Comic-Shops

Dezember 7, 2023 | | No Comments

CHF 15.00

Luca Bartulović & Lukas Künzli
Jared Muralt
Bruno Giannori, Vanessa Karré, Elsa Klée, Mawil & Marie-Luce Schaller
Wiebke Bouldan
Helena Baumeister
Kathrin Klingner
Bart Schoofs
Larie Cook
Edwin Hagendoorn
Victor Meijer
Joost Halbertsma
Pier Dola
Guido Van Driel
Maybelline Skvortzoff
Léa Vautravers


Beschreibung

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EDITORIAL

Was wäre das für ein Bild, wenn alle in Europa lebenden Menschen, die Asterix kennen, zeitgleich die Feld­flasche, gefüllt mit Zaubertrank, zum Trinken ansetzten!
Würde man diese Menschen fragen, welche Comics sie sonst noch kennen und ob sie regelmässig einen Comic-Shop besuchen, wäre die Reaktion der meisten dieselbe – ein verstohlener Blick auf den Boden. Doch erfreulicherweise zeigt das Beispiel von Asterix die grosse Bekanntheit von Comic-Held*innen und somit auch, wie zugänglich Comic-Bücher für alle jederzeit und überall sind. Aber sinnvollerweise stützt sich das Kulturgut Buch nicht nur auf einzelne, kometenhafte Bestseller, sondern liefert uns Leser*innen eine Bandbreite an Lektüre. Denn wir leben nicht nur in einer Welt der Superlative, der Verkaufsschlager und Longseller, sondern bereichern unseren Geist mit weitaus mehr Nahrung.
Und so steht diese STRAPAZIN-Ausgabe ganz im Zeichen der Comic-Shops und ihren zeichnenden Freund*innen, die ihren
Beitrag dazu leisten, dass die Antwort auf Comics nicht nur Asterix lautet.
Das 40-Jahre-Jubiläum vom Comix Shop in Basel gab Anlass, die Welt dieser Läden etwas besser auszuleuchten. Dies hat David Basler in sieben umtriebigen Läden in Europa gemacht, hat Gespräche geführt und viele Fragen gestellt, in den Comic-Shops:
Was diese erfahrenen Comic-Shop-Besitzer*innen vereint, ist die Tatsache, dass sie alle beharrlich auf Langlebigkeit und Wiederauferstehung setzen. Oder, wie Joe Field, Besitzer von Flying Colors Comics in Kalifornien im Sekundärbuch Comic Shop (Ohio University Press, 2017) zitiert wird: “We are the cockroaches of pop culture. We will survive a nuclear fallout.”
Die Spezialisierung der Buchhandlung als Comic-Shop führt zu Sortimentstiefe und -wissen und könnte eine möglicherweise antiquierte, aber nachhaltige Überlebensstrategie sein, gewählt von ausnahmslos tollkühnen Geschäftsleuten, Verfechter*innen der Bibliophilie, unverfrorenen Enthusiast*innen der Comic-Kultur. Die Comic-Reportage über den Comix Shop Basel in diesem Heft spürt diesem Schlag Mensch nach und steht stellvertretend für andere Läden.
Comic-Shops haben weder die Strahlkraft von Kryptonit noch ausreichend finanzielle Ressourcen, um mit abertausend Lux ihr Emblem an den Nachthimmel zu projizieren. Doch sie spinnen ein feines, belastbares, magisches Netz zwischen Nischendasein und maximaler Popularität. In der Überzeugung, dass die Mutter aller Netze wohl nicht aus Kupfer- oder Glasfaserkabel geknüpft wird, sondern sich beim Öffnen eines Buchdeckels entfaltet.
Comic-Shops können nur existieren, wenn Comic-Künstler*innen ihre Geschichten aufs Papier zeichnen. Dies schafft eine Verbundenheit, ein weiteres Netz, das um sich greift. Darum haben die sieben hier portraitierten Comic-Shops ihre befreundeten Comic-Künstler*innen eingeladen, einen Beitrag für diese Ausgabe zu zeichnen. Mit einer Carte blanche stellen über 18 internationale Autor*innen so auf eindrückliche Weise die Vielseitigkeit des Mediums dar.
Im Grunde ist es ganz einfach – die Zeichner*innen brauchen die Comic-Shops, die Comic-Shops brauchen die Zeichner*innen, und beide brauchen dich als Leser*in! Denn auch Goscinny und Uderzo haben einst beim Spinnen ihrer Asterix-Geschichten noch keine fliegende Cashcow am Himmel gesehen …
Und nun, liebe Leser*innen, lasst euch überraschen! Wer weiss, vielleicht inspiriert euch die Comic-Shop-Weltkarte dazu auf eurer nächsten Reise einen neuen Comics-Shop zu entdecken.
Auf die Comic-Lektüre!

Angela Heimberg,
Inhaberin Comix Shop Basel

 
 

