Arabische Comics

März 15, 2024 | | No Comments

CHF 15.00

Salma Al Gamal
Joseph Kai
Salim Zerrouki
Othman Selmi
Zineb Benjelloun
Lena Merhej
Ibtihaj Al Harthi
Zainab Fasiki
Lutfi Zayed
Nora Zeid
Kamal Zakour / Abir Gasmi


Beschreibung

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EDITORIAL


Vor anderthalb Jahren war ein ägyptischer Comic-Zeichner im STRAPAZIN-Atelier zu Gast, durch ihn bekam ich einen guten Einblick in die überraschend vielfältige Welt arabischer Comics, von der ich vorher fast nur diejenigen Protagonist*innen kannte, die bereits in europäischen Verlagen publiziert hatten. Ich wollte mehr über die arabische Comic-Welt erfahren und konnte dank der Unterstützung der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia im November 2022 zusammen mit dem Zeichner Luigi Olivadoti das CairoComix-Festival in Kairo und anschliessend die gerade entstehende Comic-Szene in Alexandria besuchen, die unterdessen bereits ein Festival auf die Beine gestellt hat: ­comixandria. Begeistert von dieser Aufbruchstimmung freundete ich mich mit der Idee an, eine STRAPAZIN-Ausgabe zum Thema Comics im arabischen Raum zusammenzustellen.

Dann, am 7. Oktober letzten Jahres, veränderte sich (nicht nur) die arabische Welt schlagartig. Der Angriff der Hamas auf friedlich tanzende Jugendliche, das Abschlachten, die Vergewaltigungen, die Geiselnahmen – und kurz darauf die brutale Reaktion Israels, der offene Krieg gegen die Bevölkerung von Gaza und Rafah, all das erschütterte jeden denkenden und fühlenden Menschen. Kein Wunder, hatten drei der Comics, die mich erreichten, diese Vorfälle, diesen Krieg zum Thema. Nicht als ausgewogenen Geschichten, die beide Seiten, die der Palästinenser*innen als auch jene der israelischen Bevölkerung, berücksichtigen, sondern als Comics von betroffenen, wütenden Zeichner*innen – einer sehr emotional und direkt, ein anderer akribisch und gewollt einseitig die blutige Geschichte Palästinas aufzeichnend. Leider sind diese beiden Comics im vorliegenden Heft nicht zu sehen, da sie einem Teil meiner Mitherausgeber*innen zu extrem erschienen, was ich sehr bedaure. Hingegen freut es mich, dass der dritte Comic, der den Krieg als Thema hat, derjenige von Lena Merhej, es trotz aller Anfeindungen ins Heft geschafft hat. Auch Lenas Geschichte ist nicht ausgewogen und sie wagt es, wenn auch über den Umweg des Zitats, den Krieg und seine Profiteur*innen sehr direkt zu benennen.

Es freut mich ausserordentlich, dass sich elf Zeichner*innen aus dem arabischen Raum sowie eine Schreiberin, Abir Gasmi, bereit erklärt haben, eines ihrer Werke einzuschicken, die meisten sind sogar speziell für STRAPAZIN gemacht worden. Dieses Heft kann und will keinen objektiven Überblick über das Comic-Schaffen in den arabischsprachigen Ländern zeigen, dafür reicht der Platz bei weitem nicht aus. Denn obwohl der Arabische Frühling nur kurz aufblühte, entstand in den letzten Jahren eine Vielzahl an Comics, vor allem auch solche von Frauen, was in einigen Ländern bis vor kurzem noch undenkbar gewesen wäre. Und es werden durchaus heikle Themen behandelt: Emigration, Sexualität, geschlechtliche Identität, soziale Unruhen, Widerstand gegen die Staatsmacht – den Freiraum, solche Themen zu behandeln, scheinen sich die Comic-Zeichner*innen zumindest in gewissen Ländern erkämpft zu haben; in anderen aber droht noch immer Zensur und strafrechtliche Verfolgung, weshalb nicht wenige Zeich­­ner*innen in der Diaspora leben. Manchmal erfolgt die Emigration aber auch, weil es im eigenen Land sowohl an staatlicher Unterstützung als auch an Verlagen mangelt, die sich den Comics annehmen und sie gar ­fördern würden. Ohne die Unterstützung kultureller Institutionen aus dem Ausland würden einige Festivals nicht existieren.

Ich hoffe, mit dem Abdruck dieser elf Geschichten Lust auf mehr gemacht zu haben. Besucht die im Heft erwähnten Comic-Festivals, lest die Alben aus arabischsprachigen Ländern – es gibt eine grosse Menge von übersetzten Comics! Und neben gezeichneter Geschichten gibt es auch geschriebene, wie Wolfgang Bortlik auf den Seiten 67/68 im Interview mit Anne Burri und Tom Forrer vom Lenos Verlag beweist. Ich wünsche viel Vergnügen bei der Lektüre.

Christoph Schuler

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DAS GESCHRIEBENE WORT

Wolfgang Bortlik

Der Lenos Verlag in Basel ist neben dem Zürcher Unionsverlag einer der wichtigen deutschsprachigen Verlage für arabische Literatur. Ich habe mich mit Anne Burri (Lektorin) und Tom Forrer (Verleger) über eine mir fremde Landschaft der Worte unterhalten.
Der Titel ist ein arabisches Sprichwort, das auf den Papiertragetaschen des Lenos Verlags abgedruckt ist und ganz wunderbar als Überschrift zu diesem Artikel passt.

Anne Burri und Tom Forrer: «1978 haben wir das erste Buch zu einem arabischen Thema herausgebracht: ein Sachbuch zur Sozialgeschichte Palästinas, von Abdulkader Irabi. Der erste belletristische Autor war dann der Palästinenser Ghassan Kanafani, 1983 erschien ein Band mit Erzählungen unter dem Titel Das Land der traurigen Orangen. In einer Rezension in der Basler Zeitung hiess es damals: „Die Erzählungen fassen in knappen Worten, eindrücklichen Passagen, in einer stimmungsreichen ­Sprache Situationen aus dem Leben der Pa­lästinenser zusammen: von Kindern, alten Kämpfern, von Terrorakten, von der unauslöschbaren Hoffnung auf ein besseres Leben, von einem Leben trotz allem.“
Wir sind nicht nur auf arabische Literatur spezialisiert, es erscheinen lediglich ein bis zwei Titel pro Jahr: Belletristik, Erzählungen, Romane, aber keine Lyrik. Die Arbeit an den Übersetzungen ist anspruchsvoll, zeitintensiv und teuer. Es gibt auch wenige versierte Übersetzer*innen im deutschen Sprachraum. Der Kreis des interessierten Lesepublikums ist allerdings in den letzten Jahren immer grösser geworden, unter anderem leider auch wegen der globalen politischen Krisen.
Immer mehr arabische Autor*innen leben im Exil und schreiben auch in der Landessprache ihrer neuen Heimat. Bei uns sind bisher rund hundert Werke von etwa fünfzig zeitgenössischen Autor*innen erschienen.»

Ein wichtiges Ereignis war die Verleihung des Literaturnobelpreises 1988 an den ägyptischen Autor Nagib Machfus (1911–2006). Dadurch wurde die arabischsprachige Literatur weltweit wahrgenommen. Es ist übrigens bis heute der einzige Literaturnobelpreis für eine Autor*in aus dem arabischen Sprachraum geblieben. Den Islamisten gefiel diese Ehrung überhaupt nicht, denn Machfus wandte sich stets gegen den fundamentalistischen Islam und trat für eine Trennung von Staat und Religion ein. Ein in den USA inhaftierter radikaler Geistlicher verhängte eine Fatwa, einen Tötungsaufruf, über Machfus. Eine Attacke von Fundamentalisten im Jahr 1994 überlebte der Schriftsteller schwer verletzt. Machfus gilt als der «Vater des ägyptischen Romans», seine Hauptwerke sind die Kairoer Trilogie und der Roman Die Midaqgasse.
Ein weiterer grosser Name der arabischsprachigen Literatur ist der bereits erwähnte Palästinenser Ghassan Kanafani, eine wichtige Figur des palästinensischen Widerstands, er war Sprecher der PFLP, der Volksfront zur Befreiung Palästinas. 1936 ge­boren, wurde er 1972 im Exil in Beirut vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad umgebracht. Er war ein Vertreter der engagierten Literatur, die eine spezifische gesellschaftspolitische Rolle erfüllen sollte. Sein gesamtes literarisches Werk liegt auf Deutsch übersetzt vor.
Die Ägypterin Nawal El Saadawi (1931–2021) wurde die „Löwin vom Nil“ genannt. Sie arbeitete zuerst als Ärztin auf dem Land. Als sie 1971 eine Studie mit dem Titel Frauen und Sexualität veröffentlichte, erhielt sie ein Publikationsverbot in Ägypten und landete im berüchtigten Frauengefängnis Qanatir. Diese Erfahrung beschreibt sie in ihrem Roman Ich spucke auf Euch: Bericht einer Frau am Punkt Null. 1992 ging sie nach Todesdrohungen von Fundamentalisten in die USA. Nach ihrer Rückkehr wurde sie weiterhin wegen ihres Einsatzes für die Rechte der Frau verfolgt, trotzdem kandidierte sie 2004 bei den Präsidentschaftswahlen in Ägypten, zog sich aber wegen unfairer Wahlkampfbedingungen wieder zurück.
Assia Djebar (1936–2015) wurde als erste Algerierin an der Ecole Normale Superieure in Paris zugelassen. Zur Zeit des Algerienkriegs erschien 1957 ihr erster Roman Der Durst. Sie lehrte Geschichte in Algier und ging später in die USA. «Ich schreibe auf Französisch, in der Sprache des ehemaligen Kolonisators, die zur Sprache meines Denkens geworden ist, während meine Sprache des Liebens und des Leidens das Arabische, meine Muttersprache ist.»
Aus Marokko stammt Fatima Mernissi (1940–2015), die als Soziologin und Autorin die Rolle der Frau im Islam, auch zu Zeiten des Propheten Mohammed untersuchte. Sie lehrte zwar an der Universität von Rabat, aber sie schrieb französisch und englisch und veröffentlichte nicht in Marokko. Sie sei die einflussreichste Intellektuelle der arabischen Welt, meinte jedenfalls Nagib Machfus.

