt er von Spartacus und seinen Gladiatorengenossen. Koestler geht dabei vor allem der Frage nach, ob und inwieweit in einer Revolution der Zweck die Mittel heiligt, ob Gewalt und Terror zur Durchsetzung einer gerechten Gesellschaftsform überhaupt geeignet sind. Dabei schreibt Koestler sehr raffiniert und differenziert, er lässt Randpersonen zu Wort kommen, die ihre Sicht der Dinge erzählen, während die «Helden» wie Spartacus und Crixus von der Dynamik ihrer eigenen Rebellion überrollt werden.
Wenn ich hier mit einem abgedroschenen Spruch aufhören darf: Dieser Roman ist ganz grosses Kino!

Wolfgang Bortlik

BOOKLIST

Upton Sinclair: «Der Dschungel».
Unionsverlag, Zürich 2014,
412 Seiten, CHF 23.–

Ursula K. Le Guin: «Grenzwelten».
Zwei Romane. Fischer TOR, Frankfurt a. M. 2022,
398 Seiten, CHF 24.-

Ursula K. Le Guin: «Freie Geister».
Fischer TOR, Frankfurt a. Main 2017,
432 Seiten, CHF 22.-

Arthur Koestler: «Sonnenfinsternis».
Roman nach dem deutschen Originalmanuskript,
Elsinor Verlag, Coesfeld 2021,
255 Seiten, CHF 26.-

Arthur Koestler: «Der Sklavenkrieg».
Ungekürztes Original, Elsinor Verlag, Coesfeld 2022,
390 Seiten, CHF 39.-

Arthur Koestler: «Ein spanisches Testament»,
Europa Verlag, München 2021, CHF 18.50

Upton Sinclair: «Öl!».
Manesse Verlag, Zürich 2013.
(Müsste noch antiquarisch aufzutreiben sein).

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PFLICHT LEKTüRE


Illustrationen: Ishadyn/Sindhya Bergamin

Anne Simon: «Boris, das Kartoffelkind»

Von Suffragette City zum Pommes-Imperium

Seit 2012 zeichnet die Französin Anne Simon Comicgeschichten aus dem Königreich Marylène: in einem ausgeklügelten Fanzine-Stil mit feinen schwarzweissen Schraffuren, variantenreicher Seitenarchitektur und effektvollen Kontrasten. Die ausgesprochen diversen Be­woh­­ne­r*innen dieses phantastischen Landes tragen Schnäbel, Echsenköpfe oder Fischschuppen, es gibt Wassermänner, walzertanzende Pferde und eine Armee aus langbeinigen Fritten-Frauen.
Simons Marylène-Geschichten sind feministisch, politisch und philosophisch – und mit Humor gewürzt. Auf Deutsch erschien 2014 mit Das Tun und Lassen der Aglaé der erste Teil, die Ermächtigungsgeschichte der Wassernymphe Aglaé, in der sie den Tyrannen des Reiches stürzt und selbst die Macht ergreift. Darauf folgte mit Die Kaiserin Cixtite, eine Art alternative Fortsetzung. Boris, das Kartoffelkind ist nun ein weiterer Teil, der an das Ende von Das Tun und Lassen der Aglaé anknüpft, aber ebenfalls Bezug auf Die Kaiserin Cixtite nimmt.
Wir erinnern uns: Die Wassernymphe Aglaé wird ungewollt schwanger und daraufhin von ihrem Vater verstossen. Sie ist entschlossen, ihr Kind allein zur Welt zu bringen, doch im Reich des misogynen Tyrannen von Krantz droht ledigen Müttern der Tod. Aglaé findet Zuflucht beim Zirkus von Direktor James Kite, willigt ihrer Sicherheit zuliebe ein, ihn zu heiraten, bringt Drillingstöchter zur Welt und lässt diese mehr oder weniger vom zirkuseigenen Walzerstar Henry the Horse grossziehen. Schliesslich stürzt sie den Tyrannen mit Hilfe von dessen Privatsekretärin Simone. Aglaé wird neue Herrscherin in Suffragette City. Sie krempelt Rollenmuster um und nimmt sich einen Liebhaber (ein in einem Erdloch verankertes Steinwesen).
Ergebnis dieser Liaison ist ein Sohn mit riesigem Kartoffelkopf – und seine Geburt löst aus, was Soziologinnen als Backlash bezeichnen würden: Das Kartoffelkind Boris übernimmt die Kontrolle über Aglaés Leben. Im dritten Marylène-Band ist aus der aufrechten Aglaé mit voluminösem, kunstvoll verkno­tetem Haar nach Boris’ Verfügung die «Luftblase» geworden, die mit gekrümmtem Rücken und brav gescheitelten Strähnen am Küchentisch sitzt und Berge von Kartoffeln schält, um ihrem Sohn Pommes zuzubereiten.
Boris bringt selbst gedrucktes Geld in der auf Tauschhandel basierenden Gesellschaft unters Volk und baut ein Imperium aus Fritten und Bier, mit denen er seine Untertanen gefügig macht. Da kann die kluge Simone nicht tatenlos zusehen … Schön, dass Anne Simon ihr und anderen Figuren aus Marylène weitere Comics gewidmet hat, die auf Französisch bereits erschienen sind.

Barbara Buchholz

Anne Simon: «Boris, das Kartoffelkind».
Übersetzt aus dem Französischen von Irène Bluche.
Rotopol Verlag, 164 S., Softcover, sw,
CHF 26.— / EUR 18

Erik Svetoft: «SPA»

Im Wellnesshotel des Grauens

Blutrot eingefärbt leuchtet das Titelbild, auf dem eine Gestalt in Bademantel und Schlappen in einem Flur mit extravaganten Tapeten steht, während sich hinter ihr ein riesiger, dämonisch wirkender Kopf in den Gang quetscht.
Der Schwede Erik Svetoft schaffte schon auf dem phantastisch-unheimlichen Cover seines Comics SPA einen spektakulären Kontrast zu den Assoziationen, welche die drei Buchstaben bei vielen Menschen auslösen (und trifft bei anderen womöglich genau ins Schwarze…). Auf den folgenden Seiten beschliesst ein Paar, sich ein Luxuswochenende weg von zuhause zu gönnen, liegen doch in ihrer Wohnung überall verwesende Körper herum. Das Spa-Resort, in dem sie einchecken, entpuppt sich allerdings als nicht minder grotesker Ort, ganz zu schweigen von den Leuten, die dort arbeiten oder logieren.
SPA ist der erste Comic mit Text des Schweden Erik Svetoft, der zuvor vier Bücher mit wortlosen Kurzcomics veröffentlicht hat. Auch in dieser längeren Geschichte üben vor allem die grossartigen Zeichnungen einen mächtigen Sog aus und laden ein, sich treiben zu lassen in zunehmend surreale Sphären des von innen vermodernden Luxushotels. Die trockenen Texte in roten dünnen Lettern setzen Akzente auf den schwarzweiss-grauen Seiten und konterkarieren zum Beispiel aufs Schönste typische Marketingfloskeln: «Wo Tradition auf Innovation trifft», sagt eine Hotelmitarbeiterin mit gleichgültiger Miene in einem Panel, während zwei andere im Hotel Beschäftigte nicht minder unbewegt ergänzen: «Motivation» bzw. «Innovation»…
Maskenhafte Gesichter, sich in Monster verwandelnde Menschen, überzeichnete Gestalten und wucherndes Gewächs bevölkern Svetofts SPA. Und dann gibt es da die beiden niedlich gezeichneten Figuren, die als «Techniker» einen mysteriösen Wasserschaden im Resort beheben sollen und in bester Slapstickmanier einander versehentlich den Hammer auf den Kopf hauen, Rohre verdrehen und al­les kaputtreparieren. Sie wirken einerseits wie lustige Pausenclowns, haben aber in ihrer Überdrehtheit etwas Unheimliches.
Auf Svetofts Seiten wechseln sich detailliert-opulente Phantastik und Horrorelemente mit klarer, sachlicher Gestaltung ab – ein wirkungsvoller Kontrast und alles in allem eine bildschöne Groteske.