COMICS SHOP Basel

Hannes Nüsseler

Qualität im Untergrund Wenn E für den staatstragenden Ernst der sogenannten Hochkultur steht, befindet sich der Comix Shop Basel buchstäblich im U: versteckt in einer Ladenpassage nämlich, direkt unter dem Theaterplatz. “Ein schwieriger Standort”, sagt Inhaberin Angela Heimberg, die das Fach­geschäft seit 2007 führt. Dafür sei man mitten in der Stadt und lokal gut verwurzelt. “Wir sind ein Geheimtipp, aber offenbar ein guter, weil es uns immer noch gibt”, so Angela; der Comix Shop Basel feiert heuer sein 40-Jahre-Jubiläum.
Der Comix Shop teilt sich das Foyer der Passage mit einem Kino und weiteren Spezialitätengeschäften. Postkartenständer beim Eingang wecken die Neugier, drinnen wird man von grossformatigen Bildern von Comic-Klassikern sowie politischen Cartoons empfangen – Lektüre mit Wiedererkennungswert für den niederschwelligen Auftakt. Auf der Ladenfläche von 130 Quadratmetern verteilen sich Graphic Novels, US-Comics, Bandes Dessinées und Manga in Deutsch, Französisch und Englisch. “Die Dreisprachigkeit zeichnet uns aus”, sagt die Inhaberin, “zusammen mit unseren Veranstaltungen und Signierstunden.”
Diesen Eventcharakter pflegt der Comix Shop Basel seit seiner Gründung 1983, als die damaligen Betreiber noch mit dem Kleinbus deutsche Comics über die Grenze schafften und Freak-Brothers-Zeichner Gilbert Shelton als ersten internationalen Gast nach Basel einluden. “Es gab dieses beeindruckende Adressbüchlein mit den privaten Telefon­nummern von Régis Loisel über Charles Burns bis Art Spiegelman”, erzählt Angela. Zum 25-Jahre-Jubiläum verschaffte sie sich in ihrer damaligen Rolle als Geschäftsführerin einen Überblick über die Geschichte des Shops. “Das Gefühl für die Tradition des Geschäftes ist sehr gross.”
Als Angela das Geschäft 2012 von der Witwe des ehemaligen Ladenbesitzers übernahm, fand der Generationenwechsel auf allen Ebenen statt. “Mit den Manga kam ein Trend auf, dem man sich nicht verschliessen konnte”, erinnert sich Angela. Es reichte auch nicht mehr, einmal im Jahr die Verlagsprogramme abzufragen, das Publikum und seine Ansprüche veränderten sich. “Deshalb begannen wir, junge Künstler*innen einzuladen und Poster oder auch Street Art auszustellen. Zudem organisierten wir Manga-Treffen, um den Community-Charakter dieser neuen Generation zu stärken.”
Das “wir” ist Angela und ihrem sechsköpfigen Team, zu dem neben zwei zeichnenden Quereinsteigern ausschliesslich gelernte Buchhändler*innen zäh-len, sehr wichtig. “In der Freizeit Comics lesen und sie dann verkaufen – das sieht nur so einfach aus, weil wir es gut machen”, lacht sie. Dahinter steckten aber unzählige Arbeitsschritte inklusive Putzen, Pakete versenden, Papier für den Drucker orga­nisieren etc. “Alle müssen alles können”, so Angela. “Diese Vielseitigkeit ist zwar anstrengend, aber auch erfüllend.” Voraussetzung dafür ist eine flache Hierarchie, die Mitarbeitenden treffen eigene Entscheidungen in ihren jeweiligen Ressorts, vieles wird in der grossen Runde besprochen. “Diese Teilhabe ist für das Team sehr wichtig, ich will als Chefin weder Ideen noch Erfahrungszuwachs verhindern.” Das entlastet Angela einerseits, bringt gelegentlich aber auch Reibungen mit sich.
Doch von Herausforderungen hat sich Angela noch nie abschrecken lassen. “Überleben ist ein fas­zi­nierendes Thema”, sagt sie. “Schon als ich Ende der Neunzigerjahre meine Lehre machte, wurde der Tod des Buchhandels vorausgesagt.” Früh beschäftigte sie sich deshalb mit Unternehmensführung; die Kalkulation und das Bilden eines Teams waren allerdings spezielle Herausforderungen – ein stän­diges Ausprobieren. “Die ersten Jahre waren hart, wir gerieten oft in Verzug mit den Rechnungen.” Der haushälterische Umgang mit Ressourcen und ihre Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen halfen über die erste Durststrecke hinweg.
“Monetärer Reichtum war bei uns nie erstrebenswert”, beschreibt Angela ihre Sozialisierung. “Diese Einstellung half sicher, sonst wäre ich das Wagnis als Inhaberin kaum eingegangen.” Mittlerweile sei der Laden solide aufgestellt, vom Geld, das her­einkomme, bleibe gerade genug hängen. “Es gibt Schwankungen wie anderswo auch, aber ich kenne den Fluss langsam. Diese Position, diese Selbst­sicherheit ist heute klar anders als noch in den Neunzigern.” Auch die Grenzlage zu Deutschland und Frankreich stört Angela nicht, obwohl das die Preisgestaltung erschwere. “Warum es trotzdem funktioniert? Weil unsere Kundschaft nicht nur aufs Geld schaut, sondern auch andere Qualitäten zu schätzen weiss.”
Denn der Verkauf stand im Comix Shop Basel nie allein an erster Stelle. “Das habe ich stark als Auftrag gespürt und auch so übernommen”, sagt Angela, die die soziale Verantwortung ihrer Kundschaft gegenüber ernst nimmt. “Wir versuchen, die Leute offen und ebenbürtig abzuholen – so, wie wir als Kundinnen selbst behandelt werden möchten.” Das koste viel Energie, trotzdem würde sie nicht da-rauf verzichten wollen. Den Mehrwert findet sie in befriedigenden Begegnungen.
“Idealerweise finden die Kund*innen bei uns etwas, was sie anderswo vergebens gesucht haben”, sagt Angela. “Und wir wissen sofort, was sie meinen – und haben es vielleicht sogar vor Ort. Das sind die schönsten Momente.” Deshalb versuche man, beim Sortiment auch mit der Zeit zu gehen, um so neue Generationen zu gewinnen. Gewisse Bereiche verlieren dadurch vielleicht an Bedeutung und Platz, werden der Vollständigkeit halber aber trotz­dem weitergeführt.
Beim Betreten des Ladens am Morgen des Ge-sprächs fällt auf, dass sich vornehmlich Kundinnen darin aufhalten. “Dass ich als Frau einen Comic-Laden führe, ist sicher eine Seltenheit”, sagt Angela. Besonders bei Superhelden-Comics und Manga gebe es unterdessen eine grosse Vielfalt an Charakteren, die trotz besonderer Fähigkeiten mit sehr menschlichen Gefühlen hadern. “Diese Emotionalität in der Bildsprache wird von Frauen sehr geschätzt”, sagt Angela. Dabei sei es nicht etwa so, dass Frauen den Comic erst jetzt entdeckt hätten: “Das Angebot ist mittlerweile einfach viel attraktiver, und es gibt mehr Zeichner­innen.”
Angelas eigene Leidenschaft für den Comic ist mit dem Shop noch gewachsen. “Ich bin sehr kunstaffin und sass während meiner Lehrzeit mittags oft im Kunstmuseum”, erzählt sie. “Aber diese Prä­zisierung und Tragweite habe ich wohl erst erkannt, als ich 2005 als Angestellte im Comix Shop begann.” Mittlerweile versteht sich Angela als Botschafterin: “Man muss nicht nur Buchstaben lesen können, sondern auch Bilder, das ist stark in mir drin.” Dies versucht sie, mittels Kursen, Bibliotheksabenden und Broschüren zu vermitteln.
“Ich habe schon viel Zeit und Energie in diesen Laden gesteckt, jetzt bin ich an einem Punkt, wo ich mich frage, wie es längerfristig weitergehen soll.” Während der Pandemie habe sie begonnen, Funktionen und Aufgaben zu verteilen, um die Prozesse im Comix Shop zu entflechten. “Dabei stellte sich die Frage, was eine Geschäftsführung überhaupt ist. Ich muss flexibel sein und den Shop nicht nur als One-Woman-Show verstehen.” Der Wunsch nach mehr Gestaltungsfreiheit sei bei jungen Leuten ohnehin gross. “Aber so etwas muss man recht­zeitig aufgleisen.” Vernetzung ist für Angela deshalb ein wichtiges Thema. “In anderen Comic-Läden stellen sich ähnliche Fragen. Es wäre wichtig, dass sich Leute aus diesem Umfeld austauschen könnten.” Vor über 30 Jahren habe bereits einmal eine Interessen­gemeinschaft Comic bestanden. “Wir sollten sie unbedingt wiederbeleben!” Interessante Themen gäbe es genug, etwa, wie man mit Verantwortung und Druck umgeht. Für den Ernst in U wie Unterhaltung wäre jedenfalls gesorgt.

