UKRAINE

September 7, 2022 | | No Comments

CHF 10.00

Bohdana Zaiats
Julia Tveritina
Carole Meier alias Melotyca
Yulia Vus
Danyl Shtangeev und Borys Filonenko
Anna Ivanenko und Jenya Polosina
Zhenya Oliinyk
Kosko / Konstantin Sokolovsky
Mariana Mikitiuk
Polina Tyrsa
Kateryna Beizym
Iryna Raikhel


Beschreibung

  • Cover: Yulia Vus
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EDITORIAL

Ukraine

Wir, die wir zuhause sitzen und uns über zu warmen Weisswein, zu weiche Matratzen oder zu auffällige Dreadlocks aufregen, können uns nicht vorstellen, wie es ist, gerade jetzt in der Ukraine zu leben, wo die Menschen damit rechnen müssen, jeden Augenblick von einer russischen Bombe zerfetzt zu werden. Der Krieg durchdringt und beeinflusst das Leben aller Ukrainer*innen, ob sie in Kiew, Lwiw, Cherson oder als Geflüchtete im Ausland leben. Die Sorgen um Angehörige, um die Wohnung, um die Zukunft sind stets präsent, und das seit acht Jahren, seit die russische Armee die Ostukraine, die Krim, und später dann weitere Teile des Landes überfallen hat. Umso beeindruckender ist es, dass Künstle­r*in­nen wie die hier im STRAPAZIN versammelten, weiterhin Comics zeichnen und der Welt zeigen, wie man angesichts eines übermächtigen Aggressors, der sich vorgenommen hat, ihre Welt in Trümmer zu legen, den Lebensmut behält und sich nicht unterkriegen lässt.
Es ist erstaunlich und beschämend, dass viele ukrainische Künstler*innen erst jetzt, wo ihr Land wegen des Krieges in den Medien erwähnt wird, wahrgenommen werden. Wir geben zu, dass auch wir bis vor kurzem kaum wussten, dass in der Ukraine eine höchst lebendige und hochinteressante Illustrations- und Comic-Kultur existiert, die es verdient, entdeckt und einem internationalen Publikum zugänglich gemacht zu werden.
Wir von STRAPAZIN hoffen jedenfalls, dass das Interesse an ihnen und ihren Werken auch nach einem – hoffentlich baldigen – Kriegsende bestehen bleibt und sie im internationalen Comic-Schaffen den Platz einnehmen werden, der ihnen gebührt.
Christoph Schuler

Hier noch eine nicht repräsentative Auswahl interessanter Websites mit Informationen zur Ukraine und zum Krieg:

The Kyiv Independent
Das englischsprachige ukrainische Online-Medium wurde 2021 von ehemaligen Mitarbeiter*innen der Kyiv Post gegründet. Ihr Hauptanliegen ist, „der Ukraine eine weltweite Stimme zu geben“.
kyivindependent.com
@KyivIndependent

Ukraїner ist ein Medienprojekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, das Land und seine Kultur in all seinen Facetten global bekannt zu machen.
ukrainer.net/de

Operator Starsky ist ein ukrainischer Nationalgardist, Blogger und – seine eigene Bezeichnung – Warhipster. Er informiert regelmässig auf sehr persönliche Art von der Kriegsfront und aus dem Hinterland.
youtube.com/c/StarskyUA
twitter.com/StarskyUA
instagram.com/warhipster69

Meduza
Die zweisprachige unabhängige Internet­Zeitung Meduza, gegründet 2014 von der russischen Journalistin Galina Timtschenko, mit Sitz in Riga, Lettland, berichtet in russischer und englischer Sprache.
meduza.io/en

1420
Der junge russische YouTuber Daniil Orain betreibt den Kanal 1420, auf dem er zufälligen Passant*innen alltägliche und oft riskante Fragen stellt, auch zum Krieg in der Ukraine.
youtube.com/c/1420channel

Ukrainische Kunst
vonopaper.com
supportyourart.com
instagram.com/ukrainianmodernism
twitter.com/patsulanastya
twitter.com/ukr_arthistory

Pictoric, eine Gruppe ukrainischer Künstler*innen
instagram.com/pictoric.ua

Kulturelle Organisationen und ihre Projekte
ui.org.ua/en
uaview.ui.org.ua
treasures.ui.org.ua
fantasticadventure.ui.org.ua/start

V. l. n. r.: Serhij Zhadan, Mark Zak, Oksana Sabuschko, Nestor Machno und Juri Andruchowytsch.
Illustration: &5chum1 mit ein bisschen Hilfe von René Magritte und DALL-E von OpenAI

DAS GESCHRIEBENE WORT

Eine ukrainische Wanderung durch meine Bibliothek.

Machnowtschina
Als der Krieg zwischen der Ukraine und Russland losging, dachte ich in meiner 70-jährigen Nai­vität, dass jetzt allüberall die Erinnerungs­maschinen angestellt würden und der Name ­Nestor Machno ganz gross an die Tafel geschrieben würde.
Nestor Machno? Ja, genau, der eigentliche Volksheld der Ukraine. Das ist zwar schon ein paar Jährchen her, ein gutes Jahrhundert sogar; damals ging es um den Sieg der Russischen Revolution. Ein äusserst zweifelhafter Erfolg der autoritären Bolschewiki unter Lenin und Trotzki, des­sen fatale Folgen damals niemand genau absehen konnte. Und was hat der erwähnte Nestor Machno damit zu tun?
Ich gehe an meinen Büchergestellen entlang und schaue nach, wo denn die schmale Abteilung Ukraine steht. Da gibt es ein Buch von einem gewissen Mark Zak mit dem Titel Erinnert euch an mich. Über Nestor Machno.
Nestor Machno, geboren 1888 in der Süd­uk­raine, Kindheit in Armut, geringe Schulbildung, bald aktiver Anarchist im Bund armer Bauern. Deswegen wurde Machno 1910 zum Tode verurteilt, dann aber wegen seiner Jugend zu lebenslänglicher Haft „begnadigt“. Nach der erfolgreichen Februarrevolution 1917 wurde er mit anderen politischen Gefangenen aus dem Moskauer Gefängnis befreit. Er fuhr zurück in die Ukraine, nach Huljajpole, seinem Heimatort.
Zwischen 1917 und 1922 organisierte sich während der Russischen Revolution eine eigenständige autonome Volksbewegung in der Ukraine, Machno war ihr Väterchen. Die Machnowtschina war eine anarchistische Interventionstruppe, deren Vorgehen oft recht gewalttätig war. Doch sie hatte grossen Rückhalt beim sogenannten einfachen Volk, weil dieses so von den alten Herren und Unterdrücker*innen befreit wurde und sich in Arbeiter- und Bauernkommunen einrichten konnte.
Als Revolutionsromantiker stelle ich mir gerne vor, wie der Räuberhauptmann Machno und seine Genoss*innen in Fantasieuniformen und mit wilden Frisuren (siehe die Bilder im erwähnten Buch) durch die ukrainische Prärie jagten, auf von Pferden gezogenen kleinen Wagen, auf die Maschinengewehre montiert waren.
Nachdem mit der entscheidenden Hilfe der Machnowtschina erst die ins Land geholten deutschen Besatzungstruppen, dann die feudalbürgerlichen Herren und Damen und schliesslich die konterrevolutionären Truppen von General Denikin auf dem Territorium der Ukraine besiegt worden waren, sollten sich die wilden Anarchisten in die Rote Armee der Bolschewiki unter Trotzki integrieren. Da gab es selbstverständlich Probleme, denn die freiheitlich-sozialen Umtriebe in der Ukraine waren Lenin & Co. sehr suspekt. Mit aller Gewalt ging man gegen die Machnowtschina vor.
„Der Kommunismus, den wir anstreben, beabsichtigt die Freiheit der Persönlichkeit, Gleichheit, Selbstbestimmung, Eigeninitiative. Wir haben versucht, die Gesellschaft mit gewaltlosen anarchistischen Prinzipien aufzubauen. Aber die Bolschewiki haben es nicht zugelassen. Der Kampf der Ideen verwandelt sich in einen Krieg zwischen den Menschen.“
Das sagte Nestor Machno in seiner Abschiedsrede. Er musste schwer verwundet fliehen und landete mit seiner Frau Galina über Umwege in Paris. Dort starb er 1934 an den Spätfolgen einer Tuberkulose, die er sich im Moskauer Gefängnis geholt hatte.
Mark Zak, Schauspieler und Autor, in der Ukraine geboren, hat für sein Buch eine Menge kurze und längere Texte gesammelt, Biografisches und Zeugnisse von Vertrauten und Feinden, eine gelungene Mischung, die zusammen mit ein paar Fotos ein lebendiges Bild von Machno, seinen Gedanken und Bestrebungen zeichnet.

Daneben steht im Gestell selbstverständlich das Standardwerk von Peter A. Arschinoff, seine ­Geschichte der Machno-Bewegung. Machno lernte Arschinoff im Gefängnis kennen, dieser war sein anarchistischer Lehrer und Gewährsmann. 1923 erschien Arschinoffs Darstellung der Machnowtschina, in der man alle Geschehnisse noch einmal ganz genau nachlesen kann.