Anne Burri und Tom Forrer: «Die grossen Themen der arabischsprachigen Romane sind neben der eigenen Geschichte vor allem die allgegenwärtige Korruption, die Vetternwirtschaft und die ausufernde Bürokratie, die Bespitzelung durch den Staat, die patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft, der religiöse Fundamentalismus und die Unterdrückung der Frauen. Aber auch das Bewusstsein, eine Minderheit zu sein, die Ausgrenzung der Armen, der Gegensatz zwischen ungebildeten Bauern und Stadtbewohnern, der einmal positiv, einmal negativ beschrieben wird, sind wichtige Themen.
Nach dem Ende des Arabischen Frühlings und der einsetzenden Zunahme des muslimischen Einflusses sind viele Autor*innen ins Exil gegangen. Mittlerweile herrscht in den meisten arabischen Staaten eine strenge Zensur. Die Themen Religion, Politik und Sex dürfen in den Romanen nicht mehr vorkommen. Um diese Verbote und Tabus zu umgehen, verstecken viele Autor*innen ihre Kritik an den Verhältnissen in Kriminalromanen oder auch in historisierenden Geschichten oder sogar in der Science Fiction.
Insofern ist die arabischsprachige Literatur ein Musterbeispiel subversiver Kommentare zur Gegenwart. Das gefällt uns, denn wir machen gerne Bücher, welche die Erwartungen des Publikums unterwandern.»

Vier Buch-Tipps von Anne Burri und Tom Forrer:
 
Ibtisam Azem:
Das Buch vom Verschwinden.
Ariel und Alaa leben im selben Wohnhaus in Tel Aviv und sind Freunde. Beide sind sie Israelis, Ariel jüdischer und Alaa palästinensischer Herkunft. Eines Morgens sind im ganzen Land die Palästinenser*in­nen verschwunden. Es fahren keine Busse mehr, im Spital fehlen Ärzte, der beste Hummus-Laden ist geschlossen. Die israelischen Reaktionen darauf sind unterschiedlich, sie reichen von «Problem gelöst!» bis hin zu Schuldgefühlen. Ariel macht sich auf die Suche nach Alaa und findet in seiner Wohnung ein Notizbuch mit der Lebensgeschichte von Alaas Grossmutter.

Lenos Verlag, 271 S., Softcover,
CHF 27.90 / EUR 18

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Ahmed Mourad:
Diamantenstaub.
Taha lebt als Apotheker in Kairo. Als sein Vater ermordet wird, stellt die Polizei die Ermittlungen bald ein, also sucht Taha den Täter selbst. Dabei lernt er die finstersten Seiten Kairos kennen, aber er begegnet auch Menschen, die an eine Veränderung der durch Korruption und Willkür zerstörten Gesellschaft glauben. Und Taha kommt hinter das Geheimnis des Diamantenstaubs, des «Königs der Gifte». Der Krimi beschreibt auch, warum es zum sogenannten Ägyptischen Frühling kommen musste.

Thriller aus Ägypten, Lenos Verlag, 407 S., Softcover,
CHF 19.90 / EUR 14,90

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Meryem Alaoui:
Pferdemund tut Wahrheit kund.
Dschmiaa ist Sexarbeiterin in der Altstadt von Casablanca. Sie will alles, nur kein Opfer sein. Selbstbewusst, hand- und trinkfest, mit losem Mundwerk und derbem Humor meistert sie ihren Alltag. Plötzlich aber nimmt ihr Leben eine unerwartete Wendung, als ihr eine junge Regisseurin die Hauptrolle in ihrem ersten Film anbietet. Dschmiaa stellt sich der Herausforderung, denn noch nie hat sie auf einmal so viel Geld verdient. Und siehe da, der Film hat Erfolg. Ein feministisches Märchen.

Lenos Verlag, 312 S., Hardcover,
CHF 36.90 / EUR 26

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Mahi Binebine:
Die Engel von Sidi Moumen.
Jaschin wächst mit acht Brüdern in einer Barackensiedlung bei Casablanca auf. Er und seine Freunde schlagen sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, stehlen manchmal oder putzen Touristen die Schuhe. Nur der Fussball ist ein Lichtblick in ihrem Leben – Jaschin wurde nach dem weltbesten Torwart des 20. Jahrhunderts benannt, weil auch er stets der Goalie ist. Doch dann fangen er und die Bande an, den Predigten eines bärtigen Fundamentalisten zu lauschen, der ihnen von einem Paradies erzählt, dessen Pforten ganz nah seien …

Lenos Verlag, 183 S., Softcover,
CHF 24.90 / EUR 16,95

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PFLICHT LEKTüRE

Eleanor Davis: «You & a Bike & a Road»

Mit dem ­Fahrrad ins Glück

«WHOOOOOOOO …» heult der Wind über die Seite, am unteren Rand duckt sich eine stark schwitzende Gestalt tief über den Lenker ihres mit Taschen bepackten Fahrrads. Gegenwind ist nur eine von vielen Erfahrungen, die die US-amerikanische Comic-Zeichnerin Eleanor Davis auf ihrer Solo-Radreise macht und in ihrem Skizzenbuch festhält. Ihr Roadtrip-Comic You & a Bike & a Road ist bereits 2017 bei Koyama Press erschienen. Davis erzählt darin von ihrem Vorhaben, mit dem Fahrrad von ihren Eltern in Tucson/Arizona zu sich nach Hause in Athens/Georgia zu fahren; dazwischen liegen fünf Bundesstaaten und rund 3000 Kilometer. Ihre Motivation: Kraftprobe, Sinnsuche und die Liebe zum Fahrrad, diesem effizientesten aller Fortbewegungsmittel. Denn bei allen Zweifeln und Ängsten: «I feel good when I’m bicycling.»
Davis’ Zeichnungen wirken auf den ersten Blick ungelenk, flüchtig und sind ohne Panels auf den Seiten angeordnet. Das passt zum Genre «Skizzen von unterwegs» und erzeugt einen Flow, der gut zum relativ langsamen, aber steten Vorwärtskommen der Radreisenden passt: Mal geht’s gegen den Wind, mal mit Rückenwind flott geradeaus. Davis’ Seiten zeigen eindrücklich, wie unmittelbar bei dieser Art der Fortbewegung die Umwelt wahrgenommen wird, die Blumen und Gräser am Wegrand, die Geräusche der Nacht, das Heulen des Windes, das Gedränge von Autos in den Städten, wo sich die Radlerin durch den Verkehr kämpft, oder die Patrouillen der Grenzkontrollen zwischen den USA und Mexiko.
Eleanor Davis, von ihren Eltern mit der Liebe zum Fahrrad angesteckt, vermittelt den Genuss des Unterwegsseins auf zwei Rädern und mit eigener Muskelkraft – besonders farbenfroh zeigt sich das auf dem Umschlag, auf dem Blumen in satten Farben blühen und sich die Strasse wie ein helles Band zwischen Wiese, Feldern und Bäumen schlängelt. Sie schildert Beobachtungen und flüchtige Begegnungen, hält aber auch schonungslos die seelischen und körperlichen Herausforderungen einer solchen Tour fest, von Selbstzweifeln bis zu kaputten Knien. Doch selbst als ihr Körper nach etwa zwei Monaten on the road kapituliert und sie sich von ihrem Mann abholen lässt – ihre Leistung beeindruckt, und ihr graphic travelogue ist eine wunderbare Lektüre.

Barbara Buchholz

Eleanor Davis:
«You & a Bike & a Road»,
auf Englisch, Koyama Press (Toronto),
172 S., Softcover, s/w,
C $ 12

Jul Gordon, Magdalena Kaszuba, Birgit Weyhe & Brigitte Helbling (Hrsg.): «Tandem. In der Lehre bei Anke Feuchtenberger»

«Lassen Sie ­diesen Quatsch mit dem ­Comic»

Sie gehörte zur «deutschsprachigen Comic-Avantgarde der 90er-Jahre», so der Untertitel der 1999/2000 in Düsseldorf gezeigten Ausstellung Mutanten: Anke Feuchtenberger war dort neben Anna Sommer, Martin tom Dieck, Atak oder Thomas Ott vertreten. Feuchtenberger hatte zu dem Zeitpunkt seit wenigen Jahren eine Professur für Zeichnen und Medienillustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg inne. Sehr viel später erinnert sie sich im Gespräch mit Brigitte Helbling und Birgit Weyhe an ihre «erste Aktion in Richtung Comic» an der HAW: Sie habe Studierende zu einer Comic-AG eingeladen – und prompt sei sie vom Fachbereichssprecher aufgefordert worden, sie möge sich auf ihr Lehrgebiet konzentrieren: «Lassen Sie diesen Quatsch mit dem Comic.»
Aber Anke Feuchtenberger hat den Quatsch nicht gelassen und bildet seit etwas mehr als 25 Jahren Comic-Schaffende aus. Zum Jubiläum ist der Band Tandem. In der Lehre bei Anke Feuchtenberger erschienen, in dem 2007 von Feuchtenberger und Stefano Ricci gegründeten Mami Verlag, der seit 2020 von Magdalena Kaszuba und Julia Hosse geführt wird. 48 Künstler*innen – vom ersten Jahrgang mit Abschluss 1998 bis 2023 – haben jeweils zwei Zeichnungen beigesteuert, je eine aus dem Studium und eine aktuelle. Dazu haben sie notiert, was sie aus der Lehre bei Anke mitgenommen haben. Am Ende steht ein Gespräch mit Feuchtenberger, in dem sie unter anderem die oben erwähnte Anekdote erzählt.
Barbara Yelin (Abschluss 2004) ist vertreten, mit einer Zeichnung aus dem Märchen Le Visiteur, in weichen Bleistiftstrichen und mit Hilfe des Radiergummis gesetzten Lichtern sowie mit einer Seite aus der Dokumentation Aber ich lebe über die Erinnerungen der Holocaust-Überlebenden Emmie Arbel, wo der Strich weniger rau, der expressive Stil aber geblieben ist. Line Hoven (Abschluss 2006) hatte schon 2003 den Schabkarton entdeckt, und Nacha Vollenweider (Abschluss 2016) bleibt ihrem schwarzweissen Tuschenstrich treu, der sich für ihre Reportagen bestens eignet.
Wer in Tandem blättert, trifft auf etliche Künstler*innen aus dem Spring-Kollektiv und auf viele Namen, die uns aus den Verlagsprogrammen von Avant, Reprodukt oder Edition Moderne vertraut sind. Eine Werkschau, die Anke Feuchtenbergers Bedeutung für die deutschsprachige Comic-Kunst deutlich macht. Und anders als bei den männlich dominierten «Mutanten» ist diese Schar erfreulich divers.