Das Gespräch mit Angela Heimberg wurde am 8. September 2023 in Basel von Hannes Nüsseler geführt.






MODERN GRAPHICS Berlin

David Basler

Wir wollen die Nummer 1 für Comics bleiben! Micha Wiessler, der Besitzer von Modern Graphics (MG), war immer schon Comic-Fan. Während seines BWL-Studiums in Pforzheim betrieb sein Schulfreund Kai Witz aus seiner Wohnung den Grosshandel Modern Graphics, in den Micha gerne eingestiegen wäre, aber er wollte unbedingt nach Berlin. So beschlossen die beiden 1991, einen MG-Laden in Berlin zu eröffnen. “Da war natürlich viel heisse Luft drin, wir sind schnell in den Niederungen der Realität angekommen. Dabei hatte ich sogar meine Diplomarbeit zum Thema ‘Konzeption für einen Comic-Laden’ geschrieben. Wenn ich heute da reingucke, schäme ich mich dafür fast ein wenig”, sagt Micha rückblickend. Ein paar Jahre später gab es den Grosshandel nicht mehr, aber Micha war noch immer an der Oranienstrasse in Kreuzberg, wo der Laden auch heute noch ist: “Mir ist das Viertel hier stets wichtig gewesen, der Bezug zum Kiez, zum Stadtteil.”
MG hatte von Anfang an viele Kund*innen im Laden. Das lag am offenen, kunst­interessierten Publikum im Viertel und so war es möglich, nicht nur Mainstream zu verkaufen, sondern auch Reihen wie Love And Rockets oder Autor*innen wie Julie Doucet, die bei Reprodukt, dem von Dirk Rehm 1991 gegründeten Verlag, veröffentlicht wurden. MG hatte von Superhelden bis zu franko-belgischen Serien, die sich damals sehr gut verkauften, alles im Angebot, auch Drucke, Poster und Merchandise. Von Anfang an und fast als Einziger pflegte MG die Independents aus den USA. Bis heute ist der Shop an der Oranienstrasse die Homebase, die zentrale Anlieferungsstelle, der grösste Laden mit dem umfangreichsten Sortiment.
1996 wurde MG von einem Spieleladen angefragt, ob sie mit ihnen ein zweistöckiges Ladenlokal in Berlin-Steglitz teilen möchten. Micha sagte zu, doch schon bald trennten sich ihre Wege und MG musste ein neues Lokal in der Nähe suchen. Sie landeten im Europa-Center, dem ältesten Einkaufszentrum in Westberlin, direkt bei der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. “Die Leute vom Europa-Center wollten ihr etwas angestaubtes Image aufpolieren und junge Leute anlocken. Deshalb bekamen wir von Anfang an gute Konditionen”, erzählt Micha. Die Filiale dort richtet sich speziell an die an Manga und Superheld*innen interessierte Kundschaft.
Auch der dritte MG-Laden entstand eher durch Zufall. Vor sieben Jahren erzählte Hajo, Michas ältester Mitarbeiter, der an der Kastanienallee in einem besetzen Haus wohnt, dass bei ihm in der Nähe ein Lokal frei sei. Micha fand den Laden super und verstand sich gut mit dem Eigentümer: “Ich sah die Möglichkeit, auf dem breiten Gehsteig einen Tisch aufzustellen, an dem man auch sitzen und lesen konnte. Dazu gab es dort genügend Platz für Veranstaltungen, was hier in der Oranienstrasse nur mit grossem Aufwand möglich ist. Es blieb nur die Frage, wer den Laden führen sollte.” Micha sprach Laetitia Graffart an, eine französische Comic-Aktivistin, die hin und wieder im Laden ausgeholfen hatte. Sie sagte zu und managte das neue Lokal die ersten drei Jahre lang. Micha hatte gelesen, dass in den USA Verlage wie Fantagraphics und Drawn and Quarterly ihre eigenen Shops haben, und wusste, dass Reprodukt sich auch schon Gedanken in diese Richtung gemacht hatte. Der Verlag stieg gleich ein, bezahlt einen Teil der Mietkosten, dazu einen Angestellten und verkauft dafür seine Bücher auf eigene Rechnung. Für Reprodukt ist es der Referenzshop, in dem alle ihre Bücher aufliegen, für MG bedeutet es ein vermindertes finanzielles Risiko und weniger Arbeitsaufwand.
Damit man drei Läden führen kann, braucht man gute Mitarbeiter*innen. “Reich wird man sowieso nicht, also arbeiten die Leute bei uns aus Liebe zu den Comics und weil wir ein so nettes kleines Team sind”, sagt Micha. Viele sind schon lange dabei – 15, 20, oder gar 30 Jahre. Es gibt auch mehrere Mitarbeiter*innen, die gegangen sind und später zurückkamen. Zum Team in der Kastanienallee gehören auch mehrere Comic-Künstler*innen, deren Leidenschaft für das Medium dem Laden nur guttut. Früher war Micha stets präsent, doch als er vor 22 Jahren Vater wurde, musste er etwas zurückstecken und lernen zu delegieren, mit der Folge, dass neue Themenbereiche im Sortiment entstanden. “Nebst einem guten Team braucht ein erfolg­reicher Comic-Shop gute Beziehungen zu der Comic-Szene und einen guten Umgang mit der Kundschaft”, sagt Micha.