Punk in der Ukraine
Und siehe da, nicht weit von Nestor Machno steht in meiner Bibliothek auch ein schmales Suhrkamp-Taschenbuch von einem gewissen Serhij Zhadan mit dem vielversprechenden Titel Anarchy in the UKR, eine Anspielung auf den alten Gassenhauer der Sex Pistols.
„Vergiss die Politik, lies keine Zeitung, hör kein Radio, schlag den Fernseher ein, stell ein Farbportrait von Mao oder Fidel hinein, lass dich nicht verarschen, geh nicht ins Netz, geh nicht wählen, sag Nein zur Demokratie, geh nicht auf Demos, tritt keiner Partei bei, verkauf deine Stimme nicht den Sozialdemokraten, beteilige dich nicht an der Diskussion über das Parlament, sag nicht: Mein Präsident.“
Das steht da genau so auf Seite 57 und ich komme schwerlich umhin, dieses Votum nicht vollumfänglichst gutzuheissen. Der 1974 in der Nähe von Luhansk geborene und in Charkiw aufgewachsene Zhadan hat das 2005 geschrieben. Heute sieht es allerdings etwas anders aus, es sind strube Zeiten und eben hat der Schriftsteller den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen. Ich sage es jetzt trotzdem: War ja klar, dass es dieses Jahr jemand aus der Ukraine treffen würde. Zhadan, der auch schon als „ukrainischer Rimbaud“ bezeichnet worden ist, hat sich gerade letzthin wieder für eine Fortsetzung des Krieges (kein Konflikt, ein Krieg!) eingesetzt. Das kann er machen, aber dass er dafür einen Friedenspreis erhält, das verstört mich schon ein bisschen.
Anarchy in the UKR ist kein Roman im eigentlichen Sinne, sondern zuerst eine Suche nach den Spuren von Nestor Machno in der Ukraine nach 1980. Vor allem aber ist es ein wohl sehr auto­biographischer, wilder Ritt durch eine ukrainische Jugend in Charkiw, eine Erzählung von Revolten, Besäufnissen und Streichen. Es gibt im Buch aber auch viele poetische Bilder der Hoffnung und selbstverständlich ebenso viele poetische Bilder der Hoffnungslosigkeit. Und Punk, ja, Musik spielt eine grosse Rolle.
Hunde im Weltall hiess die Ska-Punk-Band, die Zhadan bei seinen Texten begleitete, mittlerweile heissen sie Zhadan and the Dogs.

Fussball
Auch der Fussball ist in Zhadans Roman eine wichtige Sache, und so kommen wir zu Oksana Sabuschko, die, 1960 geboren, als wichtigste Schriftstellerin der Ukraine gilt. Jedenfalls hat sie eines der schönsten Gedichte über den Fussball geschrieben, das ich kenne. Genau, Fussball: 2012 fand die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine statt. Verdammt lang her. Damals war der 2014 gestürzte Präsident Janukowytsch noch an der Macht. Kann sich noch irgendjemand erinnern? Die Ukraine scheidet früh aus. Spanien schlägt Italien im Final mit 4:0, nachdem die Azzurri mit dem unglaublichen Balotelli die Deutschen rausgehauen haben. Aber das nur nebenbei. Jedenfalls ist dieses Gedicht von Oksana Sabuschko mit dem Titel Die Ballade vom Abseits wirklich wunderbar. Hier ein Auszug, über die mit dem Ball aufs Tor zustürmenden Spieler:

Die Sonnenstachel, die seine Schläfen peinigen,
Die schwarzen Richter, den Geierrat,
Ihre Attacken, die ein Aashauch umweht.
Wo ist sie, die schwebende, schwankende Grenze,
Dieser Schritt ins Nichts, der die Seele zerfetzt?!
Wie Rosen regnete der tosende Beifall.
Und im Pfeifen reisst der Himmel den Rachen auf.

Nachzulesen ist das ganze Gedicht mitsamt 10 anderen Fussballgeschichten von bekannten ukrainischen Autor*innen in der Anthologie Wodka für den Torwart, die zur EM 2012 herauskam. Sie befindet sich selbstverständlich auch in meinem Büchergestell.

Charkiw
„Die Hauptstadt der mythischen Arbeiterukraine blieb sich treu, beeindruckte mit postindustriellen Ruinen in unmittelbarer Bahnhofsnähe: Diese städtische Landschaft musste einfach zur Geburtsstätte von Punk, Poesie der Verzweiflung und proletarischer Melancholie werden.“
Das schreibt Juri Andruchowytsch, ein weiterer grosser Name der ukrainischen Gegenwartsliteratur, über Charkiw, das öfters mal die Hauptstadt der Ukraine war.
Im Klagenfurter Wieser Verlag gibt es eine Reihe von kleinen, hübschen Büchern unter dem Titel Europa erlesen. Das sind Anthologien mit kurzen, prägnanten Texten und Gedichten über europäische Landschaften und Städte, gut zu lesen, originell und informativ. In meinen Büchergestellen stehen die Bücher über Basel, Dublin und Pannonien. Und das über Charkiw/Charkow. Darin wird vom 18. Jahrhundert bis heute berichtet, mit tragischen und komischen Geschichten über eine mir fremde Stadt, in die ich wohl nie reisen werde.

Literaturliste:

Mark Zak: Erinnert euch an mich. Über Nestor Machno.
Edition Nautilus, Hamburg 2018,
184 Seiten, CHF 28.90 / EUR 18

Peter A. Arschinoff: Geschichte der Machno-­Bewegung.
Unrast Verlag, Münster 2021,
276 Seiten, CHF 19.90 / EUR 13

Serhij Zhadan: Anarchy in the UKR.
Edition Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007, 216 Seiten,
CHF 22.90 / EUR 14

Dareg A. Zabarah (Herausgeber): Europa erlesen: Charkiw/Charkow.
Wieser Verlag, Klagenfurt 2018, 256 Seiten, CHF 23.90 / EUR 14,95

Wodka für den Torwart. Elf Fussballgeschichten aus der Ukraine.
Edition fotoTAPETA, Berlin 2012,
208 Seiten, CHF 19.90 / EUR 12,80

 
 

PFLICHT LEKTüRE


Cover-Illustrationen: Melotyca

Nino Bulling: „Abfackeln“

Queeres Medium

Es sei wichtig, den Comic als „queeres Medium zu denken“, sagte Nino Bulling in einem Interview im Kontext seiner Beteiligung an der Documenta fifteen, „und das bedeutet nicht nur, queere Geschichten zu erzählen, sondern das ‚Wie und mit Wem’ der Arbeit und ihrer Verwertungskreisläufe mitzudenken“. Gerade das Medium Comic, so liesse sich ergänzen, ist mit seiner ungleichzeitigen Gegenwart von Text und Bild, dem Prozesshaften des sequenziellen Erzählens und den Leerstellen, die sich aus den Panelzwischenräumen ergeben, prädestiniert für die Offenheit, das nicht Festgelegte queerer Theorie und vor allem queerer Praxis. Mit Abfackeln hat Bulling dieses Potential des Comics in vielerlei Hinsicht genutzt. Unterschiedliche Papiersorten, ein offener Buchrücken, der die Fadenbindung offenlegt, ein unbeschichteter, offener Karton als Frontcover, auf dem schnell Spuren und Abnutzungen sichtbar werden – schon die Aufmachung des Buches trägt das Prozesshafte, nicht Abgeschlossene zur Schau. Die Zeichnungen wiederum wirken locker aufs Papier geworfen, skizzenhaft und flüchtig, sie geben der Geschichte um Ingken und Lily, die in einer offenen Beziehung leben, viel Raum, und dennoch verspürt man beim Lesen keinen Mangel.
„Ich glaube irgendwie nicht, dass ich eine Frau bin“, sagt Ingken zu Beginn des Comics, und die Suche nach diesem „irgendwie“ bestimmt die weitere Handlung. Ihr Umfeld begegnet dieser Suche mit grosser Offenheit und Support. „Du musst erst mal gar nichts tun oder wissen. Mach alles in deinem eigenen Tempo“, sagt ihr Lily, die selbst eine Transition vollzogen hat, in einem Gespräch. Doch für Ingken ist die Suche noch lange nicht abgeschlossen, die Erwartung an sich selbst, sich auf eine Identität festzulegen, das Dazwischen hinter sich zu lassen, entfremdet sie von sich und entfernt sie von Lily. Das Abfackeln, alles niederzubrennen, bleibt fürs erste der Natur überlassen; Feuer in Australien als Folge des Klimawandels spielen ebenso eine Nebenrolle im Comic wie brennendes Gas einer Raffinerie. Ungezähmte Natur und der Raubbau an ihren Ressourcen, die vermeintliche „Natürlichkeit“ von Körpern und Identität und das Überwinden von Körpergrenzen: Die Themen, die Nino Bulling anreisst, hängen alle zusammen. Ebenso wichtig ist es ihm, die politische Dimension seines queeren Ansatzes, die Umstände und Bedingungen der Arbeit und ihrer Verwertungskreisläufe mitzudenken: Teil des Documenta-Projekts, in dem Themen und Charaktere aus ­Abfackeln auf grossen Seidenstoffbahnen weiter­erzählt werden, ist die Gründung einer Gewerkschaft für Comic-Zeichner*innen. So weist der ohnehin schon beeindruckende Comic weit über sich hinaus und entwickelt ein Eigen­leben in der realen Welt.
Jonas Engelmann

Nino Bulling: „Abfackeln“.
Edition Moderne, 160 S.
Softcover, zweifarbig
CHF 30.- /EUR 24