Barbara Buchholz

Jul Gordon, Magdalena Kaszuba, Birgit Weyhe & Brigitte Helbling (Hrsg.):
«Tandem. In der Lehre bei Anke Feuchtenberger»,
Mami Verlag, 240 S.,
Softcover, farbig,
CHF ca. 30.– / EUR 25


Nicolas Mahler: «Komplett Kafka»

Kafkaesk I

Vor einigen Jahren ist Franz Kafka als Zeichner neu entdeckt worden, ein Band mit Skizzen und Kritzeleien des Autors wurde präsentiert und in der Tat schienen die Zeichnungen mehr zu sein als nur Nebenbeiprodukte, sondern vielmehr Ergänzungen zum literarischen Werk. Im Buch Franz Kafka. Die Zeichnungen wurde auch ein Brief zitiert, den er 1913 an seine damalige Verlobte Felice Bauer geschrieben hatte. «Wie gefällt dir mein Zeichnen? Du, ich war mal ein ganz grosser Zeichner», schreibt er dort. «Ich werde Dir nächstens ein paar Zeichnungen schicken, damit Du etwas zum Lachen hast.» Dieses Zitat hat Nicolas Mahler in Komplett Kafka, seiner Hommage zum 100. Todestag, ebenfalls aufgegriffen. Allerdings fällt schon beim ersten Durchblättern auf, dass Mahler, ganz entgegen seiner sonstigen Beschäftigungen mit Literaturgeschichte, den Text in den Mittelpunkt rückt und weniger die Zeichnungen. Von Mahler kompilierte Textauszüge dominieren die Seiten, und wie bei Kafka selbst sind die Zeichnungen eher Beiwerk. Aber – wie eben auch bei Kafka – essenzielles Beiwerk, das den Text in ein anderes Licht rückt.
Der Titel Komplett Kafka verspricht nicht zu viel, hat man nach der Lektüre doch alle zentralen Facetten des Autors wie auch die zentralen Texte zumindest gestreift. Mahler hat vor allem den versteckten Witz des häufig als düster und unzugänglich bezeichneten Kafka ins Zentrum gerückt: Zwischen Verzweiflung und Selbstironie pendelnde Briefe und Tagebücher werden angeführt, jüdischer Witz und absurde Geschäftsideen (Reiseführer) abgebildet. Trotz der Verzweiflung und Absurdität, die vielen Gedanken und Texten Kafkas anhaftet, wird er nicht vorgeführt, sondern von Mahler liebevoll an die Hand genommen und durch sein Leben begleitet. Auch traut sich Mahler, in die Texte einzugreifen, sie zu kommentieren und weiterzuführen. Grossartig etwa seine Idee, den Vater Hermann Kafka als Schöpfung des Prager Rabbi Löw einzuführen, welcher der Legende nach den Golem erschaffen haben soll – und eben auch Franz, als ein aus einem traurigen vertrockneten Klümpchen Lehm aus Mitleid erschaffenes Wesen: «Ach Rabbi, hättest du doch das traurige Klümpchen nicht belebt. Wie viel Ängste, Schmerz und Zaudereien wären dem kleinen Wesen erspart geblieben». Dass die Zeichnungen von Mahler an jene des Autors erinnern, ist zwar Zufall, lässt die beiden aber noch stärker als Geistesverwandte in Humor und Reduktion erscheinen. Komplett Kafka sei Kafka-Kennern ebenso empfohlen wie Neulingen; es ist das vermutlich beste Buch über den Autoren, dessen Todestag sich im Juni zum hundertsten Mal jährt.

Jonas Engelmann

Nicolas Mahler:
«Komplett Kafka».
Suhrkamp, 127 S.,
Hardcover, s/w,
CHF 26.90 / EUR 18

Danijel Žeželj: «Wie ein Hund».

Kafkaesk II

«’Wie ein Hund!’, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.» So lautet der letzte Satz des Protagonisten Josef K. in Franz Kafkas unvollendetem und erst postum veröffentlichten Roman Der Prozess. Er stirbt durch einen Messerstich ins Herz, nach einem langen Prozess, in dem er nie erfährt, wessen er beschuldigt wird. «Jemand musste Joseph K. verleumdet haben», so der berühmte erste Satz des Romans. Unzählige Interpretationen dieses Satzes, des Romans und des restlichen Werkes von Kafka sind in den letzten hundert Jahren erschienen, seine Texte haben Spuren in Film, Literatur und Kunst hinterlassen, wurden zitiert, adaptiert und illustriert. Zum hundertsten Todestag erscheinen nun zahlreiche Comics, die sich in unterschiedlicher Weise dem 1924 verstorbenen Autor aus Prag annähern. Darunter Wie ein Hund des kroatischen Künstlers und Comic-Zeichners Danijel Žeželj, worin er unterschiedliche Texte Kafkas collagiert und zu einem Comic verwoben hat. Die 1922 erschienene Kurzgeschichte Ein Hungerkünstler bildet dabei den roten Faden, in der das Leben, Leiden und Scheitern als Künstler heraufbeschworen wird. Daneben zitiert Žeželj Tagebücher Kafkas, Kurztexte sowie den Roman Der Prozess. Die an Linol- oder Holzschnitte erinnernden Zeichnungen in starken Schwarzweisskontrasten nähern sich den Texten eher assoziativ als narrativ an, vielmehr erwecken die Bilder und Textfragmente den Anschein, als solle die Verwirrung und Überforderung des Protagonisten Josef K. im Prozess an die Leser weitergegeben werden. Gepaart wird dieser Ansatz mit Zitaten aus gemeinhin als «kafkaesk» empfundenen Filmen wie Kubricks A Clockwork Orange oder Inland Empire von David Lynch. Und genau hier liegt der Kern des Problems von Wie ein Hund: Während die Kämpfe von Kafkas Protagonisten sich meist auf das Innere fokussieren, auf die Abgründe und Zweifel im Selbst, die auf eine Gesellschaft mit sehr konkreten Erwartungen an das Individuum treffen, so wird bei Žeželj die Perspektive umgekehrt: Das Aussen ist gewalttätig, der Realität enthoben und voller Abgründe, das Individuum dagegen scheint ein Ruhepunkt im Chaos zu sein. Dass die Gesellschaft in Kafkas Werk als ebenfalls beschädigt gezeichnet wird, ist durchaus richtig, doch interessiert er sich vor allem für das Verhältnis des Einzelnen zur Umwelt und das Scheitern des Einzelnen an dieser Umwelt. Žeželj streicht in seiner Kafka-Interpretation alle Zwischentöne, die zwischen innen und aussen vermitteln und Kafkas Werk in einer gesellschaftlichen Realität verorten. Wie ein Hund kennt keine (Selbst-)Ironie, keine jüdische Kultur, kein Verzweifeln an der Bürokratie und auch keine Slapstick-Elemente, die sich in Kafkas Texten immer wieder finden. Es bleibt eine schwarzweisse Dystopie, die zwar interessant anzuschauen ist, aber wenig Neues über den Autoren zu erzählen weiss.
Jonas Engelmann

Danijel Žeželj:
«Wie ein Hund».
Avant-Verlag, 104 S.,
Softcover, s/w, ca.
CHF 36.- / EUR 22


Alberto Breccia/Hector Oesterheld: «Mort Cinder»

Ein unsterbliche­r Verbrecher

Staunend hat die Welt zur Kenntnis genommen, welch einen Präsidenten sich die Argentinier*innen gegeben haben – und mit ihm auch eine ungewisse, durchaus beängstigende, bestimmt unruhige Zukunft. Da kommt die Wiederveröffentlichung des düsteren Klassikers Mort Cinder von Alberto Breccia (1919-1993) und Héctor Oesterheld (1919-1978?) gerade richtig. «Oesterheld und ich», erklärte Breccia vor etwas über dreissig Jahren in einem STRAPAZIN-Interview, «wollten das Elend der Unterdrückten und die Arroganz der Mächtigen zeigen. In Mort Cinder geht es in erster Linie um Solidarität und Gerechtigkeit.»
Mort Cinder entstand 1962, in einer Zeit also, in der die Idee von (politischen) Comics für Erwachsene in Europa und den USA noch gar nicht geboren war. Für den Schriftsteller, Journalisten und Comic-Szenaristen Oesterheld und den Zeichner Breccia bedeutete diese Serie sowohl inhaltlich als auch zeichnerisch die Emanzipation von den klassischen Genre-Geschichten, die sie zuvor geschaffen hatten. Die Geschichten um Mort Cinder werden von Oesterhelds erzählerisch auf höchstem Niveau stehenden Szenario vorangetrieben, und Breccias schroffer, experimenteller Schwarzweiss-Strich, der mehr andeutet als ausmalt und vieles im Dunkeln lässt, taucht sie in pessimistische Stimmungen.
Mort Cinder ist ein unsterblicher Verbrecher, der nach jeder Hinrichtung in einer anderen Epoche wiederaufersteht. Sein treuer Gefährte und Biograph ist der greise Londoner Archivar Ezra Winston, dem Breccia seine eigenen Züge verlieh. So taucht Mort Cinder in Schlüsselmomenten der Geschichte auf, beim Turmbau zu Babel etwa, auf einem Sklavenschiff, in einer katholischen Kathedrale, in einem Schützengraben des Ersten Weltkriegs oder in der Schlacht bei den Thermopylen. Unerschrocken, aber zumeist erfolglos ergreift Mort Cinder Partei für die Unterdrückten.
In einem anderen Handlungsstrang bekämpft Mort Cinder den grössenwahnsinnigen Professor Angus, der die Menschheit mittels einer diabolischen Operation ihres Bewusstseins berauben und zu willenlosen Instrumenten seiner Machtgelüste machen will.
Der politische Subtext kommt nie als Diskurs zum Ausdruck, sondern verschlüsselt und gut integriert in die Stories. Gewisse Erzählungen gehen gut aus, doch werden wir nie darüber hinweggetäuscht, dass die Geschichte in den meisten Fällen einen anderen, schlechteren Lauf nahm.
Auch in Argentinien: Leben und Karrieren von Alberto Breccia und Héctor Oesterheld waren sehr bewegt – vor allem als 1976 die Generäle die Macht übernahmen. Héctor Oesterheld hat die Junta nicht überlebt. 1977 wurde er von der Armee verhaftet und verschwand spurlos in deren Kerkern.
Mort Cinder ist ein Meisterwerk und Klassiker zugleich; auf den ersten Blick mögen Strich und Erzählweise etwas altmodisch wirken, doch dieser Eindruck täuscht, Mort Cinder ist zeitlos. Unsterblich halt, wie der Protagonist.