Barbara Buchholz

Erik Svetoft: «SPA».
Übersetzt aus dem ­Schwedischen von Andreas Donat.
Luftschacht Verlag, 328 S.,
Softcover, zweifarbig,
CHF 35.— / EUR 28

Jennifer Daniel: «Das Gutachten»

Abgründe

«Es reicht nicht allein, die Verkehrsregeln zu beherrschen, es geht darum, Verantwortung zu übernehmen», herrscht Herr Martin seinen Sohn an, der gerade seine Führerscheinprüfung bestanden hat. Wir befinden uns in einer Bonner Vorortsiedlung im Juli 1977, kurz vor dem «Deutschen Herbst», inmitten eines Krimis um Verantwortung, um Schuld, Verdrängung und Traumata. In flächigen, gedeckten Farben, mattem Grün und Graubraun, die an den Farbstich auf Fotografien jener Zeit erinnern, beschreibt Jennifer Daniel in ihrem Comic Das Gutachten vor allem aber das Gefühl der Enge, der Unbeweglichkeit, das jene Jahre auszeichnet. Herr Martin arbeitet als Fotoassistent in der Bonner Rechtsmedizin und wird nachts von seinen Kriegserinnerungen heimgesucht, die er mit Alkohol und einem extrem geordneten Leben in den Griff zu bekommen versucht. Sein viel zu kleines Auto unterstreicht die Beengtheit seines Lebens, ohnehin erzählen Autos als Statussymbole in Das Gutachten viel über jene Zeit und ihre Fah­rer*in­nen. Unglücklich blickt Herr Martin sich jeden Morgen durch seine dicke Hornbrille im Spiegel an; das Verhältnis zu seiner Familie ist nicht von Herzlichkeit und Liebe geprägt, sondern von Gleichgültigkeit. Seinem Sohn, der aus der Routine und den Erwartungen auszubrechen versucht, seinen Kriegsdienst verweigern will und lange Haare trägt, begegnet er mit Misstrauen, seinem Chef mit Unterwürfigkeit.
Durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle wird Herr Martin in einen Unfall verwickelt, der den zweiten Handlungsstrang mit seiner Biografie verbindet: Die junge RAF-Sympathisantin Miriam Becker und ihr dreijähriger Sohn sterben auf einer Landstraße durch einen Unfall, nachdem eine Solidaritätsaktion für inhaftierte Terroristen schiefgegangen ist – bei einem Fest im Bonner Kanzleramt sollte ein Transparent entrollt werden. Verursacher des Unfalls ist ausgerechnet ein hoher Beamter, der betrunken von eben diesem Fest nach Hause fährt, Herr Martin ist kurz danach am Unfallort, sieht aber nur noch den unerkannten Täter wegfahren und kann Miriam Becker nicht mehr helfen. Nachdem die Tote in seinem Institut gelandet ist, beginnt er auf eigene Faust zu recherchieren, findet den Mann, der Fahrerflucht begangen hat und der auch von Herrn Martins Chef gedeckt wird, und entledigt sich in der Folge von seiner Unterwürfigkeit, beginnt die Enge seiner Zeit zu hinterfragen. Dass er dennoch scheitert und kurz darauf der «Deutsche Herbst» umso brutaler zuschlagen wird, deutet Jennifer Daniel in ihrem beeindruckenden Comic nur an. Hinter den Bildern, die nur auf den ersten Blick an Bilderbücher jener Jahre erinnern, lauern Abgründe.

Jonas Engelmann

Jennifer Daniel: «Das Gutachten».
Carlsen, 208 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 36.90 / EUR 25

Olga Lawrentjewa: «Surwilo. Eine russische Familiengeschichte»

Krieg, Hunger, Tod

«Meine Kindheit war mit zwölf Jahren vorbei, im November 1937», erinnert sich Walentina Surwilo, als sie Jahrzehnte später ihrer Enkelin Olga Lawrentjewa aus ihrem Leben erzählt, das in jenem November 1937 eine jähe Wendung nimmt. In Surwilo. Eine russische Familiengeschichte hat Lawrentjewa in kräftiger, schwarzer Tusche diese Erinnerungen in einen Comic übersetzt, der auch Bilder findet für das Schweigen, für das, was Walentina Surwilo nicht erzählen kann. Düstere Zeichnungen dominieren, nur wenig Licht scheint im Leben von Walentina auf. Ihr Vater Wikenti Kasimirowitsch wird denunziert und fällt den Stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Dass er bereits wenige Tage nach seiner Verhaftung erschossen wurde, wird seine Tochter erst Jahrzehnte später erfahren, offiziell ist er wegen Spionage und Sabotage in Haft. Für die Familie endet damit ihr Leben in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, sie muss nach Baschkortostan am östlichen Rand Europas in die Verbannung, Bildung und reguläre Arbeit bleiben ihnen verwehrt.
1940 kehrt Walentina nach Leningrad zurück, darf trotz der Familiengeschichte ein Studium aufnehmen, doch als sie einen Job sucht, wird sie als Tochter eines Volksfeindes überall abgewiesen, bis sie in einem Gefängnisspital als Pflegerin angenommen wird. Mittlerweile hat die deutsche Wehrmacht der Sowjetunion den Krieg erklärt, im Krankenhaus erlebt Walentina die über zweijährige Belagerung Leningrads. «An Bomben gewöhnt man sich schnell. Kälte kann man ertragen, Dreck, Erschöpfung … Aber der Hunger ist das Schlimmste. Die Gedanken werden ganz schlicht. Immer dasselbe. Immer dasselbe. Brot. Brot. Brot. Brot», fasst sie später diese Jahre des Sterbens und Hungers zusammen. Von ihrer Familie überlebt niemand anderes diese Kriegsjahre: «Ich lebe für alle», sagt sie rückblickend zu ihrer Enkelin.
1958 wird ihr Vater rehabilitiert, was zumindest der nächsten Generation ein normales Leben ermöglicht, wenn auch die Angst, jederzeit einen geliebten Menschen verlieren zu können, sich tief in die Psyche der Familie eingegraben hat. «Ich habe in Angst gelebt. Sie war immer da. In mir und um mich – ich war daran gewöhnt», resümiert Walentina. Olga Lawrentjewa geht es in Surwilo weniger darum, Weltgeschichte in Comicform zu erzählen, vielmehr sucht sie nach Bildern, die davon erzählen, wie sich weltgeschichtliche Ereignisse, Krieg und Verfolgung, Hunger und Tod, auf das Individuum auswirken. «Auch die Erinnerung bewaldet sich. Alles gerät durcheinander. Details gehen verloren», schreibt Lawrentjewa über die Erinnerungen ihrer Grossmutter. Einige Details konnte sie durch ihren Comic bewahren, andere sind im Dickicht des Waldes verloren gegangen.