Barbara Yelin/Miriam Libicki/Gilad Seliktar:
„Aber ich lebe. Vier Kinder überleben den Holocaust“

Kinderblicke auf das ­Unfassbare

„Ich erinnere mich, dass wir stundenlang stehen mussten. Und dann fiel meine Mutter um.“ Die fünfjährige Emmie Arbel hat angesichts des Grauens, das über sie hereingebrochen ist, nachdem sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder aus den Niederlanden in das KZ Ravensbrück deportiert wurde, die Möglichkeit verloren zu weinen, zu schreien, zu sprechen. „Weisst du, sogar als Kind lernt man schnell, wie man überlebt. Ich wusste, ich musste stehen bleiben.“ Ohne Mund und mit ausdruckslosen Augen zeichnet Barbara Yelin das Mädchen, das mit unzähligen anderen regungslos beim Appell stehen muss; ihre Stimme hat Emmie Arbel erst viele Jahre später wiedergefunden. „Ich durfte mich nicht rühren. Denn ich wusste, wenn ich zu ihr gehe, erschiessen sie mich. Also stand ich.“ Es ist dies eine der eindrücklichsten Sequenzen in Yelins Beitrag zu Aber ich lebe, einem von der kanadischen Holocaust-Forscherin Charlotte Schallié initiierten Comic-Projekt über die Biografien von vier Kindern, die den Holocaust überlebt haben. Neben Yelin hat die kanadische Zeichnerin Miriam Libicki den 1931 in der Bukowina geborenen David Schaffer porträtiert, und der Israeli Gilad Seliktar die Erinnerungen der Brüder Nico und Rolf Kamp in einen Comic übersetzt. Die drei unterschiedlichen Zugänge und Stile geben den Überlebenden je eine eigene Stimme und den Biografien je eine eigene Stimmung. Gemeinsam ist allen drei Geschichten, dass der Prozess des Erinnerns wie auch die Entstehung der Comics zu einem Teil der Erzählung geworden sind, Gegenwart und Vergangenheit ebenso in einen Dialog miteinander treten wie Zeichner*innen und ­Zeu­g*innen der Shoah, wodurch man auch als Le­ser*in sehr unmittelbar vom Erlebten angesprochen wird; es sind reale Personen der Gegenwart, die miteinander sprechen und versuchen, eine Form des Umgangs mit der Vergangenheit zu finden, die Zeichner*innen auf der ästhetischen Ebene, die Überlebenden auf einer sehr persönlichen.
Während Yelin damit konfrontiert war, Bilder für das Sterben in den deutschen Konzentrationslagern zu finden, was sie in stummen, düsteren Panels der Sprachlosigkeit umsetzt, ist es bei Miriam Libicki der Kinderblick auf das Unbegreifliche, das erzwungene frühe Erwachsenwerden von David Schaffer, das sich in einer Ästhetik spiegelt, die an Kinderbuchillustrationen erinnert und dadurch den Kontrast zwischen Form und Inhalt umso grösser erscheinen lässt. Gilad Seliktar wiederum hat sich auf die Gegenwart der beiden in Amsterdam lebenden Brüder konzentriert, darauf, wie sehr die Vergangenheit bis heute ihre Leben bestimmt. Jede der drei Geschichten ist auf ihre Weise so beeindruckend wie behutsam umgesetzt, und sie alle leisten einen wichtigen Beitrag dazu, das Erinnern an das Unvorstellbare wachzuhalten.
Jonas Engelmann

Barbara Yelin/Miriam Libicki/Gilad Seliktar:
„Aber ich lebe. Vier Kinder überleben den Holocaust“.
C.H. Beck, 176 S.
Hardcover, farbig
CHF 39,90 /EUR 25

Daniela Heller: «Pfostenloch»

Müll und Löcher

Fun Fact: „Majestät, nichts ist eben dauerhafter als ein ordentliches Loch“, soll der Archäologe Carl Schuchhardt einst zu Kaiser Wilhelm dem Zweiten gesagt haben. Tatsächlich seien, erfahren wir in Pfostenloch, Löcher die langlebigsten zivilisatorischen Spuren, genauer: die Löcher, in denen die Pfosten menschlicher Behausungen steckten. An solchen Löchern orientieren sich Archäo­log*innen bei ihren Ausgrabungen – und auch am allgegenwärtigen Müll, den die Menschen hinterlassen.
An den Spuren solcher Pfostenlöcher arbeiten sich die jungen Archäolog*innen in Daniela Hellers Pfostenloch ab. Bei Regen und Hitze, bewaffnet mit kleinen Schaufeln, Rechen, Kellen und Pinseln sitzen und knien sie in ihren Gräben, buddeln, kratzen, putzen. Ihre Träume sind gross, vergleichsweise bescheiden und unspektakulär jedoch ist die tatsächliche Ausbeute.
Die Ausgrabungsstätte, die die Bühne von Pfostenloch, Daniela Hellers Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Kassel, darstellt, ist realistisch und glaubhaft beschrieben. Die Zelte sind eng, die Mahlzeiten einfach und eintönig, die Duschen weit entfernt. Daniela Heller kennt diese Situation bestens: Vor ihrem Studium der visuellen Kommunikation hat sie sieben Jahre lang urgeschichtliche Archäologie studiert.
Die Inszenierung des isolierten Alltags dieser kleinen Truppe von Nachwuchs­archäo­­­­log*innen kurz vor oder nach Studienabschluss ­gelingt Daniela Heller dementsprechend über­zeugend. Die Dialoge sind von bestechender Natürlichkeit, und ebenso ungekünstelt und mit subtilem Humor schildert Heller die kleinen Spannungen und Intrigen, Machtspiele und Eifersüchteleien, Träume und Ernüchterungen und setzt ihr Stück mit einem passenden, leichten und karikierenden Strich um.
Pfostenloch, das am Internationalen Comic-Salon Erlangen mit dem Max-und-Moritz-Preis für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet wurde, besticht durch die Beiläufigkeit, Treffsicherheit und Genauigkeit, mit der Heller die Generation Praktikum und ihre unsichere Zukunft auf eine provinzielle Ausgrabungsstätte herunterbricht.
Christian Gasser

Daniela Heller: «Pfostenloch».
Avant-Verlag, 128 S.
Softcover, farbig
CHF 36.90 / EUR 24

Suehiro Maruo: «Midori – Das Kamelienmädchen» und «Der lachende Vampir»

Freak Show aus der Hölle

Midori, eine Waise, arbeitet in einer Freak Show, die durch Japan tingelt. Sie empfindet die Truppe von körperlich und mental beeinträchtigten, von einem autoritären Zirkusdirektor ausgebeuteten und dem Voyeurismus des Publikums ausgesetzten Aussenseiter*innen als Hölle. Mit dem kleinwüchsigen Schlangenmenschen Masamitsu wagt sie die Flucht, die sie aber bald bereut. Für Midori – das Kamelienmädchen greift Suehiro Maruo auf eine japanische Legende zurück und gestaltet sie zu einer surrealen und morbiden Fabel über Schönheit und Monstrosität aus.
Der 1956 geborene Suehiro Maruo ist ein unbestrittener Meister des japanischen Horrors. Viele seiner wichtigsten Arbeiten erschienen im legendären Magazin Garo und seinem Nachfolger AX. Im Gegensatz zu den meisten zeitgenössischen Mangaka orientiert sich Maruo ausdrücklich an der Vergangenheit, inhaltlich wie künstlerisch. Sein Bezug zur japanischen Tradition des Holzschnitts, speziell auch zu den Traditionen von Pornographie, Gewalt und Grotesken, zu Shunga und Ero-Guro, ist unübersehbar.
Auch inhaltlich bewegt sich Maruo in ande­ren Zeiträumen. In vielen Geschichten beschäftigt er sich geradezu obsessiv mit dem imperialen Japan in der ersten Hälfte des 20. Jahr­hunderts, mit Kaisertum, Militärdiktatur und Faschismus, mit den japanischen Männlichkeits- und Heldenkulten, mit der Faszination für Ordnung, Zucht und Uniformen. Maruos Nostalgie für diese in Japan nur selten kritisch aufgearbei­tete Vergangenheit ist in ihrer Ambivalenz verstörend.
Visuell hat Maruo eine geradezu beängstigende, unmenschliche Perfektion erreicht. Zeichnungen, Seitengestaltung, Panel-Layout, Bilderfluss sind von stupender Virtuosität; man staunt über die Schönheit der Bilder, taucht ein in die dichten Atmosphären seiner Stories – und übersieht manchmal, wie viele Tabus seine Tableaus brechen. Angesichts ihres historischen Subtextes und der expliziten Darstellungen von Gewalt, Pornographie und anderen Perversionen ist es indes unmöglich, Maruos Mangas ohne ein Gefühl von Unbehagen zu lesen. Gleichzeitig sind sie ihrer unbestreitbaren Qualitäten wegen zutiefst faszinierend. Das gilt besonders für seinen wohl erfolgreichsten Manga, den zweibändigen Der lachende Vampir, den Reprodukt achtzehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung erneut vorlegt.
In Der lachende Vampir verknüpft Maruo einen Horror-Dauerbrenner mit japanischen Legenden zum tiefschwarzen Sittengemälde einer orientierungslosen Jugend, die zwischen den Regeln der Erwachsenenwelt und den Versuchungen, dem Blutrausch, den Drogen und sexuellen Perversionen aufgerieben wird.
Maruos Haltung seinen Protagonist*innen gegenüber ist durchaus moralisch, doch setzt er ihr Verhalten derart tabulos um, dass der „Ab 18“-Sticker für einmal berechtigt ist.
Christian Gasser