Christian Gasser

Alberto Breccia/Hector Oesterheld:
«Mort Cinder».
Aus dem Spanischen von Myriam Alfano,
Avant-Verlag, 260 S.,
Hardcover, s/w,
ca. CHF 55.– / EUR 40


Nando von Arb: «Fürchten lernen»

Geisterbahn auf Papier

In seinem vielfach preisgekrönten Debüt Drei Väter verarbeitete der junge Schweizer Comic-Autor Nando von Arb sein Aufwachsen in einer Patchworkfamilie der besonders komplexen Art. In Fürchten lernen setzt er seine Auseinandersetzung mit sich selber und seinem Leben konsequent fort; diesmal beschäftigt er sich mit seinen Ängsten, seinen Angststörungen und Panik­attacken, die sein Leben seit seiner Kindheit prägen. Die Angst vor der Dunkelheit, die Angst vor Albträumen, die Angst vor Krankheit und Tod, aber auch die Angst vor den anderen, vor dem sozialen Druck, vor dem Scheitern.
In den 15 Kapiteln und über 400 Seiten von Fürchten lernen arbeitet sich Nando von Arb durch sein inneres Labyrinth unterschiedlichster Angstzustände, auf eine persönliche, ehrliche und auch berührende Weise, und schildert seine Bemühungen, diese Ängste in den Griff zu bekommen und zu zähmen.
Fürchten lernen ist auch zeichnerisch spektakulär. Seit Drei Väter hat Nando von Arb an Kühnheit noch zugelegt und schert sich noch weniger um klassisches Comic-Erzählen: Das herkömmliche Seitenraster ist aufgelöst, die meisten Seiten bestehen aus einer einzigen Zeichnung; dann wiederum fliessen zwei oder drei Panels beziehungsweise Situationen zusammen in ein einziges grosses, meisterhaft gestaltetes Bild. Die Zeichnungen sind dicht, voll, prall und geradezu schwindelerregend bunt, nie geht es darum, die Realität abzubilden. Nando von Arb macht seine Ängste sicht- und spürbar, seine Zeichnungen sind stilisiert, übertrieben, expressiv, bisweilen hart an der Abstraktion. Er kehrt sein Innneres nach aussen und schafft eindrückliche Bilder für seine Ängste. Je nach Thema ändert er seinen Stil: Die Angst vor dem Tod erzählt er in einer vergleichsweise schlichten schwarzweissen Episode.
So schafft von Arb einen mitreissenden Sog. Fürchten lernen ist ein Buch gewordener Albtraum, eine abanteuerliche Geisterbahnfahrt durch von Arbs Irrgarten der Ängste, vorbei an den erschreckenden, verstörenden Fratzen und Visionen all seiner Ängste.
Und doch hat Fürchten lernen auch, wie die meisten Geisterbahnen, eine fröhliche, unterhaltsame, geradezu vergnügliche Seite – Nando von Arb hat zu viel Humor und Selbstironie und eine zu starke Neigung zu Skurrilität und Situationskomik, um seine Leser*innen quälen zu wollen. Und womöglich ist diese prächtige Graphic Novel auch der Beweis, dass er die eine oder andere dieser Ängste verarbeitet und überwunden hat. Zu wünschen wäre es ihm.

Christian Gasser

Nando von Arb:
«Fürchten lernen».
Edition Moderne, 428 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 42.– / EUR 39

Patrick Oberholzer: «Games. Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan»

Gefährliche Games

Afsaneh, Ziya, Nima, Muhammed und Hamid – fünf Namen, fünf Schicksale. Sie alle sind aus Afghanistan geflohen und leben heute in der Schweiz. Die Motive ihrer Flucht unterscheiden sich, und doch vermitteln ihre Erfahrungen ein klares Bild, was es heisst, aus Afghanistan zu fliehen.
Afsaneh, Ziya, Nima, Muhammed und Hamid sind die Hauptpersonen in Games, dem Dokumentar-Comic des Schweizer Illustrators und Zeichners Patrick Oberholzer. Unter «Games» verstehen Afghanen die Versuche, über eine Grenze zu kommen. Game bedeutet für sie so viel wie «sein Schicksal testen». Ein Game wird gewonnen oder verloren.
Auch Afsaneh, Ziya, Nima, Muhammed und Hamid benötigten viel Durchhaltevermögen, um Rückschläge wegzustecken und nicht aufzugeben. Nur schon aus Afghanistan herauszukommen, erfordert neben Mut auch Glück. Die Nachbarländer halten ihre Grenzen so dicht wie Europa die Schengen-Aussengrenze. Für Flüchtende bleibt fast nur die Route über den Iran und die Türkei, und das ist ein steiniger Weg – und seit der Flüchtlingskrise von 2015/2016 ist er nicht einfacher, sondern gefährlicher geworden.
Games berührt, weil Oberholzer die Erlebnisse der fünf Geflüchteten so authentisch schildert, als sei er selbst dabei gewesen. Das Album beruht auf Doppelseiten, die die Schauplätze für die Leser*innen hautnah heranholen. Oberholzer lässt die Geflüchteten selbst zu Wort kommen und zeichnet ihre Route akribisch nach. Dabei geht er mit Hingabe und mit grösster Sorgfalt vor, verzichtet auf unnötige Darstellung von Gewalt und berichtet politisch neutral. Die Fakten jedoch stellt er ins richtige Licht: Nur die wenigsten Flüchtenden aus Afghanistan gelangen nach Europa. Rund 7,5 Millionen leben in Iran oder Pakistan, 670’000 in Europa.
Für sein Album führte Oberholzer Interviews mit den Geflohenen, sprach mit Fachpersonen, zog Fotos bei, und recherchierte in der Fachliteratur. Seine Skizzen diskutierte er mit den Interviewten, «um die Erlebnisse so realistisch wie möglich darzustellen.» Was Games von anderen, mehr auf Reportage setzenden Graphic Novels zum Thema Flucht abhebt, sind die superb gezeichneten und erzählten Infografiken: Allein die beiden Darstellungen, wie das Schlepperwesen organisiert ist und wie die Finanzierung einer Flucht funktioniert, verdienen eine Auszeichnung.
Fern von politischen Schlagworten bringt Games uns die geflüchteten Menschen nahe. Seinem Anspruch, «das Geschehene einzuordnen und das komplexe Thema der Migration in all seinen Facetten besser zu verstehen», wird Oberholzer vollends gerecht.
Florian Meyer

Patrick Oberholzer:
«Games. Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan».
Splitter, 96 S. Hardcover, farbig,
CHF 34.90 / EUR 22


Boris Pahor, Jurij Devetak: «Nekropolis»

Die Schuld und das Gute – ein KZ überleben

Im Grunde ist die Geschichte von Nekropolis sehr einfach: der Schriftsteller Boris Pahor besucht das KZ Natzweiler-Struthof im Elsass, wo er selbst in den 1940er-Jahren inhaftiert war. Während andere, jüngere Besucher*innen in dem Konzentrationslager bloss noch die historische Kulisse sehen, wird Pahor von den Erinnerungen an diese «Totenstätte» eingeholt. Hier erlebte er damals, wie Angst, Krankheit und Tod den Alltag prägten, wie er Freunde verlor, und jeder Tag der letzte hätte sein können. Und selbst als er dieses und andere KZ überlebt hatte, lebte Pahor nicht einfach weiter. Die Frage bedrückte ihn, wieso ausgerechnet er am Leben blieb und viele andere nicht. Das bleierne Gefühl der Schuld lässt Pahor ein Leben lang nicht mehr los, und trennt ihn noch Jahre nach dem Krieg von anderen Menschen. Von dieser Schuld handelt Nekropolis und davon, weshalb Pahor in Natzweiler-Struthof die Sorge befällt, das KZ könnte ihm am Ende fast vertrauter erscheinen als die Freiheit ausserhalb.
In seinem Roman Nekropolis verarbeitete der slowenisch sprechende, in Triest lebende Autor Boris Pahor die KZ-Traumata, die er in Dachau, Natzweiler-Struthof, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen erlitt. Heute stellt ihn seine reflektierende Erzählweise in eine Reihe mit Schriftstellern und KZ-Überlebenden wie Primo Levi, Jorge Semprún, Imre Kertész oder Tadeusz Borowski.
Nun hat der ebenfalls aus Triest stammende, slowenisch-sprachige Illustrator und Comic-Zeichner Jurij Devetak Nekropolis zu einer Graphic Novel verdichtet. Leider starb Boris Pahor rund drei Monate, bevor der Comic 2022 erschien, zuvor jedoch stand Pahor im Austausch mit dem Zeichner und stimmte dessen Comic-Bearbeitung zu. Devetak verzichtet auf Farbe und setzt auf düstere Bilder, die kaum Raum für Hoffnung und freies Atmen lassen.
Devetaks fiktive Kamera folgt Pahor durch die Lager-Gedenkstätte. Ab und zu zoomt sie auf Pahor. Nie zeigt sie jedoch sein Gesicht. Die Brille bleibt eine weisse Fläche, die das existenzielle Nichts spiegelt, das Pahor im KZ erlebte, als jede Flucht aussichtslos und die Welt jenseits der Zäune inexistent schien. Die leere, nichts reflektierende Brille wirft die Leser*innen auf sich selbst zurück und konfrontiert sie mit der Frage, «wann die Menschheit bereit sein wird, und wer dafür sorgen soll, dass das Gute sich entfalten kann und nicht Verderben und Sadismus.» In diesem Sinn ist Devetaks Graphic Novel sehr aktuell, denn wer heute die Nachrichten verfolgt, ist nicht übel beraten, sich diese Frage zu stellen.

Florian Meyer

Boris Pahor, Jurij Devetak:
«Nekropolis».
Schaltzeit Verlag, 172 S.
Hardcover, s/w,
CHF 37.90 / EUR 25


Joann Sfar: «Die Synagoge»

Sfar und die Skinheads

Synagogen in Deutschland müssen von der Polizei bewacht werden. Das ist nicht erst seit dem Anschlag in Halle im Jahr 2019 so, und es endet auch nicht mit den jüngsten Eskalationen in Nahost. Dass der europäische Antisemitismus auch nach 1945 weiterverbreitet war, als man gemeinhin dachte, zeigt Die Synagoge von Joann Sfar. Der französische jüdische Comic-Star Joann Sfar erzählt in seiner neuen, knapp 200 Seiten umfassenden Graphic Novel für einmal nicht vom jüdischen Leben zur Jahrhundertwende in Russland, wie in seinen fünf Klezmer-Bänden, und auch nicht vom jüdischen Leben zur Jahrhundertwende in Algier, wie in den bislang elf Bänden der in Frankreich unglaublich erfolgreichen Reihe Die Katze des Rabbiners – sondern von seinen eigenen Erlebnissen im Nizza der 1970er- und 1980er-Jahre. Zeit für dieses umfangreiche autobiografische Werk hatte Sfar durch die Pandemie.
Dass sein Blick dieses Mal auf sein eigenes Leben gerichtet ist, liegt daran, dass er schwer mit Corona infiziert worden war und knapp mit dem Leben davongekommen ist. In Die Synagoge erzählt er vom Krankenbett aus eher sprunghaft als chronologisch in seinem sehr eigenen, flirrenden Zeichenstil von seiner Kindheit und Jugend als säkularer Jude einer sehr früh verstorbenen Mutter und eines religiösen Vaters in Nizza. Letzterer ist ein mitunter zwielichtig agierender Anwalt, der einst Unterstützer der arabischen Befreiungsbewegungen war. Sfar erzählt von einer Kindheit und Jugend voller Widersprüche: Von der Freundschaft mit einem Skinhead, den Sfar im Club zur Selbstverteidigung kennenlernte, dem er beitrat, um die örtliche Synagoge vor Anschlägen der Skinheads zu schützen. Oder von der Verwechslung, als er Mitglieder der Front National beim Verteilen von Flyern stören wollte und ihn dabei eine ehemalige Lehrerin erkannte und erschrak, weil sie dachte, ausgerechnet er sei jetzt bei den Nazis gelandet. Viel Aberwitz und Humor steckt in diesen Geschichten, die sich immer auch mit Sfars Verhältnis zu seiner Herkunft und der Religion beschäftigen. Doch hinter dem Witz, stellt er gegen Ende des Buches fest, stecke auch die Angst vor dem einen grossen Thema: der Shoah. «Warum zeichne ich nicht Ausschwitz?», fragt er sich am Ende. «Warum bleiben meine Bücher und Zeichnungen auf Distanz zum Völkermord an den Juden?». Zumindest bei einem ist er sich sicher, wenn er an den Völkermord und die Vertreibung der Juden denkt (und an alle anderen Völkermorde und Vertreibungen): «Man darf sein Herz nicht verschliessen».