Auf die Frage, ob er eher Comic-Liebhaber oder Händler sei, sagt er: “Das kann ich nicht trennen. Nur Liebhaber wäre ja, dass ich den Keller voller Comics hätte und ich jedem Autor an der Lippe hängen würde, damit er mir was zeichnet. Andererseits bin ich auch nicht der perfekte Geschäftsmann. Du siehst ja, wie der Laden aus allen Nähten platzt. Jeder Steuerberater würde sich an den Kopf greifen und die Lagerdrehzahl* der Titel kritisieren. Doch ich bestelle alles weiter, solange es noch Platz hat. Das brauche ich irgendwie. Wir hatten auch echt schwierige Jahre, weil uns diese Praxis finanzielle Probleme bereitet hat. Ich habe zwischenzeitlich einen Weg gefunden, dies zu kontrollieren und den Ertrag zu halten. Aus den Neun­zigerjahren haben wir noch Keller voller Waren, die wir auf dem Gehsteig antiquarisch verkaufen. Secondhand gehört einfach dazu, für die Kinder, die Sammler, für die Schnäppchenjäger. Auch mir macht es Spass, in den alten Sachen zu wühlen, denn sogar nach 30 Jahren in der Branche finde ich noch Comics, die ich noch nie gesehen habe. Aber letztlich muss alles auf einer gesunden finanziellen Basis stehen, und da habe ich mein Lehrgeld echt bezahlt!”
Dazu geholfen hat ihm auch die Einführung eines digitalen Betriebswirtschaftssystems, das zu beherrschen ihm zwar Mühe bereitet, aber auch hilft, den Überblick über den Umsatz zu behalten.
* Die Lagerdrehzahl bzw. Lagerumschlagshäufigkeit ist eine betriebswirtschaftliche Kennzahl, die Auskunft darüber gibt, wie oft ein bestimmter Titel innerhalb eines Geschäftsjahrs verkauft und ersetzt wurde.
Zum Aufkommen des Begriffs Graphic Novels sagt Micha: “Ich verstehe nicht, wieso alte Comic-Fans ständig gegen diesen Begriff meckern, der geholfen hat, Comics besser zu vermarkten und eine Akzeptanz bei vorher nicht comic-affinen Kund*innen herzustellen. Vor 15 Jahren überlegte ich mir tatsächlich, aufzuhören. Es war mir verleidet, vor allem Sammler*innen zu bedienen. Die Kundschaft, die Graphic Novels kauft, die sammelt nicht, die liest die Bücher. Nicht wie diejenigen, die nach drei Jahren die Bücher zurückbringen und sagen, sie hätten sie nicht gelesen und wüssten nicht, wohin damit. Heute bin ich Buchhändler, die Leute kaufen meine Bücher, weil sie das Thema interessiert. Das gilt auch für Manga, die werden gelesen, nicht nur gesammelt.”
Die Comic-Verlage hatten den Begriff Graphic Novel ja nicht nur erfunden, um neue Leser*innen zu gewinnen, sondern auch, um in dem “normalen” Buchhandel präsent zu sein, nicht nur in den Comic-Shops. Plötzlich hatte MG als Fachhändler neue
Konkurrent*innen. Für MG war das Herausforderung und Motivation, ganz nach dem Motto, “Wir sind der Fachbuchhandel und wollen die Nummer eins bleiben für Comics”. So beliefert MG auch Büchereien hier in Berlin, und Einladungen zu Büchertischen bei Veranstaltungen werden nie abgelehnt.
Veranstaltungen sind finanziell für MG nicht so wichtig, doch Micha glaubt an den – allerdings nicht messbaren – Werbeeffekt. Zudem macht es ihm Spass, Leser*innen und Autor*innen zu treffen. Es begann in den Neunzigerjahren mit der Kreuzberger Langen Buchnacht, die MG mitbegründet hat. Man wollte die Leute darauf aufmerksam machen, dass die Buchhandlungen an der Oranienstrasse zusammengenommen eine Art Grossbuchhandlung sind, einfach verteilt und spezialisiert. Bei MG gab es Party, Fanzines, Comic-Battles und erste Comic-Lesungen von Leuten, die gemeinsam aus Bone vorgelesen haben. Später lasen Autor*innen von Graphic Novels, wie bei herkömmlichen Lesungen, aus ihren Büchern vor.
Über die Jahre hat sich die Kundschaft bei MG stark verändert. Vor 30 Jahren bestand sie hauptsächlich aus “männlichen Nerds”, also Spezialisten, die sich mit Comics schon auskannten. Kinder kauften ihre Comics am Kiosk. Jahrelang versuchte MG die Verlage zu überzeugen, moderne Kindercomics und nicht nur die Schlümpfe zu publizieren. Ein eigentlicher Kinder-Boom kam dann mit den Manga, mit Sailormoon für die Mädchen und Dragonball für die Jungs; sehr zu Michas Gefallen. Heute ist das Publikum bei MG sehr gemischt: Persepolis war der Türöffner für ältere Damen, die wiederkamen und sich weitere Titel empfehlen liessen. “Und heutzutage”, sagt Micha, “wenn ich Leute sagen höre, sie würden keine Comics lesen, frage ich sie jeweils, ob sie prinzipiell nicht gerne lesen. Denn wenn man gerne liest, hat man vielleicht einfach noch nicht den richtigen Comic gefunden. Bilder und Texte gleichzeitig zu lesen, muss man lernen. Aber wer das hinkriegt und gerne liest, begeistert sich schnell für Comics. Es gibt heute eine derart grosse Bandbreite an Comics, dass jede und jeder etwas finden kann. Das war früher nicht so.”
Micha freut sich frühmorgens auf den noch leeren Laden, auf die Gelegenheit, kurz seine Sachen sortieren zu können. Ganz grundsätzlich freut er sich, in diesem Metier in einem Team zu arbeiten und doch sein eigener Herr zu sein. Und sehr gerne würde er vermehrt mit anderen Comic-Shops über gemeinsame Probleme diskutieren und versuchen, Strategien für die Zukunft zu entwickeln, statt nur auf Festivals miteinander Bier zu trinken.