Suehiro Maruo: «Midori – Das Kamelienmädchen».
Aus dem Japanischen von Claudia Peter
Reprodukt-Verlag, 160 S.
Soft­cover, s/w und zweifarbig
CHF 31.90 / EUR 20

Suehiro Maruo: «Der lachende Vampir».
Aus dem Japanischen von Claudia Peter
Reprodukt-Verlag, 240 S.
Softcover, s/w und zweifarbig
CHF 36.90 / EUR 24


Jim Bishop: «Die verlorenen Briefe»

Tode im Paradies

Über Jim Bishops Graphic Novel Die verlorenen Briefe lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass ihr Abschluss auf Messers Schneide stand; leicht gefallen ist Julien Bicheux (*1985) – Jim Bishop ist sein Pseudonym – das Debüt-Album jedenfalls nicht. 2018 brach er die Arbeit ab – sie habe ihn zu viel Lebenszeit gekostet. Erst 2020 machte er weiter. Herausgekommen ist ein herrlich diskutables Album. Viel fehlte nicht und Die verlorenen Briefe wäre misslungen. Selten klafften Zeichnung und Geschichte in einem Comic so weit auseinander. Eine traumhafte Sonneninsel, eingetaucht in liebliche Farben und gezeichnet im kinderfreundlichen «Heidi»-Stil des japanischen Anime-Studios Ghibli kontrastieren aufs Schärfste mit den Themen Meeresverschmutzung, illegaler Ressourcenhandel, polizeiliche Korruption, Streit in der Familie und Tod.
Was zunächst wie ein Widerspruch erscheint, entwickelt im Laufe des Lesens einen starken Sog; es ist eine seltsame Welt, in der die Hauptfigur Iode Sea lebt, die an den kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry erinnert. Auf seiner Insel leben Mensch und Fisch zusammen, dank einer von Iodes Vater entwickelten Technik können die Fische an Land atmen und sprechen. Die Wesen dieser Insel sind so wunderlich und kauzig, dass sie einem bald ans Herzen wachsen.
Auf der Suche nach einem Brief seiner Mutter werden ein tollpatschiger Fisch-Polizist und Frangine Iodes Weggefährt*innen. Frangine entpuppt sich als Kurierin von Kriminellen, deren Boss eine Krake namens Howard Phillips ist – eine Andeutung an den fantastischen Schriftsteller H.P. Lovecraft, in dessen Cthulhu-Mythos ein krakenartiges Wesen eine Schlüsselrolle spielt. Sie finden den Brief und besiegen die Kriminellen. Doch das ist nebensächlich, als Iode erfährt, dass seine Mutter an Krebs starb, und sich Frangine später das Leben nimmt.
Dass Graphic Novels ernste Themen wie Krankheit, Tod und Verlust der Eltern und Freunde aufgreifen, ist nicht neu. Viele Autor*innen fokussieren dabei ganz auf Krankheit, Tod oder Suizid und schildern Leben und Denken der Betroffenen über ein ganzes Album. Bishop hingegen konzentriert den Schmerz auf wenige Stellen. Das hat einen verstärkenden Effekt, weil man den Schmerz umso intensiver mitfühlt. Die beiden Briefe, in denen sich Mutter und Frangine an Iode wenden, gehören wohl zu den bewegendsten Briefen in der Geschichte des Comics, was nicht allein an der Wortwahl liegt, sondern daran, wie sehr es einen überrascht, dass der Tod in diesem Setting eine so intensive Rolle spielt. Das kommt unerwartet und passt doch in die Gegenwart, in der unsere lange Zeit so heile Welt ins Wanken kommt.
Florian Meyer

Jim Bishop: «Die verlorenen Briefe».
Cross Cult, 208 S.
Hardcover, farbig
CHF 44.90 / EUR 30

Tina Brenneisen: «True Stories - Mari Luis erzählt»

Erfundene Wahrheit

Lügengeschichten haben ihren eigenen Reiz. Sei es, dass sie wie bei Baron Münchhausen das physikalisch oder biologisch Mögliche ins Absurde drehen, oder sei es, dass sie wie bei Martin Walser die öffentlichen und verborgenen Schichten der Wirklichkeit spiegeln und scheinbar Selbstverständliches entlarven.
True Stories der deutschen Comic-Zeichnerin Tina Brenneisen fügt sich in diese Tradition absurder Geschichten ein, die uns nach dem Wahrheitsgehalt fragen lassen. Ihrem Anspruch nach bilden sie einen schrägen Diskurskommentar zu den überdrehten Diskursen unserer Zeit. Das ist vom Ansatz her hochinteressant. Mit leichter Feder streift Brenneisen grosse, gesellschaftliche Themen der Gegenwart wie Geschlechterverhältnisse und öffentliche Moral, Klimawandel und demokratische Entscheidungen, oder auch Waffengewalt und Sühne. Wer nun ein realistisches Konzeptalbum erwartet, ist auf der falschen Fährte. Brenneisen wählt einen anderen Weg, den der Parabel.
Pfiffig und unverblümt rollt sie die Diskurse in Form dreier gleichnishafter Geschichten auf – und der Spass, den sie beim Zeichnen hatte, ist auf jeder Seite zu spüren. Besonders gelungen ist die Geschichte der Nomaden, die im hohen Norden jedes Mal weiterziehen, wenn eine Eisscholle schmilzt. Die Grösse der Scholle prägt die Staatsform – je grösser sie ist, umso demokratischer fällt die Entscheidung zum Weiterziehen, weil mehr Zeit zum Diskutieren bleibt. Je kleiner die Eisscholle, umso rauer der Umgangston und umso autoritärer der Staat, weil Zeit und Ressourcen knapp werden.
Nicht jede Geschichte gelingt gleich gut. Die Parabel, weshalb Frauen Kleider tragen, die den ganzen Körper verhüllen, wirkt eher so, als hätte sie ein vom Genderdiskurs brüskierter Mann erfunden. Schliesslich schildert Tina eine Welt von Menschen, die nicht auf der grossen Bühne zuhause sind. Die Hauptfigur der Rahmenhandlung, Marie Luis, ist eine einfache Frau. Verlaust und vereinsamt, erzählt sie virtuos vom grossen Abenteuer auf hoher See, obwohl sie in Wirklichkeit vor allem in der Eckkneipe auf den Wellen des Alkohols schaukelt. Sie ist eine Lügnerin vor dem Herrn – jedoch eine, die dreisten Charme mit frechem Verstand verbindet und eine Haltung vorlebt, die man im Jiddischen Chuzpe nennt.
Erschienen ist True Stories – Marie Luis erzählt in Brenneisens Verlag Parallelallee. Dieser setzt vor allem auf verspielte, spontane und lebendig erzählte Comics aus dem spanisch-portugiesischen Sprachraum. True Stories ist ein Album, das den Weg für neue Formate im Comic ebnen kann, auch wenn es inhaltlich nicht ganz so tiefgründig ist wie Tinas frühere Werke.
Florian Meyer

Tina Brenneisen: «True Stories – Mari Luis erzählt».
Parallelallee, 96 S.
Softcover, farbig
CHF 28.90 / EUR 19

De Radiguès, Mannaert: „Weegee – Serial Photographer“

Der Fotograf als Hellseher

Arthur Fellig alias Weegee, geboren 1899 in Lwiw/Lemberg, in der heutigen Ukraine, gestorben 1968 in New York, ist als kühl berechnender Fotograf blutiger Tatorte in die Geschichte der Fotografie eingegangen. Nach Anfängen als Assistent anderer Fotografen, nahm er bald selbst die Kamera zur Hand und wurde in den 1930er- und 1940er-Jahren als Pressefotograf bekannt, spezialisiert auf Gewaltverbrechen, Unfälle, Brände und andere Katastrophen. Bald munkelte man, Fellig könne hellsehen, da seine Fotos als erste bei den Zeitungen eintrafen. Von daher stammt sein Spitzname „Weegee“ – inspiriert vom sogenannten Ouija-Brettspiel, mit dem Kontakt mit Verstorbenen hergestellt oder die Zukunft vorhergesagt werden soll. In den USA damals wie heute ein beliebter Zeitvertreib.
Wauter Mannaert und Max de Radiguès erzählen von dem umtriebigen Mann mit dem grossen Selbstbewusstsein und dem ebenso grossen Ehrgeiz in angemessen düsteren und rauen Schwarzweiss-Zeichnungen, die uns in die Szenerie eines Film noir hineinziehen. Wir sehen, wie Weegee mittels bester Kontakte und Polizeifunk stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist (so viel zu seiner Hellseherei), wie er dann wieder unruhig wartet, bis der nächste Einsatz ansteht. Das Warten vertreibt sich der einsame Single mit Alkohol und Prostituierten. Ist er dann am Tatort, arrangiert er das Vorgefundene auch gerne nach Gutdünken um. Weegee, der seine Fotos dank mitgeführter Dunkelkammer und Schreibmaschine sofort zu fertigen Pressebildern macht, möchte aber auch in der High Society und der Kunstwelt anerkannt sein. Sein erster Bildband Naked City mit dokumentarischen Bildern von den Strassen New Yorks soll es richten und ihn gleichzeitig von seinen morbiden Albträumen befreien. Doch die Anerkennung ist nur von kurzer Dauer, und die Strasse bleibt sein Arbeitsplatz. Weegee – Serial Photographer fängt die Überheblichkeit, die Rastlosigkeit und die Kaltschnäuzigkeit des inzwischen auch in der Kunstwelt anerkannten Fotografen gut ein und entführt die Leser*innen ins raue New Yorker der damaligen Zeit.
Christian Meyer-Pröpstl