Jonas Engelmann

Olga Lawrentjewa: «Surwilo. Eine russische Familiengeschichte».
avant-verlag, 312 S.,
Hardcover, s/w,
CHF 39.90 / EUR 28

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Timothy Snyder, Nora Krug: «Über Tyrannei – Zwanzig Lektionen für den Widerstand»

Leider fucking aktuell!

Timothy Snyder ist Geschichtsprofessor an der Yale University und Kenner der Geschichte von Mittel- und Osteuropa und des Holocausts. Sein 2017 in den USA erschienener Text On Tyranny: Twenty Lessons from the Twentieth Century ist das Fundament für eine illustrierte Geschichte der Populist*innen, Opportunist*in­nen, der Volksmörder*innen und ihrer Lakai*innen. Er ist aber auch und deshalb so zwingend ein Leitfaden der verschiedensten Formen des Widerstands gegen Populismus und Nazismus. Der Text erschien ja auch fast gleichzeitig mit dem Amtsantritt des 45. amerikanischen Präsidenten und späteren Capitol-Stürmers Donald Trump. Aber keine Angst vor politischer Graumalerei, gewiss wurde das Buch in den USA vor allem von gesellschaftlich aktiven Zeitge­noss*in­­nen rezipiert. Snyder wollte von Anfang an auch ein jüngeres und offenes Publikum ansprechen. Er stiess auf das Buch Be­longing (auf Deutsch Heimat) der in New York lebenden deutsch-amerikanischen Illustratorin und Autorin Nora Krug und war begeistert. Aus der darauffolgenden Zusammenarbeit ist ein sprachlicher und bildnerischer Reigen entstanden, der uns durch zwanzig Kapitel oder eben Lektionen des Erkennens von totalitären und populistischen Mechanismen führt. Nora Krugs Bildsprache, ihre Illustrationen und Collagen bedienen sich gekonnt an den historischen Blaupausen und der Ästhetik der faschistischen, nationalsozialistischen bzw. stalinistischen Leitbilder.
Und dann trifft da der bärenjagende Russe mit nacktem Oberkörper auch noch den blondierten König von Mar-a-Lago. Nora Krug kennt und benennt visuell auch die Gegenbilder, die Bildwelten des Dadaismus, der sowjetischen Avantgarde und der Neuen Sachlichkeit. In der Materialität und der Gestaltung trifft das Private eines Familienalbums auf die Didaktik eines Geschichtsbuches. Dieses Buch ist formal ebenso grossartig wie eigensinnig. Es pendelt zwischen Empathie und Aufklärung. Für euch, eure Kinder und Kindeskinder.
Auf Spiegel Online hiess es am 2. April 2017 als Kommentar zu Timothy Snyders Buch: «Eine hochpolitische Brandschrift, die sich wie eine letzte Warnung der drohenden Apokalypse liest.» Eine traurige, aber inzwischen eingetroffene Voraussage.

Roli Fischbacher

Timothy Snyder (Text), Nora Krug (Illustration):
«Über Tyrannei – Zwanzig Lektionen für den Widerstand».
C.H. Beck Verlag, 128 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 31.90 / EUR 20

Aisha Franz: «Work-Life-Balance»

Ergobeanies

Work-Life-Balance. Ein Unwort wie ein Peitschenhieb, doch haben wir uns mittlerweile so sehr daran gewöhnt, dass wir es gar nicht mehr hinterfragen. Work-Life-Balance. Das erledigt an unserer Stelle und zu unserem grössten Vergnügen Aisha Franz in ihrer jüngsten Graphic Novel.
Work-Life-Balance also. Oder: Willkommen in der unschönen neuen Arbeitswelt von schuhfreien Start-Up-Offices, in denen kreativ geschuftet, aber schlecht verdient wird, von grässlich-schicken Kunstgalerien, Pizzakurieren, fluiden Ergobeanies, Kunstwerken von dekorativer Hässlichkeit und modischen Therapien (auch online angeboten).
Vier typische Vertreter*innen dieser Arbeitswelt ringen um ihre Work-Life-Balance im Prekariat – und finden nur Frustration und Unzufriedenheit: Die Keramikerin Anita ist eine verhinderte Künstlerin; die sexuell übergriffige Start-Up-Angestellte Sandra zelebriert ihre erschütternde Banalität in vielgeschmähten MeTube-Videos, das IT-Genie Rex liefert Pizzen aus. Der gemeinsame Bezugspunkt ist eine Therapeutin von zweifelhafter Sensibilität, die am liebsten zum Sound von tippenden Tastaturen meditiert. Ihre Geschichten kreuzen, verknäueln und entwirren sich, bis garantiert alles aus dem Gleichgewicht gepurzelt ist.
Klischees? Ja, Klischees, und wie! Mit satirischem Biss zelebriert und seziert Aisha Franz diese Gemeinplätze, ihre Erzählweise ist rasant, die Zeichnungen sind stilisiert, dynamisch, voll von schrägen Details und Seitenhieben und wunderbar koloriert.
Dass Aisha Franz zu den begnadetsten Comic-Autorinnen im deutschen Sprachraum gehört, hat sie mit Alien (2011), Brigitte (2012) und Shit Is Real (2016) hinlänglich bewiesen. Wäre sie Französin, wäre sie längst ein Star, würde uns im Jahresrhythmus mit neuen Comics verwöhnen und hätte zweifellos eine weniger komplizierte Work-Life-Balance. Aber auch wenn seit Shit Is Real sechs Jahre vergangen sind – das Warten hat sich gelohnt: Work-Life-Balance ist ein mitreissendes Vergnügen, in welchem Zeitkritik, Satire und die Lust am Erzählen und Zeichnen perfekt ausbalanciert sind.