Das Gespräch mit Micha Wiessler wurde am 15. Juli 2023 bei Modern Graphics an der Oranienstrasse in Berlin von David Basler geführt.







STRIPES & STORIES Hamburg

David Basler

Ein Hafen für Comics Strips & Stories wurde eigentlich in Kanada erfunden, denn: “Wir, Hans und ich, standen beide an einem Punkt im Leben, an dem wir gerne etwas Neues machen wollten. Ich bin dann nach Montreal geflogen, habe dort Hans Ebert getroffen, und wir haben eine Woche lang Konzerte und Comic-Läden be-sucht, Bagels gegessen und zusammen Zukunftspläne besprochen, bei Höchsttem­peraturen von minus 23 Grad!”, erzählt Gesine Claus. Als sie beide den Comic-Shop des Verlags Drawn and Quarterly in Montreal besuchten, wusste Hans, wie sein Konzept aussehen würde: “Meine Idee war, nur Comics, die mir gefallen, in den Laden reinzunehmen.” Nach der Rückkehr aus Kanada legte er los. Er ging nach Erlangen an den Comic-Salon, sprach mit den Verlagen und suchte die Bücher zusammen, die er für seinen Buchladen haben wollte. Hans hatte keine Erfahrung als Buchhändler, weshalb er einen Crashkurs von einer Buchhändlerin bekam. Dann suchte er einen Raum, lieh sich etwas Geld, erstellte ein Konzept und eröffnete 2010 an der Seiler­strasse 40 in St. Pauli Strips and Stories. Kurz nach der Eröffnung liess sich Gesine von Hans’ Zuversicht und Begeisterung anstecken und stieg trotz aller Unsicher­heiten und Unwägbarkeiten ein.
Die Seilerstrasse liegt abseits jeder Passantenlage: “Am alten Standort kam keine Seele vorbei, aber durch die Veranstaltungen haben die Leute vom Laden erfahren. Ohne das hätten wir es nicht geschafft”, meint Hans. Durch den Umzug anfangs 2017 an die Wohlwillstrasse, die am Weg vom Schulterblatt nach St. Pauli an einer gut belebten Lage liegt und dank bezahlbaren Mieten einen attraktiven Ladenmix vorzu­weisen hat, ist aus dem einstigen Fanshop eine richtige Buchhandlung geworden, dank der Auswahl ihres Sortiments interessanter als ein reiner Comic-Shop. Sowohl Hans als auch Gesine lesen sehr gerne. “Es ist nicht so, dass uns kein Buch ohne Bilder in den Laden kommt”, sagt Gesine. Ihre Kundschaft besteht ganz allgemein aus literarisch und kunstinteressierten Leuten.
Die Veranstaltungen waren von Anfang an ein wichtiges Anliegen und Standbein. Der Laden versteht sich auch als Vernetzungspunkt und Multiplikator für alle möglichen Leute und nicht nur für die Besucher*innen des Comicfestivals Hamburg. Dass der Laden selbst für Veranstaltungen zu klein ist, bietet auch Chancen. Man geht zu den Leuten, zum Beispiel bietet man Comic-Lesungen in der Stammkneipe oder im Kino an, arbeitet eng mit der Zeichner*innen-Szene und der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) zusammen. Das zahlt sich in Hamburg aus: Die neue Kulturreferentin Antje Fleming hat ein Herz für Comics, es gibt das Hamburger Comic­festival, seit 2019 eine Kategorie Comics bei den Hamburger Literaturpreisen, sowie die Graphic Novel Tage im Literaturhaus. “Am Anfang kamen nur 5 bis 20 Leute an unsere Veranstaltungen, mittlerweile sind wir enttäuscht, wenn es nicht 30 bis 40 sind. Pro Jahr gibt es 12 bis 15 Veranstaltungen”, sagt Hans. Gesine ergänzt: “Signierstunden kann man im Laden durchaus machen, auch Veranstaltungen bis 14 Leute oder Schaufensterausstellungen. Wir haben auch schon Veranstaltungen vor dem Laden auf der Strasse gemacht. Also drinnen gelesen, mit Lautsprecher nach draussen übertragen, und ins Schaufenster gebeamt.” Veranstaltungen sind finanziell aufwendiger geworden, vielerorts wird heute Miete verlangt. Kommt dazu, dass die Autor*innen früher auch ohne Geld auftraten, während sie heute Mindesthonorare erhalten. Aber letztlich findet Strips & Stories das auch gut so.
Gesine und Hans führen den Laden zu zweit, ohne weitere Mitarbeiter*innen. Ausser während des Weihnachtsgeschäfts arbeitet immer nur eine Person im Laden, und zwar zwei Wochen am Stück. Es gibt eine klare Trennung – man hat frei oder ist im Laden. Dass man bei der Arbeit im Laden stets Comics lesen kann, ist leider ein Märchen. Es kommt bei den Kund*innen nicht gut an, wenn die Verkäufer*innen hinter der Kasse Comics lesen und sie das Gefühl haben, zu stören.
“Das würde abschreckend wirken”, meint Gesine, “unter der Woche kommen Leute, die wollen Beratung, oder sie möchten in Ruhe stöbern. Samstags ist die Stimmung ganz anders. Da kommen die Leute in Gruppen, wollen nicht reden, sondern gucken oder wissen schon, was sie haben wollen.”
Seit dem Anfang vor 13 Jahren hat sich die Büchermenge verfünffacht. Die Kundschaft ist ähnlich geblieben, nur wird wegen der besseren Lage mehr Literatur, also nicht zwingend Comics, im Laden bestellt.
“Zum alten Laden musste man bewusst hingehen, hier kommt man einfach so rein und bestellt ein Buch. Dabei liegen zwischen den beiden Orten nur 500 Meter”, sagt Gesine.
Sie haben das englischsprachige Sortiment ausgebaut, allerdings ist da das Problem, dass die Bücher wegen der langen Vertriebswege viel teurer sind als die deutschsprachigen – 49 Euro für ein Album sind für Studierende ganz schön happig. “Gott segne die Buchpreisbindung in Deutschland”, sagt Hans, “so werden die Preise der deutsch­sprachigen Bücher niedrig gehalten, für die englischen gilt das nicht.”
Neu im Laden führen sie auch Manga, und Kinderbücher, insbesondere Kindercomics von Kibitz und Reprodukt, die es vor 13 Jahren gar nicht gab. “Wir versuchen, die Manga-Leser*innen ein bisschen zu erziehen. Wir bestellen die ersten drei Bände einer Serie, in der Hoffnung, dass sie die folgenden bei uns bestellen. Das klappt eigentlich ganz gut”, meint Hans.
Was er vermisst, ist der Austausch mit Händlerkolleg*innen und anderen Leuten abseits von Festivals. Gesine besucht auf Reisen gerne andere Buchläden: “Ich freue mich immer sehr, wenn ich einen speziell Guten finde und sehe, dass er überleben kann, auch wenn er sich auf ein besonderes Genre spezialisiert.”
Wenn sie frühmorgens den Laden betreten, freut sich Hans auf die Begegnung mit den Leuten, auf die Bücher, und dass er selbstbestimmt arbeiten und sein Hobby zum Beruf machen konnte. Gesine hingegen meint: “Ich freue mich jeden Morgen auf den Geruch!”