De Radiguès, Mannaert: „Weegee – Serial Photographer“.
Reprodukt, 144 S.
Hardcover, s/w
CHF 31.90 / EUR 20

Luz: „Vernon Subutex 1“

Subutex in Text und Bild

„Für mich bedeutet eine gute Adaption, dass man den Text respektiert, ihn in einem unerwarteten Moment bricht und ihn vor allem nicht illustriert“, sagt der Zeichner Luz, der den unglaublich erfolgreichen dreibändigen Roman Vernon Subutex von Virginie Despentes als Comic umsetzt. Nun liegt der erste der auf zwei Bände angelegten Adaption auf Deutsch vor. Erzählt wird die Geschichte des ehemaligen Plattenladenbesitzers Vernon Subu­tex, der gerne mit seinen Kumpels stundenlang über Rockmusik und Gitarrensoli fachsimpelt. Doch die Kumpels sterben weg, den Laden muss er als Folge der Digitalisierung schliesslich auch dichtmachen. Als auch sein letzter finanzkräftiger Kumpel, der Musiker Alex Bleach im Drogenrausch stirbt, muss Vernon schliesslich seine ­Wohnung räumen. Sein Adressbuch plündernd, tingelt er als Couch-Surfer von einem Sofa eines ehemaligen Wegbegleiters zum nächsten. Dabei lernt er die ganze Bandbreite der gegenwärtigen (französischen) Gesellschaft zwischen Islamismusdebatte und Neuer Rechten kennen – und die Leser*innen mit ihm.
Luz war von 1992 bis kurz nach dem tödlichen Anschlag auf die Redaktion im Jahr 2015 Charlie Hebdo-Mitarbeiter. Das Attentat hat er nur überlebt, weil er verschlafen hatte, es war sein Geburtstag. Mit seinem Comic Katharsis hat er sich aus dem Trauma gezeichnet und mit Wir waren Charlie seiner Zeitung und seinen Kolleg*innen ein Denkmal gesetzt. Nun hat er wieder den Blick frei für – alles! Luz schöpft zeichnerisch wie erzählerisch aus dem Vollen, um das Leben und die Gesellschaft in all ihrer Bandbreite vor uns auferstehen zu lassen und uns tief in seine Bildwelt hineinzuziehen, die die erzählerischen Möglichkeiten des Comics voll auskostet. Wie er hier Zeitraffer, Zeitsprünge und Ortswechsel visuell gestaltet oder die Tonalität zwischen Humor und Ernsthaftigkeit auslotet, zeugt von grosser Meisterschaft.
Christian Meyer-Pröpstl

Luz: „Vernon Subutex 1“.
Reprodukt, 304 S.
Softcover, farbig
CHF 54.90 / EUR 39


Kate Schneider: «Headland»

Empathie!

Meine Mutter starb im Jahr 2020 im Alter von 78 Jahren, sie hatte die meiste Zeit ihrer letzten Jahre den Lebensstil einer viel jüngeren Frau geführt – unabhängig, gesund (sie behielt ihr ganzes Leben lang ihr Gewicht und ihre Kleidergrösse aus der Zeit vor der Geburt ihrer Kinder), fit (sie ging jeden Tag mehrere Kilometer zu Fuss und machte leidenschaftlich gern Yoga) und lebensfroh. Der plötzliche Verlust ihres ebenso gesunden und dynamischen Ehemanns, meines Vaters, ein Jahrzehnt zuvor war für sie ein schwerer Schlag (wie auch für mich und meinen Bruder), aber sie machte mit Kraft und Humor weiter. Sie liebte Musik und Filme, las viel, trank Tee mit Freund*innen und sammelte Muscheln am Strand in Florida. Als sie 75 Jahre alt war, wurde sie von einer katastrophalen doppelten Lungenentzündung heimgesucht, weshalb sie schliesslich in ein Pflegeheim musste, wo sie zu Anfang der Pandemie verstarb. Bei meinem letzten Besuch durfte ich sie nur durch ein Fenster sehen, denn selbst Angehörige durften das Heim nicht betreten.
Ich erzähle dies, weil ich noch immer mit der Verarbeitung ihres Todes und meinem Verlust beschäftigt bin. Ich denke, wir verbringen den Rest unseres Lebens damit, über den Tod derer, die wir lieben, hinwegzukommen. Wann immer andere uns am meisten brauchen, sind wir nicht genug an ihrer Seite. Die Begleitumstände ihrer Krankheiten und letztlich ihr Tod drehen sich stets zu sehr um uns, nicht um sie. Es fehlt uns an Einfühlungsvermögen, obwohl es genau das ist, was die anderen am meisten von uns wollen und brauchen. Da wir im Umgang mit solchen Ex­tremsituationen nicht geübt sind, wissen wir oft nicht, was wir tun oder wie wir uns verhalten ­sollen.
Kate Schneiders Headland, ihre bemerkenswerte erste Graphic Novel, füllt dieses Empathie-Vakuum auf leise und schöne Weise aus. Ruth, ein älteres Schlaganfallopfer, ist an ein Krankenhausbett gefesselt; wir, die Leser*innen, sehen sie in ihrem Zimmer (in Begleitung von Pfleger*innen und ihrer Tochter), aber weite Teile des Buches sehen wir durch ihre Augen – als verschwommene Wahrnehmungen, lebhafte Träume, ihr unmittelbares Bewusstsein. Ruths Tochter ist unangenehmerweise genauso hilflos, wie wir es wären: Sie weiss nicht, was sie ihrer Mutter sagen soll, und ist vom normalen Leben ausserhalb des Krankenhauses abgelenkt – am einprägsamsten einprägsamsten als Person am Telefon ausserhalb des Zimmers. Ruths Begleiter auf ihren Traumreisen, eine bunte, sprechende Schildkröte, bietet das Einfühlungsvermögen und die Authentizität, die Ruth von ihren lebenden menschlichen Begleitern nicht bekommen kann.
Headland ist weniger eine Erzählung als vielmehr eine Erkundung von Gefühlen, von Einsamkeit, Angst vor Isolation, dem Wunsch nach Würde, dem Wunder des Bewusstseins und der Fantasie. In dieser Hinsicht ist es auch eine Erinnerung daran, dass Comics Dinge darstellen können, wie dies kein anderes Medium kann – Headland würde als Roman oder Film nicht funktionieren. Schneiders Stil ist elegant minimalistisch: schwarzweisse Graphitzeichnungen mit überraschenden Farbspritzern zur Betonung von Empfindungen und Wahrnehmungen. Der Stil erinnert mich an zwei meiner Lieblings-Cartoonist*innen, Raymond Briggs und Aidan Koch, die wie Schneider in gewisser Weise Anti-Cartoonist*innen zu sein scheinen und sich von der traditionellen Grammatik und Syntax des Comics befreien.
Headland ist eine ganz besondere Graphic Novel. Ich würde sie im Regal neben zwei andere bemerkenswerte Werke stellen, Jean-Dominique Baubys Buch mit dem deutschen Titel Schmetterling und Taucherglocke (Zsolnay), das er nach ­einem schweren Schlaganfall Buchstabe um Buchstabe mittels Blinzeln diktierte, bzw. Paul Hardings kühnes Tinkers, eine komplexe Fami­liengeschichte, die der Erzähler auf dem Sterbebett erzählt/erlebt. Diese Bücher sind Korrektive für eine moderne Welt, der es ganz furchtbar an Empathie mangelt. Headland richtet uns neu aus und erinnert uns daran, dass jeder von uns ein riesiges und grossartiges Universum in seinem Kopf hat, so kurz und flüchtig unsere Zeit in diesem Leben auch sein mag.
Mark David Nevins

Kate Schneider: «Headland».
In englischer Sprache
Fantagraphics Books, 2022, 184 S.
Softcover, farbig
CHF 41.90 / EUR 25,99