Christian Gasser

Aisha Franz: «Work-Life-Balance».
Reprodukt-Verlag, 256 S.,
Softcover, farbig,
CHF 31.90 / EUR 20

Zerocalcare: «Vergiss meinen Namen»

Ein richtig geiles Leben

So wie in Vergiss meinen Namen lässt sich eine komplizierte Familiengeschichte also auch erzählen: Ohne Betroffenheit, Bedeutungsschwere und Kitsch, sondern lustig, lustig, lustig!
Zerocalcare – in Italien längst ein Superstar, hierzulande dank seiner radikal subjektiven und engagierten Reportage Kobane Calling zumindest ein Begriff – ist 30, als seine geliebte Grossmutter stirbt. Da wird er sich bewusst, wie wenig er über sie im Besonderen und seine Familie im Allgemeinen weiss. Wie ist diese gepflegte, kultivierte Französin mit aristokratischer Ausstrahlung ausgerechnet in Rebibbia gelandet, diesem laut dem Rebibbia-Fan Zerocalcare besonders übel beleumundeten Vorort Roms?
Zerocalcare macht sich auf die Suche, und das ist der Beginn einer fulminanten Story, in der es ebenso sehr um Zerocalcares Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden in Rebibbia geht als auch um die Familiengeschichte, um die russische Revolution, die französische Résistance, den italienischen Alltag, adlige Hochstapler, Spione und vieles anderes mehr. Je tiefer Zerocalcare in die Vergangenheit eintaucht, je mehr er erfährt, desto abgedrehter wird sie, und je abgedrehter, irrer und unwahrscheinlicher sie ist, desto mehr kauft man sie ihm ab. Am Schluss ist nicht einmal mehr seine Mutter die, für die er sie seit seiner Geburt gehalten hat…
Zerocalcare selber steht und agiert im Mittelpunkt, er ist nicht nur der Autor und Zeichner, der Comic wird zu seiner Bühne, auf der er Vergiss meinen Namen performt wie ein begnadeter, timing- und pointensicherer Comedian. «Also verdammt, ich bin neidisch», stösst er einmal aus. «Ihr habt ein richtig geiles Leben geführt. Unsere Familie ist wie ein Film, bei dem die erste Hälfte von John Woo gedreht wurde. Und die zweite Hälfte, seit ich dabei bin, von Terrence Malick.» (Letzteres ist ein Synonym für die «grösste Scheiss­langweilerei des modernen Kinos.»)
Das Mitleid mit Zerocalcare hält sich in Grenzen. Denn aus dem «richtig geilen Leben» seiner Familie hat er eine richtig geile Graphic Novel destilliert, die sich – nehme ich mal an – im weiten Bereich zwischen Fakten und Fiktion oder, um Goethe zu bemühen, Wahrheit und Comic abspielt. Vergiss meinen Namen ist ganz grosse Erzählkunst, ein raffinierter, schlauer, temporeicher, durchtriebener Spass voller überraschender Wendungen und hochkomischer Anspielungen, vermittelt in kruden, streckenweise manga-inspirierten Zeichnungen. Kurz: Ich habe mich beim Comiclesen schon lange nicht mehr so gut amüsiert.

Christian Gasser

Zerocalcare: «Vergiss meinen Namen».
Übersetzt aus dem Italienischen von Daniel Koll,
avant-verlag, 240 S.,
Hardcover, s/w,
CHF 35.50 / EUR 25

Darryl Cunningham: «Putin’s Russia. The Rise of a Dictator»

Aufstieg und Macht des Wladimir Putin

Neben Grössen wie Joe Sacco oder Guy Delisle zählt Darryl Cunningham zu den profiliertesten Vertretern des Graphic Journalism. Er besticht vor allem mit journalistischen Stärken – seine Publikationen sind akribisch recherchiert und bringen ihre Argumente kristallklar auf den Punkt. Dabei hilft ihm, dass er sein eher bescheidenes zeichnerisches Talent sehr gezielt einsetzt, um vielschichtige Zusammenhänge zu entflechten, das Wesentliche herauszuschälen und zuletzt sehr deutlich abzubilden. Mit untrüglichem Gespür trägt Cunningham anspruchsvolle Sachverhalte mit leichter Hand vor. Das war schon so, als er sich mit den Unterschieden von Wissenschaft und Pseudo-Wissenschaft auseinandersetzte. Das war auch so, als er den Ursachen von Börsencrash, Finanzkrise und Immobilienblase auf den Grund ging. Und das ist auch so in seinem neusten Werk, das den Werdegang Wladimir Putins vom KGB-Offizier zum Staatspräsidenten Russlands darstellt. In konzentrierter Form schildert er, wie dieser zu einem der reichsten und mächtigsten Männer der Welt aufstieg. Der Weg, den Cunningham nachzeichnet, ist blutig und sein Titel, übersetzt: Putins Russland. Der Aufstieg eines Diktators, prägt das Narrativ. Schnurgerade der Chronologie folgend ruft er ins Bewusstsein, wie Anschläge, Erschiessungen, Giftanschläge, offene und verdeckte Kriege, Geldwäsche, Unterdrückung gleichgeschlechtlicher Bezie­hun­gen, Cyberattacken, Desinformation sowie Manipulation freier Wahlen die Amtszeit Putins begleiten. Nur der Krieg in der Ukraine fehlt noch, schliesslich erschien das Buch in England im September 2021 und in Nordamerika just vor dem Kriegsbeginn im Februar 2022. Wer Cunninghams Darlegungen folgt, erhält Einblicke in die Vorgeschichte dieses Konflikts und sieht die aktuelle Kriegsführung in einer Linie mit der bisherigen Politik Putins. Er rückt die Bedeutung von Sanktionen in ein klares Licht, indem er aufzeigt, wie jahrelang russische Milliarden anonym im Westen parkiert werden konnten. Das Einzige, was Cunninghams Bericht nicht enthält, sind mit Russ*innen geführte Interviews – wie sie zum Beispiel Joe Sacco in seinen Kriegsreportagen aus Palästina und Bosnien führte. Dafür enthält sein Buch – ähnlich wie dies auch Can Dündar und Mohamed Anwar in ihrer Graphic Novel über ­Recep Tayyip Erdogan tun – einen Anhang, in dem der Autor die beigezogenen Quellen offenlegt. Cunningham schliesst eindringlich mit der Mahnung, Putins Griff auf die Welt nicht zuzulassen, wenn uns Freiheit und Demokratie wichtig sind.

Florian Meyer

Darryl Cunningham: «Putin’s Russia. The Rise of a Dictator».
Auf Englisch bei Drawn & Quarterly, 164 S.,
Softcover, farbig,
$ 24.95

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Cynthia Häfliger: «Fremde Blicke»