Das Gespräch mit Gesine Claus und Hansjörg Ebert wurde am 25. März 2023
bei Strips & Stories an der Wohlwillstrasse in Hamburg von David Basler geführt.







HET BESLOTEN LAND Leuven

David Basler

Ein weites Land 1995 übernahm Bart Pinceel den Comic-Shop Carapaces, in der mittelalterlichen Altstadt der Universitätsstadt Leuven gelegen, und taufte ihn in Het Besloten Land (HBL), auf Deutsch: Das geschlossene Land um. “Der Laden lief nicht mehr so gut, weil der Besitzer trank, einen Hund im Laden hatte und er alles ein bisschen schleifen liess”, erzählt Bart. Bei der Neueröffnung am 16. März 1996 war der Laden leer, die eine Wand war frei für Ausstellungen, in den Regalen standen drei einsame Bücher. Heute ist er immer noch an derselben Adresse, aber randvoll. Bart hatte von Anfang an einen Angestellten, arbeitete unter der Woche weiter als Informatiker und stand nur samstags im Laden. Er war nebenbei Comic-Journalist, machte Interviews mit Autor*innen und schrieb für Fanzines und Zeitschriften: “Dazu hatte ich mit einem Freund eine Radiosendung, die hiess Het Besloten Land. Diesen Namen habe ich für den Laden übernommen.” Der Name stammt aus der ersten französischen Graphic Novel, aus Ici même von Jean-Claude Forest und Jacques Tardi, auf Deutsch Hier Selbst, auf Flämisch eben Het Besloten Land.
Ann Jossart, die Lebenspartnerin von Bart, arbeitete zuerst im Vertrieb Pinceel von Bart und wechselte vor zehn Jahren in den Laden. “Ich merkte, dass sich niemand mehr für den Laden verantwortlich fühlte. So verlor der Laden seinen Spirit.” Ann fand es interessant, als Vertriebs- und später Verlagsfrau hautnah sehen zu können, welche Bücher die Leser*innen kaufen. Seit sieben Jahren ist sie nun mit 50 Prozent Anteil gemeinsam mit Bart Mitbesitzerin. Genauso verhält es sich mit dem vor sieben Jahren erworbenen Verlag Oogachtend, der beiden zur Hälfte gehört. Seit sie Mitbesitzerin und für alles verantwortlich ist, fühlt sich Ann noch mehr motiviert, ihren kleinen Laden zu pflegen, und mit dem Verlag kann sie diejenigen Bücher publizieren, die ihrer Meinung nach im Sortiment fehlen.
Nebst Ann arbeiten heute zwei Angestellte im Laden. Die eine Mitarbeiterin öffnet um 11 Uhr den Laden, sie ist ausschliesslich für den Verkauf zuständig, wäh-rend Jeroen sich um das englischsprachige Sortiment kümmert, das sehr komplex ist. Er ist seit Anfang an dabei, kennt die Kundschaft mit ihren US-Comics-Abos und ist überhaupt eine wichtige Stütze. Dank ihm hat der Laden auch schon seit vielen Jahren Manga im Sortiment. An Weihnachten arbeitet immer nur eine Person im Laden, weil dieser nur 60 Quadratmeter gross ist. Ann fühlt sich eher als Händlerin, ihr Interesse an Comics ist zielgerichtet, sie mag Graphic Novels, Fantasy-Serien eher weniger. Ihr ist wichtig, dass auch Selbstverlegtes im Laden Platz hat.
Mit Franzosen wie Jacques Tardi, Enki Bilal und François Bourgeon hat sich HBL von Anfang an in Leuven pro­filiert, aber auch mit amerikanischen Autoren wie Chris Ware, Charles Burns, Daniel Clowes und Jim Woodring. Alle diese Autoren waren auch schon zu Gast in Leuven. So importierte HBL zunehmend Comics aus den USA, und Buchhändlerkolleg*innen fingen an, über HBL zu bestellen. Mit dem Ergebnis, dass nebst dem Laden auch der Vertrieb wuchs, so dass dieser 2003 vom Laden getrennt und unter dem Namen Pinceel eine eigene Firma wurde. Damals kam HBL entgegen, dass 2004 ein grosser niederländischer Vertrieb Pleite machte und sie die Lücke füllen konnten.
“Das grosse Geld ist mit Comics nicht zu machen”, meint Bart, “aber wir arbeiten wirtschaftlicher und sind nicht mehr so naiv. Wir verraten unsere Ideale nicht,
sondern versuchen, sie rentabel zu machen. Und es gibt diese missionarische Seite – man will den Leuten zeigen, was für eine Menge gute Comics es doch gibt.” Als gelernter Informatiker arbeitete Bart anfänglich mit Excel-Tabellen und wollte später eine Betriebswirtschaftssoftware entwickeln, fand aber nie Zeit dazu, so dass er schliesslich eine kaufen musste. “Als Vertrieb sieht man, dass es immer noch viele Buchhändler*innen gibt, die kein ordentliches Betriebswirtschaftssystem haben”, meint Ann.
Den persönlichen Service sieht Ann als Erfolgsrezept für den Laden. Eine familiäre Stimmung schaffen, auf die Kund*innen eingehen und sie auch auf Bücher aufmerksam machen, die sie interessieren könnten. Die Kundschaft soll sich daran erinnern, dass sie letztes Jahr an Weihnachten gut beraten wurde. Dazu muss man in einer Kleinstadt wie Leuven breit aufgestellt sein. Die Jugendlichen zwischen 12 und 15 wollen Manga, die wenig Älteren interessieren sich für englischsprachige Comics, und die Reiferen kaufen sich Sammelalben der klassischen Reihen. Dazu hat HBL auch Secondhand-Comics zum Schmökern. Im Sommer kommen Tourist*innen, die sich an den Comics auf Englisch freuen. Deren Verkaufsanteil stieg von einst 20 Prozent auf heute 40 Prozent, dies hauptsächlich dank den Manga.