Josephine Mark: „Trip mit Tropf“

Hase, Wolf und Krebs

Seitdem Pandora Zeus’ Büchse öffnete, gibt es Tod und Krankheit auf der Welt. Und seit jeher werden die Themen Krankheit und Tod in der Kunst verarbeitet. Spätestens als der Comic auch seriöse Themen zu behandeln beginnt, finden sie auch Einzug in die Bildergeschichten. Will Eisners Graphic Novels über das jüdische Leben in New York ist von tödlichen Schicksalsschlägen gekennzeichnet. In My Cancer Year beschreibt Comic-Autor Harvey Pekar schmerzhaft minutiös den Verlauf seiner Krebserkrankung und die jeweilige Behandlung. Sogar ein beinahe unsterblicher Übermensch wie Superman entkommt in Grant Morrisons und Frank Quitelys All Star Superman nicht der Krankheit. Bilderbücher wie Opas Insel (Benji Davis) oder Ente, Tod und Tulpe (Wolf Erlbruch) behandeln den Tod kindergerecht.
Josephine Mark, deutsche Autorin und diesjährige Max und Moritz-Preisträgerin für den besten Kindercomic, hat kürzlich gleich zwei Geschichten zum Thema veröffentlicht. Murr handelt vom eiskalten Revolverhelden Murphy, der die Angst vor dem Tod entdeckt. In Trip mit Tropf ist ein krebskranker Hase der Protagonist. Der rettet per Zufall einem Wolf das Leben und fortan kümmert sich der Wolf um den kranken Hasen. So will es der Wolfskodex. Zuerst widerwillig, dann immer fürsorglicher hilft Wolf dem Hasen mit seinen lebensrettenden Infusionen und der meterlangen Medikamentenliste. Auf einer wahnwitzigen Flucht vor einem Jäger geraten die beiden während eines wilden Roadtrips in Schlägereien, düstere Motels und Bärenhöhlen. Doch viel grösser ist die Angst vor dem Ausgang der Krebstherapie. Mark setzt sich mit dem Thema Krankheit liebevoll humoristisch auseinander. Ebenso herzlich sind die anthropomorphen Hauptfiguren gezeichnet, deren immer stärkere Bindung oft auch ohne Worte der Leserschaft gezeigt wird. Krankheit heisst nicht nur Tod, sondern auch neue Wege, die man nehmen muss oder kann. Josephine Mark, die vor ein paar Jahren selber eine Krebsdiagnose erhielt, beschreibt die Krankheit als Erweiterung der Beziehung mit anderen Menschen.
Nur die Hoffnung blieb einst in Pandoras Büchse gefangen, als daraus alles Schlechte entwich. In Trip mit Tropf kann sie sich in Form der Freundschaft zwischen zwei gegensätzlichen Lebewesen entfalten, die Hoffnung auf einen Neuanfang.
Giovanni Peduto

Josephine Mark: „Trip mit Tropf“.
Kibitz Verlag, Hamburg 2022, 192 S.
Hardcover, farbig
CHF 31.90 / EUR 20

Douglas Wolk: “All of the Marvels: A Journey to the Ends of the Biggest Story Ever Told”

Unendliche Geschichten

Hätte der Marvel Verlag alle seine geplanten Filmprojekte realisiert, wäre das Marvel Cinematic Universe (MCU) bereits in den 1980ern entstanden. Doch Filme wie Black Panther mit Wesley Snipes, Brigitte Nielsen als She-Hulk oder Dr. Strange unter der möglichen Regie von Francis Ford Coppola(!) wurden nie umgesetzt. Mit wenig Erfolg erschienen hingegen Howard the Duck (1986), The Punisher (1989) und Captain America (1990). All dies wird auf wenigen Seiten von Douglas Wolks Buch All of the Marvels zusammengefasst. Doch eigentlich sind nicht die Verfilmungen das Thema, sondern die über 27 000 Comichefte, die Marvel seit 1961 publiziert und die Wolk alle gelesen hat. Spannend und unterhaltsam verfolgt der Autor ohne jegliche Chronologie, sondern nach Lust und Interesse die Reise einzelner Figuren und deren eventuelle Wandlungen. Er stellt Verknüpfungspunkte zwischen den Anfängen und den heutigen Geschichten her, beschreibt einige der spannendsten und innovativsten Geschichtszyklen, befasst sich kritisch mit der (fehlenden) Vertretung nichtweisser Ethnien und gibt einen grossartigen Einblick hinter die Kulissen des wohl längsten Märchens der Welt. Er setzt sich mit der besonderen Geschichte der Superhelden-Gruppe Fantastic Four auseinander und analysiert, wieso einige der bekanntesten Marvel-Figuren sowohl im Comic als auch im Film immer wieder erfolglos waren. Oder wie die Saga von Spider-Man erst mit der kürzlich eingeführten diversifizierten Spinnen-Alternative des jungen Miles Morales mit afro/latino-amerikanischen Wurzeln endlich das seit den 1960ern bestehende Erzählmuster durchbricht. Kein Zufall, dass der Animationsfilm Into the Spider Verse mit eben dieser Figur als einer der besten Verfilmungen gilt. Wolks Errungenschaft ist nicht nur, dass er die unglaubliche Reise durch mehr als 60 Jahre Marvel auf sich genommen hat (einige Lektüren müssen zermürbend gewesen sein), er vermittelt auch essentielle Erkenntnisse der Leserschaft und stellt spannende Verknüpfungen her. Das Buch ist sowohl für Comic-Aficionados als auch für Fans, die Nachhilfen bei den MCU-Filmen benötigen, unentbehrlich.
Giovanni Peduto

Douglas Wolk: “All of the Marvels: A Journey to the Ends of the Biggest Story Ever Told”
Penguin, 384 S.
Hardcover
CHF 38.90 / EUR 23,99

Einar Turkowski: „Die Geheimnisse von Pinewood Hill“

Magische Fantasie

Ein Filmemacher blickt auf seine Jugendzeit zurück, als er frisch mit seiner Familie nach Pinewood Hill gezogen war, und per Fahrrad die verschlungenen Pfade des Hügels mit den Filmstu­dios erkundete. Für Chaska eröffnete sich eine neue Form der Freiheit und Unabhängigkeit und gleichzeitig tauchte er in eine ihm bisher verborgene surreale Welt ein, in der Realität und Fantasie beängstigende, zum Teil sogar bedrohliche Formen annahmen. Erst als sein älterer Bruder Vince ihm zur Seite steht, kann er sich den Pinewood Hills öffnen, und erhält von Vince schliesslich auch den entscheidenden Ratschlag für seine spätere Berufung. Chaska konzentriert sich von nun an nicht mehr auf seine Ängste, sondern vielmehr auf seine Stärken, seine Fantasie, und verliert die Angst vor seiner Vorstellungskraft. Wie Vince sagt: „Sie macht dich zu einem Magier.“ ­Einar Turkowskis hyperrealistische, detailreiche Bleistiftzeichnungen faszinieren im ersten ­Moment aufgrund der technischen Raffinesse. Durch die Verbindung mit fantastischen und somnambulen Elementen erhalten sie ihre ganz besondere Ausstrahlung, wie die Bilder der Surrealisten, bei denen Realität und Traum selbstverständlich nebeneinander existieren. Durch diesen Kunstgriff gelingt es Turkowski, die Gedankenwelt des Jugendlichen Chaska bildstark zu transportieren, so dass man das Buch am liebsten ganz ohne Worte betrachten würde. Die Geheimnisse von Pinewood Hill ist ein bildgewaltiges Buch, dessen Querformat eine Reminiszenz an die Formate der Kinoleinwände ist, und ein Plädoyer für die Kraft der Fantasie.
Matthias Schneider

Einar Turkowski: „Die Geheimnisse von Pinewood Hill“.
Kunstanstifter Verlag, 40 S.
Hardcover, Sonderfarben
CHF 41.90 / EUR 28


Andreas Steinhöfel, Melanie Garanin: „Völlig Meschugge?!“

Meschugge

Andreas Steinhöfel ist einer der erfolgreichsten Kinderbuchautoren Deutschlands, der mit Rico und Oskar eine der aussergewöhnlichsten Kinderbuchreihen geschaffen hat, über einen hoch- und einen minderbegabten Jungen, die abstruse Abenteuer in Berlin erleben. Melanie Garanin hat nun Steinhöfels Serie Völlig Meschugge?!, die er für den KiKa-Kanal entwickelt hat und die verfilmt wurde, als Comic adaptiert. Auch hier greift Steinhöfel Themen auf, die im – leider immer noch viel zu sehr pädagogisch ausgerichteten – Kinderbuchmarkt selten behandelt werden, nämlich Mobbing, Antisemitismus und Rassismus. Benny, Hamid und Charlie sind dickste Freunde und besuchen die gleiche Schule. Auch wenn sich die beiden Jungs über Charlies Umweltaktivismus lustig machen, könnte man meinen, dass kein Blatt zwischen die drei passt. Doch als Bennys Grossvater stirbt und er eine Kette mit einem Davidstern erbt, die er von nun an trägt, wird das Trio auf eine harte Probe gestellt. Hamid ist 2015 als Flüchtlingskind aus Syrien gekommen und ist von Vorurteilen gegenüber Juden geprägt, die in der arabischen Welt weit verbreitet sind. Als dann auch noch ein Hakenkreuz auf die Schultafel gemalt wird, weiss Benny gar nicht mehr, wie ihm geschieht. Steinhöfel gelingt es trotz der schwierigen und hochbrisanten Themen eine einfühlsame und vielschichtige Geschichte zu erzählen, gepaart mit seinem unvergleichlichen Humor. Und Melanie Garanin hat mit einem leichten und erfrischenden Strich die Story in einen mitreissenden Comic umgesetzt, der Laune macht, und der sich hervorragend dazu eignet, ihn als Erwachsener mit oder ohne Kinder zu lesen. Wer die Fernsehserie kennt, sollte auch den Comic lesen, denn während die Serie eher aus der Sicht von Hamid erzählt wird, übernimmt der Comic die neutrale Perspektive Charlies, die zwischen die Fronten gerät und ihr bestes gibt, um zu vermitteln. Die Zeit ist reif für Comics wie Völlig Meschugge?!, die sich mutig und differenziert mit politischen Themen auseinandersetzen.
Matthias Schneider

Andreas Steinhöfel, Melanie Garanin: „Völlig Meschugge?!“.
Carlsen Verlag, 288 S.
Hardcover, farbig
CHF 30.- / EUR 20

Kurz und Gut

Von Christian Meyer-Pröpstl


Matthias Gnehm hat eigentlich Architektur studiert, aber auch schon etliche Comics gemacht, darunter sechs umfangreichere Graphic Novels. Mitunter beschäftigt sich der Schweizer Künstler mit Themen zu Architektur oder Stadtplanung, dann aber auch mit gesellschaftlichen Fragen wie Religion, Nachhaltigkeit, Wirtschaft oder Ethik. Oft tauchen Elemente des Thrillers in seinen Geschichten auf. In seinem neuesten Werk, der hoch- und kleinformatig in Kalenderbindung ­angeordneten Geschichte Gläserne Gedanken um einen jungen Vater und Schriftsteller in einer Existenzkrise, erzählt Gnehm aber auch von Verschwörungstheorien, Ängsten und generationsübergreifenden Ansprüchen und Erwartungen. In detailreicher Schwarzweissmalerei umgesetzt, entfaltet Gnehm auch hier einen starken Spannungsbogen.