Christian Meyer-Pröpstl

Joann Sfar:
«Die Synagoge».
Avant-Verlag, 208 S.,
Hardcover, farbig, ca.
CHF 43.90 / EUR 30

Barbara Yelin: «Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung»

Das Trauma der ­Überlebenden

Mit Irmina erschien 2014 Barbara Yelins exakt beobachtetes Porträt einer Mitläuferin in Nazideutschland, das exemplarisch vom Abwägen vieler Deutscher zwischen moralischen Ansprüchen und dem eigenen Vorteil erzählt. Mit Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung wechselt Yelin nun die Erzählperspektive von den Tätern zu den Opfern. Sie blickt auf das Leben der Holocaust-Überlebenden Emmie Arbel zurück. Der dokumentarische Comic widmet sich der in Den Haag geborenen Frau, die zusammen mit ihrer Familie 1942 deportiert wurde, zuerst nach Ravensbrück, dann nach Bergen-Belsen. Sie war acht Jahre alt, als das KZ Bergen-Belsen befreit wurde. Ein älterer Bruder hat dort ebenfalls überlebt, ihre Mutter nicht. Auch ihre Grosseltern wurden ermordet, ebenso ihr Vater.
Den ältesten Bruder trifft sie nach dem Krieg wieder. Gemeinsam kommen sie zu einer jüdischen Familie in den Niederlanden, die jüdische Waisenkinder aufgenommen hat. Alle zusammen gehen sie Ende der 1940er-Jahre nach Israel in einen Kibbuz. Dort, wo immer die Sonne scheint und Orangen an den Bäumen wachsen – so das Familienoberhaupt Leo – könnte nach dem Trauma der Shoah vielleicht Emmies Seele heilen. Doch die Shoah ist nicht das einzige Trauma, das das Kind überleben muss, denn von Leo wird sie missbraucht, im Kibbuz als Überlebende wie ein Tier im Zoo beäugt – sie bleibt aussen vor. Es ist ein langer Weg für Emmie Arbel, bis sie dank einer Therapie herausfindet, was ihr alles zugestossen ist und wie sie es bewältigen kann.
Barbara Yelin hat sich zwischen 2019 und 2023 immer wieder mit der heute 86-Jährigen getroffen. Vorsichtig tasten sich die beiden Frauen an die schwierigen Themen heran. Yelin fragt immer wieder nach, ob das Gesagte in den Comic dürfe, ob sie das Gespräch fortsetzen oder lieber eine Pause machen sollten. Yelin trifft auch Emmie Arbels Töchter, gemeinsam reisen sie an die Orte der Vergangenheit – in die Niederlande und auch zum KZ. Neben dem frühkindlichen Trauma dort widmet sich die Biografie vor allem dem Missbrauch, der Aussenseiterrolle als Waise und als Überlebende der Shoah in Israel; dem Trauma, mit niemandem sprechen zu können, und nicht zuletzt kommt die Übertragung der Traumata an ihre Töchter zur Sprache. Yelin zeichnet die Interviewsituationen und visualisiert auch die Geschichte, die Emmie Arbel erzählt. Die mit Aquarell gefärbten Zeichnungen wechseln zwischen düsteren Farben für die Vergangenheit und helleren für die Gegenwart. Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung ist ein beeindruckender Blick auf die zu selten beleuchteten individuellen Folgen der Shoah, und am Ende trotz der Schwere des Themas ein optimistisches Porträt einer unglaublich starken Frau geworden.
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Christian Meyer-Pröpstl

Barbara Yelin:
«Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung».
Reprodukt, 192 S.,
Hardcover, farbig, ca.
HF 42.90 / EUR 29

Patrick McDonnell: «The Super Hero’s ­Journey»

Glaube, Liebe und Galaktus


Patrick McDonnells Mutts erschien erstmals im September 1994, lange nach den goldenen Jahren des Mediums, wird aber trotzdem oft als einer der grössten amerikanischen Zeitungs-Comics aller Zeiten angesehen. Mutts ist ein einfacher und fast schon archetypischer Comic-Strip, der den meist ereignislosen Alltag einer begrenzten Anzahl von Charakteren schildert, allen voran derjenige eines Hundes, einer Katze und ihrer Besitzer*innen. McDonnell zaubert aus dieser einfachen Prämisse eine Magie, die manchmal den verrückten, selbstbewussten Humor und die Philosophie von Krazy Kat, den visuellen Einfallsreichtum und die Innerlichkeit von Calvin und Hobbes oder die psychologischen Nuancen von Peanuts widerspiegelt. Charles Schulz gab zu Protokoll, dass «Mutts für mich genau das ist, was ein Comic sein sollte», und Matt Groening gestand: «Mutts heitert mich jeden Tag auf. Der Strip ist nicht nur süss, einfach und witzig – eine seltene Kombination – er ist auch der bestgezeichnete Comic überhaupt.»
Wenn Ihre Lokalzeitung keine Comic-Beilage hat, wissen Sie McDonnells Genialität vielleicht nicht zu schätzen – so wie ich es in den letzten drei Jahrzehnten getan habe. Mutts tauchte etwa zur selben Zeit auf, nachdem ich von der akademischen Welt in die Wirtschaft wechselte und den grossartigen Comic-Teil des Boston Globe hinter mir liess, um täglich die mürrische New York Times zu lesen – die überhaupt keine Comics abdruckt und nicht einmal politische Karikaturen veröffentlicht! Ich musste Mutts über Sammelbände nachholen, und wenn Sie Mutts nicht kennen, sollten Sie das unbedingt nachholen. Sie werden es nicht bereuen.
Letzten Monat stiess ich zu meiner Überraschung auf ein brandneues Buch von McDonnell über … Marvel-Superhelden! Wie bitte? The Super Hero’s Journey ist ein hübsches, grossformatiges Buch mit einer auffälligen Umschlagillustration, die eine Hommage an den grossen Jack Kirby darstellt. Nur, dass Captain America, Thor, Black Panther und die anderen Helden unglaublich schlecht (anders kann man es nicht sagen) gezeichnet sind. Was da wohl geschehen ist?
Ich möchte vermeiden, The Super Hero’s Journey in irgendeiner Weise zu spoilern. Das Buch steckt voller Freude und Überraschungen, und wenn Sie auch nur einen Hauch von Kindheitsnostalgie für die Marvel-Comics der 1960er- bis 1980er-Jahre empfinden, oder wenn Sie überhaupt einmal ein Kind waren, bin ich sicher, dass Sie es mehr als einmal lesen wollen. Und wenn Sie ein echter Fan des Silver Age von Marvel sind, werden Sie davon hingerissen sein, wie McDonnell einigen der grossartigsten Titelbilder und Seiten aller Zeiten huldigt und mit ihnen spielt.
Ein Hinweis auf die Absicht des Buches ist die Anlehnung des Titels an einen Dokumentarfilm über Joseph Campbell,
The Hero’s Journey. Campbell, Professor für ­Literatur und Religion, wollte zeigen, wie ein einziger, vielleicht kollektiver unbewusster «Monomythos» allen Heldengeschichten der Menschheit zugrunde liegt, von Gilgamesch und Herkules über König Artus und Siegfried den Drachentöter bis hin zu Jeanne d’Arc und Luke Skywalker (George Lucas gab schliesslich zu, dass Campbells Werk ihm die Vorlage für Star Wars lieferte). McDonnell hingegen nutzt die Marvel-Superhelden (von denen viele ebenfalls gut in den Monomythos passen), um aufzuzeigen, wie sehr unsere Kindheitsphantasien die Menschen formen können, zu denen wir heranwachsen, und vor allem, wie sehr Hoffnung, Freundlichkeit, Liebe und Heroismus (zugunsten anderer) zu einem sinnvollen Leben beitragen.
Ein anderer verehrter Zeichner, Alex Ross, preist The Super Hero’s Journey als «Gegengift zum Zynismus». Die kraftvolle Spiritualität, auf der McDonnells Buch subtil basiert, hat mich durchaus beeindruckt (er ist katholisch erzogen worden, setzt sich sehr für Tierrechte ein und zitiert Eckhard Tolle und Teilhard de Chardin), aber auch Agnostiker*innen werden die positiven Botschaften des Buches und die lebendige, kreative Art, in der McDonell sie darlegt, zu schätzen wissen. Angesichts der Schrecken der heutigen Zeit bin ich dankbar für jegliche positive Botschaften, sogar aus dem Mund von Superhelden – und in McDonnells Händen erblüht eine kindliche Allegorie mit ewiger Wahrheit.-
Mark David Nevins

Patrick McDonnell:
«The Super Hero’s ­Journey».
In Englisch. Abrams Books 2023, 92 S.,
Hardcover, farbig, ­
CHF 41.90 / EUR 22,99

Emily Carroll: «A Guest in the House»