Wichtig ist auch, was zurzeit auf Netflix und anderen Streaming-Anbietern läuft, momentan ist es die Serie Heartstopper. Ann hört darauf, wovon die junge Kundschaft spricht. Um die Leser*innen aus ihrer Blase zu locken, stellt Ann jeweils den neusten angesagten Manga auf den Neuheitentisch zu den Graphic Novels, nicht gleich in die Manga-Ecke.
Mit grossem Erfolg macht HBL immer wieder Aktionen: Zum Beispiel Manga-Wochen, in denen man beim Kauf von drei Manga das billigste gratis bekommt. Als sie das einführte, klebten frühmorgens Zeichnungen von Schüler*innen an der Eingangstüre, mit Kommentaren wie: “Ich bin so froh, dass es euch gibt”.
Ann ist auch ein bisschen Psychologin, kennt viele private Geschichten ihrer Kund*innen. Sie liebt es, gefragt zu werden. Bart aber verabscheut Einleitungen wie “ich habe einen zehnjährigen Neffen und er liebt Dinosaurier”. Bei Ann hingegen würde der Kunde nach einer solchen Info den Laden mit zwei oder drei Dinosaurier-­Comics unter dem Arm verlassen.
Eine vielversprechende Aktion ist die von Ever Meulen gezeichnete Treuekarte.
Die Kundschaft erhält beim Einkauf 10 Prozent Ermässigung in Form von Marken. Eine volle Treuekarte mit allen eingeklebten Marken ist 25 Euro wert und kann
beim nächsten Einkauf eingelöst werden. Auch dies trägt viel zum persönlichen Stil des Comic-Shops bei.
In Belgien hat sich der Markt, wie anderswo auch, seit den Neunzigerjahren stark verändert. Damals verkaufte man 500 bis 1000 Exemplare von den neuen Thorgal-, XIII- oder Largo Winch-Alben, heute noch knapp je 200. Dasselbe bei den amerika­nischen Comic-Heften von Superman, Batman, Xmen: Von 50 Abos pro Heft sind
es heute noch knapp fünf, denn die Leute wissen, dass die Hefte später als Sammel­alben nochmals erscheinen, also warten sie diese ab. Damit torpedieren die Verlage die eigenen Veröffentlichungen. Das gilt auch für die klassischen französischen Albenreihen. Die Sammelalben sind für das junge Publikum zu teuer und die Inhalte sind altbacken, klischiert und rollenfixiert. Bei den Comics gibt es auch keinen E-Book-Markt, das läuft überhaupt nicht. Die Manga sind wohl alle online, doch die Animes und die Bücher enthalten nicht dasselbe, sie ergänzen sich. So muss man die Animes UND die Bücher haben, um alles mitzukriegen.
In den Neunzigern verkaufte HBL noch viele französischsprachige Alben von Lewis Trondheim, Joan Sfar und anderen, die es nicht auf Flämisch gab, sowie Manga in französischer Sprache. Heute sprechen die Jungen immer seltener Französisch, dieser Markt ist komplett zusammengebrochen und HBL führt praktisch keine französischsprachigen Comics mehr. “Es ist irre, aber Persepolis von Marjane Satrapi zum Beispiel verkaufen wir auf Englisch. Daneben liegt die niederländische Ausgabe, doch gekauft wird die englische, angeblich, weil es die Originalsprache sei”, sagt Bart.
HBL organisiert monatlich eine Signierstunde. Wenn es internationale Autor*­innen sind, arbeitet HBL mit einer kulturellen Institution zusammen, die Ver­anstaltung findet ausserhalb des Ladens statt und erreicht so ein grösseres Publikum. HBL kümmert sich dann nur um den Büchertisch.
Ann möchte gerne einmal ein Treffen mit den Verleger*innen im Laden organisieren, damit diese sehen, wie wenig Platz es für grossformatige Sachen hat. Oder für Badetücher. Oder für Neuheiten im Dezember. Sie hat im Schnitt zwei Minuten Zeit, um ein Kundengespräch zu führen, deshalb ist sie als Buchhändlerin auf klare Backcover- und Klappentexte angewiesen. Auch sollte das Cover “attraktiv und fehlerfrei” sein. Viele Verlage machten Fehler beim Buchrücken, sagt sie, der Text sei nicht genau mittig, bei Reihen nicht stets auf gleicher Höhe oder er flattere. Bei den Leser*innen fallen dann diese fehlerhaften Buchrücken im Bücherregal unschön auf.
Bart beklagt sich über die mangelnde Zusammenarbeit im niederländischen Sprachraum. In den Niederlanden und im belgischen Flandern gebe es circa 50 Comic-Shops, da wäre es doch opportun, zusammenzuarbeiten, zum Beispiel mit einer gemein­samen Website für den Online-Verkauf als Konkurrenz zu Amazon. Die Leser*innen seien nämlich sensibilisiert und würden eine Alternative zu Amazon durchaus begrüssen.