Die Normalität der Psychose

Das Erstaunlichste an Cynthia Häfligers prämier­ter Graphic Novel sind die Farben. Zunächst kräftig, erscheinen sie über weite Strecken sanft, still und bezaubernd. Und doch wirken sie flüchtig und zerbrechlich, fast trügerisch, so als ob unter einer scheinbar glücklichen Oberfläche etwas Beunruhigendes lauert, das jederzeit hervorbrechen könnte. Genau darum geht es in Fremde Blicke!
Eigentlich ist Familie Zihler glücklich. Doch dann fühlt sich der Sohn Lars immer öfter beobachtet und verfolgt, sein Zustand verschlechtert sich zusehends. Erst als die Situation eskaliert, erhält er psychiatrische Behandlung. Dabei stellt sich heraus, dass er an einer Psychose leidet, also an einer Erkrankung, die sich in Form von Halluzinationen, Wahn oder auch durch Vermischung von Realität und Vorstellung äussert.
Cynthia Häfliger ist eine Schweizer Illus­tratorin, die in Illustration Fiction an der Hochschule Luzern – Kunst & Design abgeschlossen hat. Ihr Men­­tor war STRAPAZIN-Gründer ­Pierre Thomé. Fremde Blicke ist ihre erste Graphic Novel. Darin schildert sie, wie eine Psychose verläuft und wie schwierig es ist, wieder in die Normalität zurückzufinden, wenn man sie einmal verloren hat. Das Motiv der fliessenden Übergänge zwischen Wahn und Wirklichkeit hebt Häfliger grafisch hervor und gruppiert ihre Geschichte ganz nach den verschiedenen Phasen der Krankheit. Beim Lesen wird man Zeug*in, wie sich Lars’ Zustand von einem normalen zu einem ambivalenten und einem aggressiv-krankhaften wandelt. Man betritt jene fremde und gespenstische Wahnwelt, die Lars auf dem Höhepunkt als wirklich erlebt. Häfliger lässt nicht aus, dass eine Psychose nicht nur für den Erkrankten ein Leiden ist, sondern auch für die Angehörigen, die ihm helfen möchten.
Eindrücklich ist eine Szene zu Beginn der Krankheit, als Lars in einer Cafeteria steht und alle Leute sprechen gleichzeitig zu ihm, über ihn, gegen ihn und man versteht fast nicht, was sie eigentlich wollen. In diesem Moment werden seine Ängste nachvollziehbar; so schafft Häfliger Verständnis dafür, wie eine Psychose funktioniert. Stark ist, wie sie am Schluss die Rückkehr in die Normalität umschreibt: «Eines ist aber gewiss, es wird anders sein als davor, und das ist in Ordnung.» Für die, die mehr wissen möchten, enthält der Band weiterführende Informationen zu Psychosen und Schizophrenie.

Florian Meyer

Cynthia Häfliger: «Fremde Blicke».
Kunstanstifter, 136 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 29.90 / EUR 24

Alexander Braun: «Horror im Comic”

Monströses Werk

Der Kunsthistoriker und Comic-Experte Alexander Braun ist bekannt für seine profunden Kenntnisse und seine intensive Recherche. Nach seiner kiloschweren, grossformatigen Gesamtausgabe von Winsor McCays Little Nemo für den Taschen Verlag und Will Eisner – Graphic Novel Godfather, dem extrem detailreichen Katalog zu einer Ausstellung über das Werk des Comic-Pioniers Will Eisner im Dortmunder Schauraum, erscheint nun als Katalog für eine weitere Ausstellung im Schauraum der 456 Seiten starke Band Horror im Comic. Am Anfang steht ein Ausflug zu den makabren Bildwelten von Caravaggio, Rembrandt und Goya, anschliessend geht es zum Boom der Horror-Comics in den 50er-Jahren und der darauf folgenden (Selbst-)Zensur der Comicbranche in den USA, um dann die Gattungen aufzulisten: Vampire, Werwölfe, Geister, Zombies und Monster aller Art sowie Massenmörder, die den menschlichen Körper attackieren – auf der Erde, im Wasser oder im Weltall. In diesem Panoptikum des Grauens listet Braun zwar vor allem die Pulp-Magazine auf, untersucht aber auch Art-School-Comics sowie die speziellen Spielarten von italienischen und japanischen Horror-Comics (natürlich auch mit Extrem-Zeichner Suehiro Maruo, dessen abgründige Werke gerade von Reprodukt neu und teilweise erstmals veröffentlicht werden). Klar kann man bemängeln, dass zum Beispiel solche Klassiker wie Alan Moores From Hell oder Charles Burns Black Hole fehlen. Vielleicht haben sie sich aber nur zwischen den vielen Seiten versteckt – ein Personen- oder Sachregister, das die Suche vereinfachen würde, fehlt leider. Es sind eher solche Feinheiten, die man kritisieren kann, die aber die Leistung dieser Schau des Bösen, die Suche seines Ursprungs in der menschlichen Seele und seiner künstlerischen wie kommerziellen Verwertung nicht schmälert. Wie auch in Brauns anderen Sekundärwerken zum Comic nimmt auch der Film – zu dem der Comic immer eine grosse Verwandtschaft aufwies – eine grosse Rolle ein. Wer trotz des tatsächlichen Horrors in der Welt der Gegenwart noch Bedarf hat oder sich gerade deswegen für den Ursprung und die Spielarten des Horrors im Comic interessiert, wird nach der Lektüre wohl keine weiteren Fragen mehr haben.

Christian Meyer-Pröpstl

Alexander Braun: «Horror im Comic”.
avant-verlag, 456 S.,
Hardcover, farbig & s/w,
CHF 69.90 / EUR 49

Schuiten-Renard: «Metamorphosen»

Faszinierende Parallelwelten

Es ist ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk, das der Zeichner François Schuiten und der Szenarist Benoit Peeters mit Die geheimnisvollen Städte seit 1983 geschaffen haben. Je nach Zählweise sind bislang ca. 18 Alben in teils sehr unterschiedlicher Aufmachung erschienen, daneben enthält das Werk, das von einer Parallelwelt erzählt, die man als eine frühe Ausformulierung des Genres des Steampunk definieren kann, auch Fotografien, Zeit­schriften, CDs, DVDs, Webseiten und sogar jeweils eine Darstellung einer realen Metrostation in Brüssel und Paris.
Bei diesem beeindruckenden Werk kann man fast übersehen, dass Schuiten, der einer Architektenfamilie entstammt (und auch schon mit seinem Bruder, dem Architekten Luc Schuiten, Comics realisiert hat) bereits vorher gemeinsam mit seinem Mentor Claude Renard, bei dem er an der Brüsseler Kunsthochschule Saint-Luc studiert hat, erste Geschichten veröffentlichte, in denen er auf ähnliche Weise wie bei den späteren Geheimnisvollen Städten experimentierte. Der deutsche Verlag Schreiber & Leser, inzwischen Stammverlag für die Veröffentlichungen von Schuiten und Peeters, veröffentlicht nun mit Metamorphosen eine Sammlung, die die beiden Alben Die Mediane von Zymbiola und Das Gleis sowie das Port­folio Express enthält. Szenisch wird hier neben der auch im folgenden Werk von Schuiten und Peeters präsenten Ästhetik zwischen Art Nouveau und Art Déco auch auf die weiten Landschaften eines Moebius verwiesen, während die gesellschaftlich-politischen Themen der Geschichten an die Utopien und Dystopien des Künstlerduos Enki Bilal und Pierre Christin aus jener Zeit erinnern, zumal neben fantastischen Elementen auch die reale Welt auftaucht – z.B. der Raubbau im tropischen Regenwald. Die Ausgestaltung der retrofuturistischen Fantasiewelten und die Doppelbödigkeit der Geschichten ist aber schon hier einmalig. Als Ergänzung enthält der Band Skizzen und Studien zu den Geschichten.