Schauriger Grusel

Emily Carroll erlangte 2010 mit ihrem Webcomic His Face all Red virale Bekanntheit. Die Geschichte handelt von zwei Brüdern, wobei der jüngere im Schatten des älteren steht. Von der Jagd nach einem Monster, das ihr Dorf terrorisiert, kehrt nur der jüngere Bruder lebend zurück. Als eine Woche später der vermeintlich tote Bruder zurückkehrt und vom Dorf gefeiert wird, erkennt der Überlebende sofort und mit Schrecken, dass etwas nicht stimmen kann – hat er doch seinen Bruder eigenhändig umgebracht. Die Begeisterung des Publikums für diese Geschichte gründet wohl auch auf ihrem unheimlichen Erzählstil, der sich an viktorianischen Gruselautoren wie Edgar Allan Poe orientiert.
Carrolls neustes Buch A Guest in the House (2023) wurde von vielen als einer der besten Comics des Jahres angesehen, und das zu Recht. Sie hat sich deutlich weiterentwickelt und präsentiert einen ausgereiften Comic-Roman. A Guest in the House ist eine modernisierte Version viktorianischer Schauermärchen, deren Monstrosität jedoch nur angedeutet wird. Die Handlung dreht sich um die junge Abby, eine schüchterne, zurückhaltende und etwas einsame Frau, die soeben einen Witwer geheiratet hat und mit dessen Tochter in ein Haus am See gezogen ist. Vieles bleibt unklar, sowohl für die Leser*innen als auch für Abby selbst – woran ist die Ex-Frau ihres Ehemanns wirklich gestorben? Was ist mit ihren Gemälden passiert? Warum will der Ehemann nicht, dass seine Tochter alleine im See badet? Man ahnt Schlimmes, denn vieles scheint nicht so, wie behauptet wird.
Abby verbringt viel Zeit im Haus am See und flüchtet oft in ihre eigene Fantasiewelt, in der sie als heldenhafte Ritterin gegen einen furchteinflössenden Drachen kämpft. Die Spaltung zwischen Realität und Fantasie wird von Carroll auf interessante Weise zeichnerisch dargestellt: Die reale Welt ist in Grau gehalten, während Abbys mittelalterlich anmutende Fantasiewelt vor Farben nur so strotzt.
Im Verlauf der Geschichte werden nach und nach Wahrheiten enthüllt, denen man jedoch nicht trauen kann. Die Grenze zwischen Fantasie und Realität der Protagonistin verschwimmt immer mehr, sodass weder sie noch die Leser*innen wissen, was wirklich wahr ist. Gegen Ende spitzt sich die Geschichte zu und wartet mit einer überraschenden Wendung auf, denn wie schon im Titel angedeutet, gibt’s einen mysteriösen Gast im Haus …

Giovanni Peduto

Emily Carroll:
«A Guest in the House».
In Englisch. Faber&Faber, 256 S.,
Hardcover, monochrom/farbig,
CHF 36.90 / EUR 20,99

«His Face All Red»
kann hier gelesen werden:

www.emcarroll.com/comics/faceallred

Tébo, «Der Schlumpf, der vom Himmel fiel»

Seit 66 Jahren blau


Wie die Hauptfigur eines Heldenepos beginnt Der Schlumpf, der vom Himmel fiel. Eines Tages wacht ein neuer Schlumpf auf dem Dach eines Schlumpfhauses auf und weiss weder wer er ist, noch woher er kommt. Auch die eigenwillige Schlumpfsprache beherrscht er nicht, was für viel lustige Verwirrung im Gespräch mit den anderen Schlümpfen sorgt. Doch Schlümpfe sind hilfsbereit und abenteuerlustig. So macht sich der neue Schlumpf zusammen mit Schlumpfine, dem Brillenschlumpf Schlaubi und dem muskulösen Hefty auf die Reise, um seine wahre Identität herauszufinden …
Die Schlümpfe erschienen erstmals 1958 als koboldartige Nebenfiguren in Peyos (Pierre Culliford) Abenteuercomics Johan et Pirlouit (auf Deutsch: Johann und Pfiffikus) im Magazin Spirou. In Deutschland wurden ihre Abenteuer anfangs in Rolf Kaukas Fix-und-Foxi-Heften übersetzt (Kauka ist auch der Erfinder ihres Namens). Auch lange nach Peyos Tod 1992 erscheinen bis heute weitere Geschichten der blauen Zwerge, sie werden von einem Team von Autor*innen, unter anderem von Peyos Sohn Thierry Culliford, herausgegeben und von Peyos Tochter Véronique vermarktet.
Mit diesem ersten Sonderband des französischen Zeichners Tébo (Frédéric Thébault) möchte der Verlag Le Lombard den bereits über 60-jährigen Figuren einen neuen Anstrich verpassen. Wie so oft bei Hommagen alter Klassiker kann man sich darüber freuen oder ärgern. Mawil und Ralf König haben brillante Lucky-Luke-Hommagen erschaffen. Tébo – bekannt geworden durch Captain Biceps und Raowl – verfremdet auf wunderbare Weise die sonst gleich aussehenden Schlümpfe, indem er jedem Schlumpf eine körperliche Einmaligkeit verpasst: Muskelschlumpf Hefty ist grösser und kräftiger gebaut als die anderen, Schlaubi hat Brillengläser wie Flaschenböden, Schlumpfine ist immer noch dieselbe, trägt aber Ballerinas und keine Absätze mehr. Im Gegensatz zu Mawil oder Ralf König liefert Tébo eine sehr klassische Schlumpfgeschichte, abgesehen von einem kleinen Überraschungsmoment, als die wahre Identität des neuen Schlumpfs enthüllt wird. Trotzdem ist Der Schlumpf, der vom Himmel fiel mit seinen Referenzen an Peyo und andere Comic-Klassiker für erwachsene Nostalgi­ker*innen lesenswert. Für jüngere Leser*in­nen lohnt sich Tébos farbenfrohes, an ein Computerspiel erinnerndes Abenteuer durchaus als Einstieg in die blaue Welt der Schlümpfe.

Giovanni Peduto

Tébo,
«Der Schlumpf, der vom Himmel fiel».
Toonfish/Splitter-Verlag, 56 S.,
Hardcover, farbig, ca.
CHF 24.90 / EUR 15,95

Blexbolex, «Les Magiciens»

Blexbolex der Magier

Manche Bücher nehmen uns unvermittelt mit auf eine Reise in die Vergangenheit, in die Kindheit, als wir uns in Buchillustrationen verlieren konnten und die Erzählungen geheimnisvoll, magisch und unergründlich erschienen. Blexbolex ist ein Meister dieser Zeitreisen und sein Buch Les Magiciens kann man als einen weiteren Höhepunkt seiner Illustrationskunst bezeichnen. Für jede seiner Publikationen entwickelt der gebürtige Franzose und Wahl-Leipziger ein eigenständiges Konzept auf erzählerischer und visueller Ebene. Etwa vier Jahre hat er an der Geschichte über drei mit magischen Kräften ausgestattete Kinder gearbeitet, von ersten träumerischen Ideen über Skizzen und Figurenentwicklungen, Bearbeitungen am Computer bis schliesslich zum äusserst aufwändig gedruckten Buch. Allein haptisch und optisch scheint das Buch aus der Zeit gefallen zu sein – so sind zum Beispiel die Seiten doppelt, so dass die Illustrationen nicht durchscheinen können. Und wenn man es nicht wüsste, würde man im ersten Moment das Erscheinungsjahr dieses Buches in den 50er- oder 60er-Jahren vermuten. Doch es handelt sich hierbei nicht um ein weiteres Buch im Retro-Look, wie es dank gängiger Grafikprogramme leicht herzustellen wäre. Bei Blexbolex flossen in diese Publikation seine Talente als Künstler, Illustrator und Siebdrucker ein. Die Illustrationen hat er in Schablonenform angelegt, um die Formen zu vereinfachen und das Farbsystem zu rationalisieren. Die Luboks der russischen Avantgarde, diese Flugblätter oder Volksbilderbogen mit satirischem oder sozialkritischem Charakter, inspirierten ihn zu speziellen Layouts und plakatartiger Grafik. Die Farben überlagern sich zum Teil, sind ungleichmässig gedruckt, weisse Ränder sind zu sehen, was der Publikation eine Aura der Einzigartigkeit verleiht und in ihren schönsten Konstellationen eine faszinierende Bildtiefe erzeugt. Blexbolex ist bei der Entwicklung und Produktion dieses Buches keine Kompromisse eingegangen, was man bei jeder Seite spürt. Les Magiciens gehört zu den absolut schönsten illustrierten Büchern

Matthias Schneider

Blexbolex,
«Les Magiciens»,
La Partie. Auf Französisch. 182 S.,
Softcover, farbig,
CHF 47.90 / EUR 32,99

Henning Wagenbreth, Hg.: «Bilder schreiben, Wörter zeichnen»

Yes, we can

Gleich vorneweg – dieses Buch sollte zum Standardwerk werden, für alle, die sich für Illustration oder Erzählen in Wort-Bild-Kombinationen interessieren. Henning Wagenbreth lehrt seit nunmehr 25 Jahren als Professor an der Universität der Künste in Berlin und präsentiert nun als Herausgeber von Bilder schreiben, Wörter zeichnen eine Auswahl von Arbeiten und Projekten seiner Student*innen. Auf über 500 Seiten erhält man einen inspirierenden Einblick in die unterschiedlichsten Formen und Techniken der Illustration, von analog bis digital, von gezeichnet, geschabt bis gedruckt, und von zwei- bis dreidimensional. Wagenbreth selbst verfolgt meist einen spielerischen Ansatz bei seinen Arbeiten, um ungewöhnliche Betrachtungsweisen einzunehmen. Er experimentiert mit analogen und digitalen Zeichentechniken, Masken und Puppen, oder er setzt sich z.B. Grenzen, um farbtechnische Möglichkeiten auszutüfteln und auszureizen. Dieser spielerische Ansatz findet sich auch in den hier präsentierten Arbeiten seiner Illustrationsklasse wieder, die diesem Buch so mannigfaltige Facetten verleihen. Der Untertitel des Buches Was wir mit Illustrationen machen können mag simpel klingen, dennoch bringt er die Essenz der Publikation auf den Punkt, denn es ist unglaublich viel, was Illustration kann. Wagenbreths Klasse entwickelte unter anderem für gestalterische Aufgaben aus Politik, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft beeindruckende visuelle Lösungen, die in dem Buch auf grossartig gestalteten Seiten präsentiert werden. Darüber hinaus werden auch die Recherchen der der Student*innen über über wegweisende Illustrations- und Buchkunst vorgestellt, ebenso zu den unterschiedlichen Druck- und Zeichentechniken. Besonders faszinierend sind die Publikationen, die im Rahmen ihres Studiums entstanden sind, manche werden erstmals ­einem breiteren Publikum zugänglich gemacht, da sie meist in Kleinstauflagen produziert wurden. Vor allem aber sieht man, welch hervorragende Arbeiten entstehen können, wenn dafür ausreichend Zeit und Geld vorhanden sind. Die Realität nach dem Studium sieht für Illustrator*innen jedoch meist anders aus, weshalb es so wichtig ist, dass dieses Buch aufzeigt, was mit Illustration alles möglich ist.
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Matthias Schneider

Henning Wagenbreth, Hg.: «Bilder schreiben, Wörter zeichnen»,
Peter Hammer Verlag, 512 S.,
Hardcover, vierfarbig,
CHF 68.90 / EUR 49

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Kurz und Gut

VON CHRISTIAN MEYER PRÖPSTL


„Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau“. Auch auf Marcel Proust trifft das zu – der hypersensible Verfasser der durch Sinnestaumel entfachten Erinnerungskultur in sieben Bänden (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) konnte sich von 1914 bis zu seinem Tod im Jahr 1922 auf seine Haushälterin Céleste Albaret stützen. Bildungsfern aufgewachsen, nimmt sie in ihrer fürsorglichen Art ab 1914 schnell eine wichtige Stellung in Prousts Leben ein. Sie wird bald eine Art Sekretärin, die sich auch um seine literarischen Belange kümmert und die sogenannten «Paperolles» für seine umfangreichen Korrekturen erfindet. Die französische Zeichnerin Chloé Cruchaudet erzählt im ersten von drei geplanten Teilen der Reihe Céleste – «Gewiss, Monsieur Proust» von der zarten Annäherung der beiden Menschen mit ihren so unterschiedlichen Herkünften. Eine fantasievolle Bebilderung mit zarter Aquarell-Kolorierung macht das Lesen zu einem noch grösseren Vergnügen, auch wenn man vielleicht noch nie etwas von Proust gelesen hat.