Matthias Gnehm: „Gläserne Gedanken“.
Edition Moderne, 640 S., Softcover, s/w,
CHF 24.– / EUR 19

Movements and Moments ist eine beeindruckende Zusammenstellung. Indigene Feminismen lautet der Untertitel des über 300 Seiten umfassenden Bandes, der mit den zehn abgedruckten Geschichten nicht mal das ganze Projekt umfasst – weitere sechs Geschichten findet man auf der Webseite des Goethe Instituts, das auch Initiator des Projektes war, als es einen Aufruf zum Thema „Feminismus und Populärkultur“ startete, der nach einigen Austausch-Projekten zwischen Berlin und Jakarta in der Idee mündete, feministische „Herstories“ auch jenseits des südostasiatischen Raums zu dokumentieren. Und so sind Comics aus Asien, aber auch aus Lateinamerika entstanden, die über Befreiungs- und Emanzipationskämpfe berichten, von Diskriminierung als Indigene oder Frauen oder beides zugleich, von Kämpfen für die Umwelt und gegen Gewalt. Erzählerisch, ästhetisch und technisch sind die Kurzgeschichten so unterschiedlich und vielseitig wie die Schicksale derjenigen Frauen, von denen die Künstler*innen erzählen. Die Umsetzung dieser dokumentarischen Comics, die von dem Team rund um Sonja Eismann (Missy Magazine), Ingo Schöningh (Goethe Institut) und Maya hier versammelt wurden, zeigt einmal mehr, wie gross nicht nur das inhaltliche, sondern auch das formale Spektrum von Comics sein kann.

Eismann, Schöningh, Maja (Hg): „Movements and Moments“: Indigene Feminismen.
Jaja Verlag, 312 S., Softcover, farbig
CHF 41.90 / EUR 27

Vor dreissig Jahren hat sich Stéphane Heuet Grosses vorgenommen – eine Comic-Adaption von Marcel Prousts Werk Auf der Suche der verlorenen Zeit wollte der Zeichner umsetzen. Damals war er 35 Jahre alt und war schon sieben Jahre als Matrose zur See gefahren, bevor er anfing, als Grafiker zu arbeiten. Jetzt erscheint der achte Band Im Schatten junger Mädchenblüte – Im Umkreis von Madame Swann auch auf Deutsch. Abermals lässt Heuet die Gedanken- und Gefühlswelt des jungen Protagonisten in langen Textkästen und Sprechblasen und in der feinen, an Hergé erinnernden Ligne Claire auferstehen. Aber vor allem die Erinnerungen des Protagonisten, die mal gezielt, mal unwillkürlich in ihm aufsteigen (die berühmte Madeleine ist das Paradebeispiel für diese fast reflexhaft aufsteigenden Erinnerungsstürme) und eine vergangene Welt auferstehen lassen. Man munkelt, dies sei der letzte Band in der Reihe. Allerdings lässt sich das an Hand der Vorlage kaum rekonstruieren, da die Kapitel und auch die Chronologie der Veröffentlichung absolut nicht deckungsgleich mit der Vorlage von Proust sind. Nichtsdestotrotz ein beeindruckendes Opus Magnum.

Stéphane Heuet: „Im Schatten junger Mädchenblüte – Im Umkreis von Madame Swann“. Knesebeck, 48 S., Hardcover, farbig
CHF 33.90 / EUR 22

Nach zahlreichen Spin-offs geht der Black-Hammer-Hauptstrang 20 Jahre später mit dem fünften Buch Reborn 1 um Lucy, die Tochter von Black Hammer, weiter. Sie ist inzwischen 40, hat zwei Kinder und ihre Karriere als Black Hammer nach einem tragischen Ereignis aufgegeben. Doch jetzt holt sie und auch ihre Tochter die Geschichte ein. Mit der neuen Zeichnerin Caitlin Yarsky wagt Vielschreiber Jeff Lemire nicht nur permanente Zeitsprünge, sondern auch den Spagat zwischen Superheld*innen-Action und den alltäglichen Problemen innerhalb der Familie. Es kann allerdings gut sein, dass einem ohne die Spin-offs einige Anspielungen entgehen …

Lemire & Yarsky: „Black Hammer 5 – Reborn Buch 1“.
Splitter, 112 S., Hardcover, farbig
CHF 33.90 / EUR 22


Es dürfte zumindest im deutschsprachigen Raum einmalig sein, dass es einen parallelen Release für eine Comic-Adaption zu einem Kinofilm gibt. So geschehen bei Freibad, der neuen Gesellschaftskomödie von Doris Dörrie, die wohl von Paulina Stulins Debüt Bei mir zuhause sehr beeindruckt war. Der Stoff behandelt aktuelle Themen im Feminismus, auch im Verhältnis zu anderen, z.B. arabischen Kulturen oder der Trans-Bewegung. Das Ganze findet in mehr oder weniger heftigen Diskussionen in einem Frauenfreibad statt und lotet knapp die verschiedenen Positionen aus. Stulin setzt den Stoff kurzweilig und mit ihren typischen, malerisch anmutenden Farbzeichnungen um.

Stulin, Dörrie, Kaçi, Fricke: „Freibad“.
Jaja Verlag, 296 S., Hardcover, farbig
CHF 43.90 / 29 EUR

Der französische Zeichner Christophe Blain hat sich für seinen Öko-Sachcomic Welt ohne Ende mit dem in Frankreich populären Energie- und Klimaexperten Jean-Marc Jancovici zusammengetan. Mit Hilfe anschaulicher Beispiele illustriert Blain den Energieerhaltungssatz, die Entwicklung des technischen Fortschritts, die damit einhergehende Nutzung einzelner Energiequellen – von den erneuerbaren zu den fossilen und zurück, und andere wissenschaftliche Hintergründe. Man staunt und stellt ernüchtert fest, dass Mehrwegbecher, weniger Autofahren, Recycling oder auch Bionahrung nur Tropfen auf den heissen Stein sind und keineswegs die Lösung für die Klimakatastrophe. Anders als hierzulande ist in Frankreich aber die Atomkraft eine respektable Lösung – auch für Jancovici. Das erstaunt wiederum und liest sich aus hiesiger Perspektive recht ungewöhnlich.

Christophe Blain, Jean-Marc Jancovici: „Welt ohne Ende“.
Reprodukt, 196 S., Hardcover, farbig
CHF 54.90 / EUR 39

François Rivière und Philippe Wurm legen mit Edgar P. Jacobs – Träume und Apokalypsen eine Biografie des Erfinders der Comic-Reihe Blake und Mortimer (1946 – 1971) vor und gestalten sie, als Hommage an den ehemaligen Koloristen und Dekorzeichner von Hergé, im Stil der Ligne claire. Episodisch als Ritt durch die Jahrzehnte erzählt, verlangt der Band von den Leser*innen einiges an Vorwissen, füllt die Lücken aber im Anhang mit einer Chronik und weiteren Biografien von Wegbegleiter*innen.

Rivière & Wurm: „Edgar P. Jacobs – Träume und Apokalypsen“.
Carlsen, 144 S., Hardcover, farbig
CHF 33.90/ EUR 22

Nach Buch, Hörspiel und Film kommen nun Die Känguru-Comics. Das mit dem Film hat nicht so gut funktioniert – ein sprechendes Känguru erinnert vielleicht zu sehr an den Charme einer Trigema-Werbung. Ein Comic ist für das Szenario von Marc-Uwe Kling deutlich besser geeignet, und die Zeichnungen von Bernd Kissel für die zuerst auf Zeit-Online erschienenen Strips – hier im ersten Band Also ich könnte das besser auf gut 200 Seiten versammelt – finden den richtigen Ton für den trockenen Humor zwischen Autor und Känguru.