Christian Meyer-Pröpstl

Schuiten-Renard: «Metamorphosen».
Schreiber & Leser, 176 S.,
Hardcover, farbig & s/w,
CHF 45.- / EUR 34,80

Mira Jacob: «Good Talk. Erinnerungen in Gesprächen»

Schwarzweissbraun

Mira Jacobs Buch Good Talk basiert auf dem Konzept, komplexe Sachverhalte um Rassismus, Identität, Hautfarbe in Donald Trumps Amerika so zu erklären, als würde man zu einem Kind sprechen. Die Geschichte beginnt mit einer Reihe von Dialogen zwischen der Autorin und ihrem sechsjährigen Sohn Z, der von Michael Jackson besessen ist. Während er sich zu Beginn über einfache Fragen zu Jacksons Tanzstil und Bekleidung Gedanken macht («Ist der Moonwalk echt so, wie Menschen auf dem Mond gehen?», «Wo hat Michael seinen anderen Handschuh?»), kommt er schnell auf das Thema von Jacksons Hautfarbe zu sprechen. Z selber ist dunkelhäutig, er stammt aus einer Ehe zwischen einer Amerikanerin mit indischen Wurzeln und einem Juden. Jacksons wechselnde Hautfarbe verwirrt den Jungen: Wieso ist Jackson weiss geworden? War er lieber weiss oder braun? Wird Z und seine Mutter eines Tages auch weiss sein? War sein Vater schon immer weiss? Die Fragen sind witzig, verbergen aber eine gewisse Tragik. Wie erklärt man einem Kind, wieso der junge Michael Brown 2014 in Ferguson von der Polizei erschossen wurde? Der kleine Z schliesst daraus, dass Weisse sich vor Dunkelhäutigen fürchten und fragt die Mutter, ob sein Vater sich auch vor ihm fürchte …
Die Gespräche mit dem Sohn erinnern die Autorin an ihre eigene Kindheit, die sie als Kind von Migrant*innen in New Mexiko verbracht hat. Ironischerweise macht Mira Jacob ihre erste rassistische Erfahrung während einer Reise nach Indien, wo die Verwandtschaft sich enttäuscht zeigt ob der Hautfarbe des fünfjährigen Mädchens, die im Gegensatz zur restlichen Familie viel zu dunkel ist. So lernt Jacobs, dass dunkel hässlich bedeutet. Erst Jacobs Lehrerin in der fünften Klasse bringt ihr bei, dass sie Amerikanerin sei, egal, woher ihre Eltern stammen oder was andere denken würden.
Es gibt einige Figuren in Good Talk, die das anders sehen. Vor allem seit 9/11 und seit Trumps Wahl zum US-Präsidenten. Obamas Regierung scheint nur ein verblassender Lichtblick auf dem Weg zur Spaltung des Landes zu sein. Zs scheinbar einfache Weltsicht und seine zahlreichen bohrenden Fragen sind entlarvend. Good Talk ist Jacobs persönliches Tagebuch, zusammengestellt aus Collagen, Zeichnungen und Fotos. Sie findet keine Antworten, zeigt aber anhand von Gesprächen, Situationen und Gegebenheiten eine Komplexität auf, die sich nicht einfach in Schwarz und Weiss trennen lässt.

Giovanni Peduto

Mira Jacob: «Good Talk. Erinnerungen in Gesprächen».
Carlsen, Hamburg 2022, 368 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 39.90 / EUR 26

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Lika Nüssli: «Starkes Ding»

Verdingt, aber nicht vergessen

Schon immer, sagt Lika Nüssli, habe sie gewusst, dass ihr Vater Ernst als Verdingbub auf einem Bauernhof im schweizerischen Toggenburg gearbeitet habe. Darüber erzählt hat er jedoch erst, als die Tochter ernsthaft danach fragte. Und so ist Starkes Ding entstanden. Ernst ist 1939 sechs Jahre alt und lebt mit seinen sechs Geschwistern und seiner Mutter auf einem Bauernhof, auf dem alle anpacken müssen. Zwischen der schweren Arbeit erfreut sich Ernst an Butterbrot und Milchkaffee zum Znüni, am Duft wilder Narzissen im Frühling, und daran, die Hühner zum Fliegen zu bringen. Als sich eines Tages ein Bauer auf der Suche nach einer Hilfskraft bei der Familie meldet, fällt die Wahl auf den kräftigen Ernst. Der Bauer ist ein Trinker, seine Frau hat einen bösen Fuss und benötigt Hilfe beim Haushalten. Der junge Ernst muss schuften: Vor der Schule die Kühe melken, nach der Schule bleibt keine Zeit zum Spielen mit den Kameraden, sonst gibt es Schläge. Ernst ist gut in der Schule, aber wenn Arbeit ansteht, kommt der Unterricht zu kurz. So schwer seine Arbeit ist, so klein fällt der Dank des Ehepaars und die Anzahl der Wurstscheiben auf seinem Teller aus. Ist er mal krank, schimpft man ihn einen faulen Hund. In den über vier Jahren, in denen er als Verdingbub diente, fragte er sich selten nach dem Grund, wieso er von den Eltern wegegeben wurde. Er vermutet, weil er stark war und gut arbeitete. Oder vielleicht, weil er ein Laus­bub war?
Lika Nüssli ist nicht nur Comic-Autorin, sondern auch eine vielseitige Künstlerin. Die Geschichte ihres Vaters erzählt sie mit sehr eigenen expressiven Bildern, die mit fortschreitender Geschichte eher die Emotionen des Protagonisten darstellen als dessen Realität. Körperteile, die im Zentrum stehen, werden vergrössert wiedergegeben, so z.B. die für die Tochter schon immer übermenschlich gross und stark wirkenden Hände des Vaters, oder wenn der kleine Ernst Schläge auf den Hintern kriegt, ist er nur noch ein Arsch mit Beinen. Eindrücklich sind die Doppelseiten, in denen der Verdingbub zur Arbeit geprügelt und von ihr erdrückt wird. Dazwischen haben die idyllischen Landschaftszeichnungen die Einfachheit und Naivität der Senntumsmalerei. Wie schon bei Nüsslis Buch Vergiss dich nicht über ihre demenzkranke Mutter, bewahrt sie auf eindrucksvolle Weise die Erinnerung an ihren Vater und ähnliche Schicksale vor der Vergessenheit.

Giovanni Peduto

Lika Nüssli: «Starkes Ding».
Edition Moderne, Zürich 2022, 232 S.,
Softcover, s/w,
CHF 35.– / EUR 29

Osamu Tezuka: «MW»