Cloé Cruchaudet:
«Céleste – Gewiss, Monsieur Proust» (Bd.1).
Insel, 124 S., Hardcover, farbig, ca.
CHF 29.90 / EUR 25


Das Tagebuch der Unruhe von Ersin Karabulut ist als Autobiografie in drei Bänden ­angelegt. Der renommierte türkische Zeichner, Anfang der 1980er-Jahre geboren, wächst zwischen Militärputsch, Säkularisierung und dem aufkommenden Islamismus seit den 1990er-Jahren auf. Da kommt man um den omnipräsenten Erdogan und seinen Aufstieg seit Mitte der 1980er-Jahre nicht herum. Der Sohn zweier Lehrpersonen lebt in ständiger Angst vor religiösen Fanatikern, die die Umgebung drangsalieren. Seinen Kampf, entgegen dem Wunsch der Familie, Zeichner zu werden, gewinnt er, doch als politischer Karikaturist hat er auch im Beruf noch viele Kämpfe durchzustehen. Der erste Band endet, als Karabulut mit 24 Jahren (nach einem ersten gegen Erdogan gewonnenen Prozess und einer ersten Gewissenskrise) endlich von zu Hause auszieht.

Ersin Karabulut:
«Das Tagebuch der Unruhe» (Bd.1),
Carlsen. 160 S., farbig, Hardcover, ca.
CHF 37.90 / EUR 25


Marjane Satrapi ist Herausgeberin des Bandes Frau Leben Freiheit, der von der Protestbewegung im Iran nach dem Tod der Studentin Mahsa Amini erzählt, ermordet von der Sittenpolizei. Zu den Autor*innen zählen Iran-Expert*innen wie Histori­ker*in­nen und Politolog*innen, zu den Zeichner*innen vor allem französische Künstler*innen wie Catel, Pascal Rabaté, Paco Roca, Joann Sfar, Lewis Trondheim oder Winshluss. Sie erzählen von den Ereignissen, die zu der Protestwelle führten, liefern historische Hintergrundinformationen und kulturelle sowie politische Details aus dem alltäglichen Leben im Iran. Die Zeichenstile und Erzählhaltungen sind so vielseitig wie die Stimmen der Regime­kriti­ker*innen. Dem Kampf von Frauen widmet sich auch die über 300-seitige Autobiografie von Kate Charlesworth. United Queerdom ist eine sehr persönliche Coming-out-Geschichte der 1950 geborenen britischen Zeichnerin. Ihre eigenen Wegmarken der lesbischen Emanzipation verwebt sie fliessend mit allgemeinen zeithistorischen Ereignissen und vor allem popkulturellen Momenten. Ein Kompendium für die LGBTQI+-Bewegung und alle, die sich dafür interessieren.

Marjane Satrapi (Hg.):
«Frau Leben Freiheit».
Rowohlt, 272 S.,
Hardcover, farbig & s/w,
ca. CHF 33.90 / EUR 34

Kate Charlesworth:
«United Queerdom».
Carlsen, 320 S., Hardcover, farbig,
ca. CHF 43.90 / EUR 32


Der Architekt und Comic-Debütant Louis Paillard hat Michel Houellebecqs Roman Karte und Gebiet aus dem Jahr 2010 als bemerkenswert dichte Graphic Novel adaptiert: Als der Maler Jed Martin an seinem neuen Gemälde Damien Hirst und Jeff Koons ­teilen den Kunstmarkt unter sich auf zu verzweifeln droht, entfaltet sich ein biografisches Netz als Gesellschaftsroman, in dem auch Houellebecq als Romanfigur auftaucht und mit dessen Ermordung zu einem Krimi wird, der schliesslich in die Zukunft verweist. Die irrwitzige Handlungsstruktur bündelt Paillard mit facetten- und zitatreichen Zeichenstilen in Farbe und Schwarzweiss zu einem beeindruckenden Panoptikum einer durchdrehenden Gesellschaft.

Louis Paillard & Michel Houellebecq:
«Karte und Gebiet». Dumont,
160 S., grossformatig. Hardcover, farbig,
ca. CHF 43.90 / EUR 32


Comic und Storyboard verbindet eine grosse Verwandtschaft. Der Comic ist eine fast zur selben Zeit wie der Film entstandene Form des sequentiellen Erzählens in Bildern, das Storyboard ist ein Hilfsmittel zur Realisierung eines Filmprojektes. Auf diesen Verbindungslinien gleitet der Comic Das Storyboard von Wim Wenders von Stéphane Lemardelé wunderbar entlang: Ein Storyboarder wird für schwierig zu planende Szenen und Dreharbeiten herangezogen, um als Orientierungspunkt Szene für Szene eine gezeichnete Vorstellung des geschnittenen Films zu liefern. Wim Wenders bucht Lemardelé für die Eröffnungsszenen von Every Thing will be fine (2015), die u.a. in Kanada auf einem gefrorenen See gedreht werden sollen. Lemardelé macht daraus wiederum einen Comic, der auf Gesprächen mit Wim Wenders über dessen Denken und Arbeiten basiert. Obendrein gibt es Auszüge aus dem originalen Storyboard sowie Szenen von den Dreharbeiten.
Noch ein Filmthema: Der Anime-Meister Hayao Miyazaki hat 1983 – kurz vor der Gründung seines einflussreichen Studios Ghibli – mit Shunas Reise seinen einzigen Manga realisiert. Als Manga eher ungewöhnlich, weil durchgehend farbig, kaum mit Sprechblasen, sondern mit Erzähltext ausgestattet und auch zeichnerisch sehr eigenartig, findet man in der märchenhaften Fabel jedoch zahlreiche Figuren und Topoi, die später in seinen erfolgreichen Filmen auftauchen. Für Miyazaki-Fans ein unverzichtbares Frühwerk.

Stéphane Lemardelé:
«Das Storyboard von Wim Wenders».
Splitter, 152 S.,
Hardcover, farbig,
ca. CHF 43.90 / EUR 29,80

Hayao Miyazaki:
«Shunas Reise».
Reprodukt, 160 S.,
Hardcover, farbig,
ca. CHF 29.90 / EUR 20


Nach Alison Bechdels autobiografischer Graphic Novel Fun Home über ihren Vater, die 2006 auf vielen Bestenlisten u.a. der New York Times landete, folgte 2012 Wer ist hier die Mutter? In ihrem neuen Comic Das Geheimnis meiner Superkraft steht sie selber ganz im Mittelpunkt – sie und ihr Körper. Denn die nun 60-Jährige outet sich als lebenslange Sport-Süchtige, die gerade feststellen muss, dass der energetische Zenit überschritten ist. Bechdel rekapituliert ihr Leben unter dem körperlichen Aspekt und unterfüttert ihren Drang nach Körperlichkeit psychologisch und philosophiegeschichtlich. Das ist mal komisch, mal schmerzlich, aber immer ehrlich und klug.

Alison Bechdel:
«Das Geheimnis meiner Superkraft».
Kiepenheuer & Witsch, 240 S.,
Hardcover, farbig,
ca. CHF 34.90 / EUR 30

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Biografien

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Salma Al Gamal
wurde 1995 in ­Kairo geboren, wo sie auch heute noch lebt. Sie hat einen Abschluss in Bildender Kunst der Universität Alexandria und hat im Jahr 2022 ihr Studium am California College of the Arts abgeschlossen. Salma hat sich auf Comics, Editorial- und Kinder­buchillustration sowie Animations-Design spezialisiert.

@salmaalgamal
behance.net/salmaalgamal
CairoComix
Comixandria



Joseph Kai
geboren im Libanon, experimentiert gerne mit realistischer und spekulativer Fiktion, um über Themen wie Geschlecht und Exil zu sprechen.
Seine erste Graphic Novel L’Intranquille ­(Casterman, 2021) ist auf Englisch bei Street Noise Books unter dem Titel Restless ­erschienen. Sie handelt von dem ängstlichen Verhalten, den sexuellen Wünschen und Träumen von Samar, einer queeren ­Künstlerin, die im Libanon lebt, zu einem Zeitpunkt, an dem das Land eine der turbulentesten Perioden seiner Geschichte durchmachte. Joseph Kai ist auch Teil des libanesischen Comic-­Kollektivs ­Samandal Comics. Er lebt zurzeit in Paris.

@josephkai
samandal-comics.org



Salim Zerrouki
ist ein algerischer Autor und Illustrator, der einen ebenso ­provokativen wie humorvollen Stil pflegt.
Er studierte Grafikdesign an der Kunsthochschule in Algier, bevor er sich ein Jahrzehnt lang in der Werbebranche herumtrieb. Nach der tunesischen Revolution und mit dem Ziel, dem Aufstieg des politischen Islam entgegenzuwirken, rief er seinen ersten Karikaturen-Blog mit dem Titel Yahia Boulahia ins Leben. Dieser Blog rückte eine eine salafistische Figur in den Mittelpunkt, die auf Teufel komm raus Fatwas austeilte, um die Tunesier vor den Gefahren der Islamisierung der Gesellschaft zu warnen.

2018 veröffentlichte er seinen ersten Comic, mit dem Titel Comment se débarrasser de nous pour un monde meilleur (Wie man uns los­wird, um eine bessere Welt zu ­erschaffen), einen praktischen Leitfaden zur Ausrottung der Araber*innen, eine freimütige Satire auf die maghrebinischen Gesellschaften, voller Selbstironie und schwarzem Humor.

In seinem zweiten Comic nimmt er sich eines ernsteren Themas an, indem er die europäische Migrationspolitik ­an­prangert. In Comment réussir sa migration clandestine (Wie man seine illegale Migration erfolgreich durchführt) erzählt er auf grausame Weise vom menschlichen Verfall, wobei er sich auf wahre Geschichten stützt.