Marc-Uwe Kling, Bernd Kissel:
„Die Känguru-Comics: Also ich könnte das besser“.
Carlsen, 224 S., Hardcover, farbig
CHF 33.90 / EUR 22

 
 

Biografien

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Bohdana Zaiats
*2002 in Kiew, studierte Philosophie und Kunst. In ihrer Praxis beschäftigt sie sich hauptsächlich mit Illustration, Comics und der Herstellung von Zines. Mit Zeichnungen und Texten reflektiert sie Momente aus ihrem Leben, die ihr poetisches und politisches Denken inspirieren, zurzeit vor allem Bilder von Gewalt und Krieg und ihre Auswirkungen. Sie studiert im dritten Jahr Ästhetik und Ethik an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew und ist Studentin des Programms für zeitgenössische Kunst an der Akademie für Medienkunst.
instagram.com/my_pet_spider

Julia Tveritina
*1986 in Kiew, machte 2011 ihren Master-Abschluss an der Nationalen Akademie der Künste. 2013 erhielt sie ein Stipendium des Präsidenten der Ukraine für junge bildende Künstler*innen, 2015 die Silbermedaille der Ukrainischen Akademie der Künste und des Kulturministeriums für die beste Master-Arbeit in Grafik, 2018 eine Auszeichnung für das zusammen mit Anna Sarvira gestaltete Buch Girls Power. Als Russland die Ukraine überfiel, wurden ihre Zeichnungen für sie zum wichtigsten Mittel, um der Welt davon zu berichten. Zurzeit unterrichtet Julia Illustration an der Universität Suzhou, China.
instagram.com/yuliiatveritina
birdinflight.com/en/plitka/illyustratsiyi-yuliyi-tveritinoyi.html

Carole Meier alias Melotyca
*2005, sagt zu ihrem künstlerischen Werdegang: «Seit ich klein war, zeichne und skizziere ich, schon früh hatte ich ein besonderes Interesse an allem Kreativen und Experimentellen. Vor drei oder vier Jahren fing ich an, mich ernsthafter mit Kunst zu beschäftigen und kaufte mein erstes digitales Tablet, seither konzentriere ich mich hauptsächlich auf digitale Kunst, aber ich liebe auch Malen und Skizzieren, mache gerne Videos und fotografiere. Momentan besuche ich noch das Gymnasium, aber Erfahrungen wie die Zusammenarbeit mit STRAPAZIN öffnen mir neue Türen und inspirieren mich, meine Kreativität weiter zu erforschen.»
instagram.com/melotyca
melotyca.wixsite.com/melotyca

Yulia Vus
*1997 in der kleinen Bergarbeiter­stadt Tscherwonohrad, lebt als Illustratorin und Comic-Zeichnerin in Lwiw. 2017 schloss sie ihr Studium an der Ukrainischen Akademie für Druckerei ab. Ihr Arbeitsbereich umfasst kommerzielle Illustration, Buchillustration und Coverdesign, redaktionelle Illustration, Plakatdesign, Lettering, Animation und vieles mehr. Yulia ist eine der Gründer*innen der Community Shozasketch für Menschen aller Alters- und Berufsgruppen, die gerne zeichnen, und unterrichtet Illustration und Design für Teenager. «Meine Inspiration finde ich in Momenten, Situationen und Figuren des wirklichen Lebens». Die Hauptfiguren ihrer Comics sind meist ihre Adoptivkatze Phoebe, ihr Freund Ivan oder Yulia selbst.
instagram.com/shozasketch
instagram.com/yulia_vus

Danyl Shtangeev
ist ein Illustrator und Comic-Zeichner aus Charkiw. Derzeit arbeitet er als Art Director im Studio Colotune.
Borys Filonenko ist Comic-Autor, Kunstkritiker, und Chefredakteur des Independent-Verlags ist publishing in Charkiw. Er ist zudem Co-Kurator des ukrainischen Pavillons an der ­
59. Biennale di Venezia.
instagram.com/danylshtangeev
instagram.com/borysfilonenko
eng.istpublishing.org

Anna Ivanenko und Jenya Polosina
bilden das Studio Seri/graph. Die zwei Illustratorinnen und Grafikerinnen aus Kiew arbeiten seit 2015 zusammen; normalerweise machen sie Editorials, Siebdrucke, illustrieren Bücher und gestalten Poster. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine sind sie bei verschiedenen freiwilligen Hilfsprojekten tätig und produzieren Bilder und Comics, um Geld zu sammeln und den Krieg in ihrer Heimat zu dokumentieren.
seri-graph.com
instagram.com/studioserigraph
facebook.com/studioserigraph

Zhenya Oliinyk
geboren in Kiew, ist Illustratorin und Karikaturistin. Sie erwarb ihren ­Bachelor-Abschluss am Kiewer Institut für Journalismus und ihren MA in Kulturwissenschaften an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie (NaUKMA). Ihre Diplomarbeit war eine fotografische Beschreibung der russischen Invasion der Ostukraine. Zhenya arbeitete über fünf Jahre lang als Journalistin, politische Karikaturistin und Kulturkritikerin. Gleichzeitig studierte sie Illustration an der Projector School of Design in Kiew. Seit 2018 arbeitet sie als freiberufliche Illustratorin. Ihre häufigsten Themen sind Menschenrechte, Gleichberechtigung, Feminismus, Geschichte, Traumata, psychische Gesundheit und andere aktuelle soziale Fragen.
zhenyaoliinyk.com
instagram.com/evilpinkpics

Kosko / Konstantin Sokolovsky
wurde in Kro­­pyvnytskyi (früher Kirovohrad) in der Ukraine geboren. Er zeichnete schon in seiner Kindheit sehr viel, später wurde er am Institut für Kunsthandwerk und Design in Kiew in der Abteilung für Holzschnitzerei aufgenommen, doch war er stets fasziniert von Cartoons, Comics «und allen möglichen albernen Stilen». Er arbeitete in einem Kiewer Animationsstudio, dann in einer Buchdruckerei, wo er Postkarten und Visitenkarten auf alten Maschinen druckte. Sein grösster Stolz sind seine GON-Comics, von denen er seit 2017 20 Ausgaben publizierte, leider wurde der Verlag wegen des Kriegs eingestellt. Er sagt: «Selbst bei einem so schwierigen Thema wie dem Krieg versuche ich nicht, Angst und Verzweiflung zu schüren, sondern die Handlung visuell in meine üblichen Formen zu bringen».
behance.net/kosko_kosko
instagram.com/kosko_art

Mariana Mikitiuk
ist eine autodidaktische Illustratorin mit Sitz in Kiew. Sie ist in der Region Kiew geboren und aufgewachsen und hat ein Studium des Verlagswesens und der Philologie absolviert, bevor sie sich dem Grafikdesign zuwandte und nach und nach zur Illustration überging. Mariana entwirft Arbeiten für das Verlagswesen, redaktionelle Arbeiten und Verpackungen. ­Neben kommerziellen Arbeiten fertigt sie auch Kalender, Poster und andere Werbemittel an. Während eines halbjährigen Aufenthalts an der Warschauer Kunstakademie begann sie, Kunstbücher zu erstellen. Sie arbeitete für den WWF, das Finanzministerium der Ukraine und die wichtigsten ukrainischen Verlage.
Ihre Technik kombiniert Digitaltechnik, Bleistift, Aquarell und Gouache. Marianas Haupt­inspirationsquellen sind Biologie und Ethnologie. Ihre Freizeit verbringt sie mit Wanderungen in der Natur, Sticken und Lesen.
instagram.com/mariana.mikitiuk

Die Beiträge der drei unten aufgeführten ukrainischen Autorinnen, die in der Schweiz Aufnahme gefunden haben und zurzeit an der Hochschule Luzern – Design & Kunst studieren, konnten aus Platzgründen leider nicht in diese Ausgabe von STRAPAZIN aufgenommen werden, weshalb wir sie auf unserer Website (strapazin.ch/ukraine) zeigen:

Polina Tyrsa
*2002 in Krementschuk, Zentralukraine, ist Studentin für Grafikdesign und Animation in Lwiw. Sie studiert im dritten Jahr an der Nationalen Kunstakademie in Lwiw, aber wegen des Krieges in der Ukraine ist sie in die Schweiz gezogen und studiert nun Animation an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. In ihrem Werk für STRAPAZIN möchte sie die Attraktivität der ukrainischen Mythologie zeigen, die fälschlicherweise oft mit der russischen gleichgesetzt wird.

Kateryna Beizym
die zurzeit an der Hochschule Luzern – Design & Kunst studiert, sagt über sich selbst: «Ich liebe das Leben und bin stets auf der Suche. In meiner Arbeit geht es um das Licht, was für mich das Gute, das Streben nach einer besseren Version von uns selbst und die Konsequenzen unserer Handlungen bedeutet. Gerade heute ist es besonders wichtig, herauszufinden, wer man ist und welche Position man einnimmt. Ob Keramik, Malerei, Zeichnung – hauptsächlich arbeite ich mit greifbaren Materialien, hin und wieder verwende ich aber auch digitale Werk­zeuge.»
instagram.com/k_bzik

Iryna Raikhel
hat drei Jahre Illustration und Grafikdesign studiert, zurzeit lebt sie in der Schweiz und besucht die Hochschule Luzern – ­Design & Kunst. Sie sagt: «Ich stelle mich gerne zeichnerischen Herausforderungen und verbessere so täglich meine Fähigkeiten. Jetzt bin ich 19 Jahre alt und habe, genauso wie mein Land, mit unvorhergesehenen Schwierigkeiten zu kämpfen. Trotzdem geht das Leben weiter. Mein wichtigstes Motto ist ein Zitat von Jean de la Bruyère: ‘Aus Schwierigkeiten entstehen Wunder’».
behance.net/irar2709eb61