Und ewig lockt…

Das Werk Osamu Tezukas, der als Urvater des Manga gilt, wird seit ein paar Jahren sukzessiv auch im deutschsprachigen Raum zugänglich gemacht. In den 70er-Jahren wurde Tezuka, der Schöpfer von Kindercomics wie u.a. Astroboy und Kimba jedoch von einer neuen Generation Zeichner*innen abgehängt, die verstärkt politische und gesellschaftliche Themen behandelten und sich an ein eher erwachsenes Publikum wandten. Der nun vorliegende Manga MW von Tezuka ist unter dem Einfluss dieser sogenannten Gegika-Comics entstanden. Der fast 600-seitige Comic ist ein Meisterwerk des Manga-Pioniers, in dem er virtuos all seine erzählerischen und zeichnerischen Erfahrungen für einen äusserst dicht gewobenen und extrem spannenden Thriller über menschliche Abgründe und Bigotterie einfliessen lässt. Es ist faszinierend, wie Tezuka seiner Erzählung immer wieder eine sogartige Dynamik verleiht, allein durch die Gestaltung der Panels, ganzer Seitenlayouts und durch extreme Perspektivwechsel, um sie dann im nächsten Moment wieder einem normalen Tempo anzupassen. Auch für ihn, den damals über 50-jährigen, muss es einem Befreiungsschlag gleichgekommen sein, als er dank der Gegika-Bewegung nun auch Themen für ein älteres Publikum behandeln konnte. Über die Dauer von zwei Jahren ist MW (ausgesprochen «Mu») als Fortsetzung in dem Manga-Magazin Big Comic erschienen, das sich mit seinen politischen Geschichten an ein jugendliches Publikum wandte. Unter anderem spielt Tezuka in seiner Erzählung auf das Verhältnis Japans und der USA während des Vietnamkrieges an. Die beiden Protagonisten, der Priester Garai und der Bankangestellte Yuki, sind als Jugendliche seit einem Giftgasunfall auf einer Militärbasis verhängnisvoll miteinander verbunden. Tezuka spielt hier auf einen Nervengasunfall an, der 1969 tatsächlich auf einer US-amerikanischen Militärbasis auf Okinawa vorgefallen ist. Garai und Yuki sind wie Tag und Nacht, wie Engel und Teufel, und doch sind beide voneinander angezogen. Yuki ist ein skrupelloser Psychopath, der Menschen hintergeht, verführt, manipuliert und vor Erpressung und sogar vor Mord nicht zurückschreckt. Garai versucht dagegen ein religiöses Leben zu führen und wiederum Yuki zu bekehren, von dem er nicht nur angezogen, sondern dem er hemmungslos sexuell verfallen ist. Die androgyne Figur Yuki, der mit seiner Verkleidung sowohl Frauen als auch Männer verführt, ist der Inbegriff des Bösen, der keinerlei Empathie empfindet, was mit der Vergiftung durch das Nervengift erklärt wird. Wie auch in seinen Kindercomics ist MW von Tezukas humanistischem Weltbild geprägt, doch hier wird es auf eine extrem harte Probe gestellt. Einer der besten Manga Tezukas!

Matthias Schneider

Osamu Tezuka: «MW».
Carlsen Verlag, 584 S.,
Hardcover, s/w,
CHF 41.90 / EUR 28

Worry Lines: «Über Hoffnung, Sorgen und Schokokekse»

Hoffnung, Sorgen, Schokokekse

Das Pseudonym Worry Lines ist mehr als nur ein Name, hinter dem sich der oder die Künstler*in des Buches Über Hoffnung, Sorgen und Schokokekse verbirgt. Auch wer «Feelgod-Comics» nicht mag – manchmal wird das Buch online entsprechend kategorisiert, sollte sich davon nicht abschrecken lassen, denn die Lektüre lohnt sich wirklich. Inhaltlich geht es um Sorgen und Hoffnungen bei kreativer Arbeit, hier um die Realisierung eines Buches. Der oder die von inneren Zweifeln geplagte Zeichner*in, macht dies zum Thema des Buches und thematisiert sich selbst und das Schwanken zwischen Hoffnung und Sorge. In Form von drei unterschiedlich eingefärbten Strichfiguren nehmen wir Teil an der sowohl hoffnungs- als auch sorgenvollen Gedankenwelt. Es ist ein ständiges Hin und Her, die Absurdität des Zweifelns und ebenso von Motivationsfloskeln wird vorgeführt, bleibt dabei aber stets humorvoll und unterhaltsam. Natürlich fühlt man sich als Leser*in regelmässig ertappt, ob in Situationsbeschreibungen oder bei inneren Monologen des Protagonisten, im Buch dargestellt als ein Dialog zwischen ihm und der personifizierten Hoffnung und Sorge. Erfrischend, mit welcher Leichtigkeit Worry Lines die Erzählung in Bildern umsetzt, ohne jede feste Form, Strukturen immer wieder aufbrechend und mit dem Medium Buch spielend, um die Leser*innen am Wechselbad der Gefühle teilnehmen zu lassen. Vor allem gelingt es Worry Lines simple stilisierte Bilder zu finden, um die Komplexität der inneren Kämpfe darzustellen. Und um ehrlich zu sein, das Buch macht tatsächlich ziemlich gute Laune!Matthias Schneider

Worry Lines: «Über Hoffnung, Sorgen und Schokokekse»,
Lappan, 208 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 25.90 / EUR 16

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Kurz und Gut

Christian Meyer-Pröpstl



Charles Burns widmet sich mit Daidalos abermals der Teenage Angst – dieses Mal durchaus mit autobiografischen Elementen: Burns Alter Ego Brian ist Laurie näher gekommen, doch für beide fühlt sich das nur bedingt gut an – während Brian surreale Träume à la David Lynch quälen, fühlt sich Laurie von Brians düsterer, voyeuristischer Seite abgestossen. In satten Farben und klarem Strich führt Burns die kühle, steife und unangenehme Geschichte um die Schöne und den creepy Nerd fort.

Charles Burns: «Daidalos 1 u. 2».
Reprodukt, 64 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 31.90 / EUR 20

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Leonard Cohen – auch so ein Man in Black, den man sich in einer Kleist-Biografie hätte vorstellen können. Auf jeden Fall ist der Singer/Songwriter in seiner konservativen Nüchternheit das Gegenteil von Bowie. Philippe Girard hat sich den Lyriker, Komponisten, Gitarristen, Sänger und Frauenschwarm in seiner Graphic Novel Like a Bird on a Wire vorgenommen. Cohen sieht hier schon mit 13 aus wie ein älterer Herr, denkt, dichtet und jagt über die Bühnen und durch die Betten, wie der Comic kurzweilig, aber auch sehr verkürzt anekdotisch durch die Jahrzehnte hetzt. Die deutsche Übersetzung irritiert mit der Verwendung des Begriffs «CD» für die Vinyl-Platten der 50er-, 60er- und 70er-Jahre.

Philippe Girard: «Leonard Cohen – Like a Bird on a Wire».
Cross Cult, 120 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 38.90 / EUR 25

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Angeblich ist Fake Story von Jean-Denis Pendanx und Laurent Galandon eine Adaption von Douglas Burroughs’ gleichnamigem Buch. Darin schildert der Reporter, wie er nach einem Mehrfachmord – vermeintlich im Zusammenhang mit der Ausstrahlung von Orson Welles’ Massenpanik auslösendem Hörspiel-Klassiker Krieg der Welten – vom Radiosender in eine Kleinstadt geschickt wird, um die Hintergründe zu entschlüsseln. Denn wenn tatsächlich Welles’ Hörspiel Auslöser sein sollte, hat der Sender ein Problem. Der in detailreichen Farbzeichnungen gehaltene Comic erzählt kurzweilig eine verwinkelte Kriminalgeschichte mit viel zeithistorischem, gesellschaftskritischem Hintergrund und trumpft mit allerlei Wendungen auf. Das «fake» im Titel bezieht sich aber sicher nicht nur auf Welles’ Hörspiel, sondern darf auch auf die Autorenschaft Burroughs’ angewendet werden.