@salim.zerrouki
www.cartooningforpeace.org/en/dessinateurs/salim-zerrouki/



Othman Selmi
arbeitet als Illustrator, Karikaturist und Art Director in Tunis. Nach einem Studium in Tunis und einem Abschluss in Kunst und ­Kommunikation widmete er sich Zeichentrickfilmen und wurde später Kreativ­direktor in einer Werbeagentur. Er ­illustrierte verschiedene Jugendbücher und Comicstrips in Zusammenarbeit mit dem Kollektiv Lab 619 in Tunesien und arbeitete für Publikationen im Ausland wie Samandal und F/I/M/P (Libanon), Actes Sud und Alifbata editions (Frankreich), Correspondants in Deutschland, The Nib (USA) und ­Internazionale (Italien). Derzeit arbeitet er als künstlerischer Leiter und Illustrator für die Online-Zeitschrift The Legal Agenda, eine Menschenrechts­organisation mit Sitz in Beirut und Korrespondent*innen in diversen ­arabischen Ländern. 2016 gewann er den prestigeträchtigen Mahmoud-­Kahil-Preis für den besten Comicstrip im Libanon und war Finalist in der Kategorie Editorial Cartoons desselben Preises. Othman hat gerade sein jüngstes Werk Migrazione beim italienischen Verlag Fortepressa veröffentlicht.

Nach Jahren der Zensur erlebten Comics nach der Revolution von 2011 einen ­Aufschwung, vor allem durch Zeitschriften wie Lab 619 und andere Publikationen. In den letzten Jahren scheint dieser Schwung jedoch nachgelassen zu haben, was 2022 durch das Verschwinden des langjährigen (25 Jahre!) und einzigen Comic-Festivals in Tazarka deutlich wurde. Nur wenigen Autor*innen gelingt es noch, ihre
Werke zu veröffentlichen, oft geht das nur im ­Eigenverlag oder im Ausland.

@kidsmokk
othmanselmiblog.tumblr.com
othmanselmi.blogspot.com
behance.net/othmanselmi
english.legal-agenda.com/about-us



Zineb Benjelloun
wurde 1984 in Rabat, Marokko, geboren. Sie ist bildende Künstlerin und Dokumentarfilmerin. Nachdem sie kurzzeitig für einen marokkanischen Fernsehsender gearbeitet hatte, konzentriert sie sich seit 2013 aufs Zeichnen und Schreiben. Zineb hat in mehreren Ländern ausgestellt, unter anderem in der Galerie La Gaîté lyrique in Paris, in der Voice Gallery in Marrakesch, im Ministerium für Illustration in Berlin, in La Cité de la bande dessinée in Angoulême oder in der Galerie Tanit in Beirut.

Sie hat visuelle Identitäten für kulturelle Veranstaltungen, Marken und Vereine entworfen, darunter Rock en Seine in Paris, Les Nuits sonores in Tanger und Quartiers du monde in Rabat, Marokko. Ihre Comics und Illustrationen wurden in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht z.B. Samandal im Libanon, Dyptique und Skefkef in Marokko, Lab 619 in Tunesien, Slanted in Deutschland und Fractal in Mexiko. Ihre erste Graphic Novel, Darna, wurde in Frankreich 2023 von Editions çà et là veröffentlicht.
Zineb Benjelloun lebt derzeit in Casablanca.

@zineb__benjelloun


Dieser Comic ist als Hommage an die «Ultras» der beiden berühmten Fussballmannschaften des Wydad ­Athletic Club (WAC) und des Raja Club Athletic (RCA) aus Casablanca, Marokko, gedacht. Meine Zeichnungen sind von der Ikonographie, den Graffiti und den Bannern auf den Wänden und in den Stadien der «weissen Stadt» Casa­blanca inspiriert. Mit diesen Bildern möchte ich den Humor, die Fantasie und die Lebendigkeit der Fussballfans von Casa­blanca zelebrieren, der Winners des WAC sowie der Green Boys und der Eagles des RCA.

@wydad_winners37
ue06.org
fb: Green.Boys.Ultras

In Tétouan findet seit einigen Jahren ein Comic-Festival statt, dieses Jahr vom 27. Mai bis 1. Juni, organisiert vom Institut National des Beaux-arts. In Marokko gab es bis vor zwei Jahren das Comic-Magazin Skefkef, und im Juni soll die dritte Ausgabe von Khaliya erscheinen.

www.fondationhiba.ma/content/media/120#
fb: FIBaDeT



Lena Merhej
ist eine visuelle Geschichtenerzählerin und Expertin für grafische Erzählungen. Sie lehrte an mehreren Universitäten in Beirut. Sie ist Gründerin und Leiterin des Story Center, das professionelle Schulungen in den Bereichen Animation, Illustration und Comics anbietet, sie war Leiterin des Beirut Animated Festival und arbeitete mit Tosh Fesh ­zusammen, um Comics und Animation in den arabischen Ländern zu fördern.

Lena Merhej hat über 35 arabische ­Kinderbücher illustriert und ihre Arbeiten sowohl lokal als auch international ­aus­gestellt. Ihr Zeichentrickfilm Drawing the War (2002), ihr Comic Kamen Sine (Ein anderes Jahr, 2009) und ihr Buch Mrabba w Labban (Joghurt und Marmelade, 2011) wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. Sie ist Mitbegründerin und Mitglied der libanesischen Comic-­Organisation Samandal. Im Jahr 2019 wurde ihr Buch Salam mit dem Mahmoud-Kahil-Preis für die beste Graphic Novel ausgezeichnet. Kürzlich hat sie zusammen mit dem Samandal Collective eine neue Sammlung von Jugendcomics in arabischer Sprache mit dem Titel WatWat herausgegeben und eine Online-Comicserie mit dem Titel Revolution in meiner Quarantäne ­produziert.

@lena_merhej
fb: lenamerhej


*ToshFesh ist ein gemeinnütziges Unternehmen, dessen Ziel es ist, junge und aufstrebende Talente in der Kunst der Karikatur und des Comics in der gesamten arabischen Welt zu unterstützen und zu fördern. Tosh Fesh veröffentlicht jedes Jahr ein Buch mit den Werken bedeutender Kunstschaffender aus allen arabischen Ländern. Tosh Fesh veranstaltet auch einen offenen Comic-Wettbewerb, dessen Gewinner*in zusätzlich zu einem Geldpreis ihren/seinen Comic veröffentlichen kann. Das Tosh Fesh Journal, Journal erscheint alle zwei Monate und zeigt die Werke ara­bi­scher Künstler*innen. Es wird ­kostenlos verteilt.

toshfesh.com



Ibtihaj Al Harthi
wuchs in Maskat, Oman, auf, erlebte aber, wie sie sagt, die schönsten Momente ihres Lebens in den Sommern in einem kleinen Dorf in der Region Al Sharqiya. In der Schule entwarf sie mit ihrer besten Freundin zusammen ein erstes Comic-Buch, das ein Hit unter ihren Klassenkamerad*innen war. Obwohl sie zwei Abschlüsse in Pädagogik erwarb, entdeckte sie ihre Liebe zur Kunst und absolvierte 2015 einen Master-Abschluss in Illustration. Derzeit arbeitet sie als Künstlerin und Autorin in Maskat.

Sie ist Autorin von Mah und ich, das den Itisalat Children’s Books Award für den besten Text gewann. Ausserdem hat sie zahlreiche Bilderbücher illustriert, darunter Tales From Jabal Al Alhdhar, The Boy and the Sea und viele andere. Zurzeit arbeitet sie an ihrer ersten Graphic Novel Hans mein Igel, einer Adaption des gleichnamigen Märchens der Gebrüder Grimm.

ibtihajalharthi.com
ibtihajalharthi.com/blog/behind-image-lw2t5

Ihr hier abgedruckter Comic erschien bereits im Comic-Magazin Corniche No. 5, herausgegeben von der Sharjah Art ­Foundation. Wir danken für die Erlaubnis zum Abdruck.

sharjahart.org/sharjah-art-foundation/publications/corniche-5



Zainab Fasiki
wurde 1994 in Fez, Marokko, geboren. Ursprünglich
als Maschinenbauingenieurin ausgebildet, arbeitet sie unterdessen als Illustratorin und Comic-Zeichnerin. Als Künstlerin, die sich für Frauenrechte und individuelle Freiheiten einsetzt, leitet Zainab Comic-Workshops an Universitäten und bei gemeinnützigen Organisationen in ­Marokko und anderswo. Sie ist ausserdem die Gründerin des Kollektivs Women Power, das Künstlerinnen zur Teilnahme an Workshops einlädt, um die nächste ­Generation zu fördern. 2018 wurde sie mit dem Amnesty-Preis für Aktivistinnen aus­gezeichnet, und 2022 erhielt sie für ihren Comic-Bestseller Hshouma den Tapferkeitspreis beim Off-Festival in Angoulême.
2024 startet Zainab ihre eigene Show über Sexualerziehung in marokkanischer Sprache.

@zainab_fasiki



Lutfi Zayed
ist Comic-Zeichner und Illustrator und lebt in Amman, Jordanien. Nachdem er seine Karriere als angestellter Grafikdesigner begonnen hatte, beschloss er, einen anderen Weg ein­zuschlagen, der ihm mehr künstlerische Freiheit ermöglicht. Zayeds Arbeiten sind in Kinderbüchern und kurzen Animationen sowie auf Ausstellungen und Comic-­Festivals zu sehen. Sein erstes Buch wurde 2019 veröffentlicht.

@lutfi.zayed



Abir Gasmi (Geschichte) und Kamal Zakour (Zeichnung)

Abir Gasmi
ist eine tunesische Geschichtenerzählerin. Sie arbeitet in den Sparten Kino und Comics. Als Drehbuch­autorin und Koordinatorin ist sie Mitglied des tunesischen Kollektivs für experi­mentelle Comics Lab619 und hat in dessen Namen drei Aufenthalte von Künst­ler*innen organisiert (Thema Grenzen-­Migration-Identität). Zusammen mit dem Zeichner Moez Tabia gewann sie 2014 einen Preis auf dem Internationalen Comic-­Festival in Algier. Mit ihrem Ehemann Kamal Zakour gewann sie den Mahmoud Kahil Award in der Kategorie Comicstrip in Beirut und den CairoComix Award in Kairo im Jahr 2018. Mit Lab619 gewann sie zwei CairoComix-Preise für das beste Magazin und einen Mahmoud-Kahil-Ehrenpreis.

bedetheque.com
auteur-65809-BD-Gasmi-Abir.html
@moeztabia

Kamal Zakour
ist ein algerischer Comic-Zeichner und Illustrator, er lebt in Tunis. Er studierte Bildende Kunst in Algier, bevor er eine lange Karriere bei Werb­e­agenturen und Verlagen begann. 2011 arbeitete er an einem kollektiven Comicbuch mit dem Titel Monsters mit.
Seit 2012 arbeitet er als freischaffender Künstler. Er ist Teil des Kollektivs Lab619, in welchem er seit 2016 regelmässig ­mitarbeitet. Zusammen mit seiner Frau, der Drehbuchautorin Abir Gasmi, war er 2017 und 2018 Finalist bei den Mahmoud Kahil Awards, 2018 gewannen sie den Mahmoud Kahil Award in der Kategorie Comic und einen CairoComix Award.

@kamal_zakour