Jean-Denis Pendanx & Laurent Galandon: «Fake Story».
Schreiber & Leser, 96 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 29.90 / EUR 19,80

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Stray Toasters von Bill Sienkiewitz erschien 1988 in vier Bänden. Zuvor hatte Sienkiewitz Superhelden-Comics gezeichnet, aber auch – ähnlich wie Dave McKean zu der Zeit – einen ganz eigenen Stil entwickelt. Der ist in Stray Toasters förmlich explodiert – in unzähligen Stilen und Techniken, von der schwarzweissen Bleistiftzeichung über Kreide zu Collagen aller Art hüpft die Story um einen Serienmörder und einen psychisch ebenso ramponierten Kriminalisten hin und her. Als Leser*in verliert man mitunter den Überblick, nicht nur weil sich die Form dominant über die Story schiebt. Aber eine Augenweide ist das allemal. Inzwischen gilt die Geschichte, die nun erstmals auf Deutsch erscheint, längst als Klassiker. Und noch ein Klassiker: Neben Robert Crumb hat Gilbert Shelton mit seinen Freak Brothers den gezeichneten Soundtrack zur Gegenkultur seit den 60er-Jahren geliefert. Gerade erschien der zweite und abschliessende Sammelband mit allem, was Shelton so an farbigen und schwarzweissen Freak-Brothers-Comics bis in die jüngste Zeit geliefert hat. Surreal, subversiv und super bekifft machen die drei Freaks ihre Umgebung unsicher. Kleiner Makel: Inhaltsverzeichnis und chronologische Sortierung würden den Überblick erleichtern.

Bill Sienkiewitz: «Stray Toasters».
Splitter, 224 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 44.90 / EUR 29,80

Gilbert Shelton: «Freak Brothers – Gesamt­ausgabe Bd. 2».
avant-verlag, 312 S.,
Hardcover, farbig & s/w,
CHF 54.90 / EUR 39

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Wann schläft Lewis Trondheim eigentlich? Gerade ist Roter Schnee, nach Ramadan Blues
das zweite Album seiner neuen Serie Karmela Krimm, erschienen, die er mit dem Zeichner Franck Biancarelli realisiert. Wie in Maggy Garrisson muss sich hier eine Frau als Alleingängerin kriminalistisch betätigen. Die stets coole und dreist auftretende Krimm erinnert, auch wegen ihrer arabischen Wurzeln, an Tardis Adèle.
Gerade ist auch der 20. Band Die fröhliche Apokalypse der inzwischen drei Herr-Hase-Reihen erschienen – auf gewohnt hohem Niveau. Ein Ende ist nach dem Relaunch vor ein paar Jahren glücklicherweise nicht in Sicht. Im Gegenteil, auch Mehltau, der dritte Schwarzweiss-Band um Trondheims berühmte Figur Herr Hase, von 1994, ist als Neuaflauge erhältlich. Die aberwitzige Mantel- und Degen-Action zwischen dem Putschisten Mehltau und Hase, dem Revolutionär, wirkt in Zeiten des Kriegs unangenehm aktuell.

Lewis Trondheim & Franck Biancarelli:
«Karmela Krimm: «Ramadan Blues»; «Roter Schnee».
Schreiber & Leser, je 48 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 23.90 / EUR 14,95

Lewis Trondheim: «Die neuen Abenteuer des Herrn Hase: Die fröhliche Apokalypse». Reprodukt, 48 Seiten,
Softcover, farbig,
CHF 19.90 / EUR 13

Lewis Trondheim: «Mehltau».
Reprodukt, 144 S.,
Hardcover, s/w,
CHF 19.90 / EUR 13

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Die Fachzeitschrift Reddition – Zeitschrift für ­Graphische Literatur erscheint seit 1984 zu unterschiedlichsten Comic-Themen oder Comic-Künstler*innen. Die Doppelnummer 74/75 widmet sich mit einem umfangreichen Dossier ganz dem Thema Comic und Musik. Eine spannende Exkursion in die fehlende Tonspur des Mediums, das von vielen Künstler*innen weniger als Mangel denn als Herausforderung verstanden wird. Die Texte und Interviews beschäftigen sich fundiert mit Robert Crumb, Reinhard Kleist (mit einem Interview zu seinem neuen Bowie-Comic), Serge Clerc, Bill ­Sienkiewicz, den Peanuts, den Beatles, Bowie, Kiss sowie Hip Hop und Jazz im Comic, Musikern, die Comics machen, und nicht zuletzt gezeichneten Plattencovers. Die 100 Seiten sind reichhaltig bebildert.

Volker Hamann (Hg.): «Reddition 74/75: Comic & Musik».
Edition Alfonz, 100 S.,
Softcover, farbig & s/w,
CHF 19.90 / EUR 15

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Biografien

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Amelia Fiske
hat es aus Maine nach Norddeutschland verschlagen, von wo aus sie als Kulturanthropologin zwischen den Disziplinen Medizinanthropologie, Wissenschaftsforschung und Umweltwissenschaften arbeitet. Für ihren PhD an der University of North Carolina at Chapel Hill hat sie mehr als zwei Jahre lang ethnografische Feldforschung zum Thema Ölproduktion im ecuadorianischen Amazonas betrieben.

www.get.med.tum.de/dr-amelia-fiske

Jonas Fischer
interessierte sich schon immer für Comic und Zeichnung, was ihn erst an die Muthesius Kunsthochschule in Kiel und später zur Zusammenarbeit mit Wissenschaft­ler*innen und Gestalter*innen in die Republik Moldau und nach Ecuador geführt hat. Die Graphic Novel Tóxico, die wir hier auszugsweise abdrucken, ist Teil seiner Masterthesis bei Prof. Markus Huber, dessen Comics auch schon in Strapazin (u. a. Nr. 78, 58, 45) publiziert worden sind.
www.jonas-fischer.design
@jns_fschr

Celine Künzle
*1996 in Thun, schloss 2020 mit der gezeichneten Reportage Lockdown (publiziert in Strapazin Nr. 139) den Bachelor in visueller Kommunikation an der Hochschule der Künste Bern ab. Seither ist sie als Illustratorin, Gerichtszeichnerin und Designerin tätig und macht zurzeit den Master in Knowledge Visualization an der Zürcher Hochschule der Künste.
www.celinekuenzle.ch
@celinekunzle

Cornelia Hesse-Honegger
*1944 in ­Zürich, ist naturwissenschaftliche Zeichnerin. Ihre Insektenbilder sind international bekannt und werden in Museen und Galerien ausgestellt. Sie bewegt sich im Grenzbereich zwischen Kunst und Wissenschaft und zeigt die Insekten als Zeugnisse einer schönen und zugleich bedrohten Lebenswelt. Ihr Buch Die Macht der schwachen Strahlung – was uns die Atomindustrie verschweigt (Edition Zeitpunkt, 2016), ist leider nur noch antiquarisch erhältlich.
www.wissenskunst.ch

Ishadyn / Sindhya Bergamin
*1974, lebt und arbeitet als Illustratorin in Zürich. Sie zeichnet während der Eishockeysaison unter anderem Spieler des ZSC und befasst sich ansonsten mit Comics. Ihre Esel-Comics findet man auf Instagram.
www.ishadyn.ch
@ishadyn_comic