Das Gespräch mit Bart Pinceel und Ann Jossart wurde am 10. Juli 2023 in Leuven (auf Deutsch: Löwen) von David Basler geführt.







LAMBIEK Amsterdam

David Basler

Eine Familienangelegenheit Das Maar Stripantiquariat Lambiek wurde in einem kleinen Kellerlokal an der Kerkstraat 104 in Amsterdam am 8. November 1968 von Kees Kousemaker eröffnet und gilt als der älteste Comic-Shop Europas. Dass der Comic-Shop im Keller lag, passte gut: Lambiek verkaufte vor allem Underground-Comics aus den USA und Comics galten in den Niederlanden als Schund.
Aufwärts ging es dann an der Kerkstraat 78, wo Kees 1980 ein ganzes Haus erwerben konnte, in dem er 1986 eine grosse Galerie mit Gästewohnung einbaute. Die erste Ausstellung galt dem RAW Magazine, später folgte eine Reihe von Comics-Koryphäen wie André Franquin, Will Eisner, Robert Crumb und der damals noch kaum bekannte Chris Ware. Es waren die goldenen Jahre für Lambiek, Kees war ein sehr geschickter Kommunikator und Vermittler, die Vernissagen waren hip und stets sehr gut besucht. “Die Künstler*innen bekamen eine Einladung für eine Ausstellung in Amsterdam, mit Gratisübernachtung für ein paar Tage, das war schon sehr motivierend”, meint Boris Kousemaker, der heutige Besitzer und Sohn von Kees. Lambiek war auch bekannt für sein unglaublich grosses Sortiment mit allem, das mit Comics zu tun hatte. Als anfangs dieses Jahrhunderts in Haarlem ein holländisches Comic-Zentrum geplant wurde, sagte Kees dazu: “Dieses Comic-Zentrum gibt es schon, es heisst Lambiek!”
Bereits 1994 eröffnete Lambiek seine Website, mit der 1999 von Kees initiierten Comiclopedia, einer bis heute von Freiwilligen gepflegten und ständig nachgeführten Enzyklopädie des Comics mit über 14’000 Biografien zu Comic-Schaffenden.
2003 begann ziemlich unglücklich: Das Haus an der Kerkstraat 78 senkte sich ab, umfangreiche Renovationen wären fällig geworden. Kees musste das Haus verkaufen und Lambiek zog gegenüber in die Nummer 119, ein viel kleineres Lokal, das riesige Sortiment wurde zum Teil eingelagert.
2005 gings weiter in die Nummer 132, dieses Mal wieder in ein grösseres Lokal mit Galerie. Kees zog sich nach und nach aus dem Laden zurück und widmete sich ganz seinem Lebenswerk, der Comi­c­lopledia. “Mein Vater hatte sich total mit dem Laden identifiziert, in einem Interview bezeichnete er sich als Künstler mit Lambiek als seinem Lebenswerk”, sagt Sohn Boris, der nach einigem Hin und Her 2007 den Comic-Shop übernahm. Sein Vater Kees starb im Jahre 2010.
Als es ab 2015 für Lambiek immer schwieriger wurde, die Miete für die Kerkstraat 132 zu bezahlen, war nach 47 Jahren Lambieks Geschichte an der Kerkstraat zu Ende. Zum Glück sprang die Stadt Amsterdam ein und bot die Koningsstraat 27 an, ebenfalls in der Innenstadt Amsterdams beim Nieuw­markt gelegen. Aber für die Galerie hatte es keinen Platz mehr, das Sortiment musste drastisch verkleinert werden. Lambiek bietet im Laden aber immer noch Signierstunden und Buchvernissagen an. Hier hatte Boris auch erstmals das Gefühl, einen eigenen Laden zu führen.
Der Markt für Bücher auf Niederländisch ist klein. Es gibt in den Niederlanden gerade einmal fünf reine Comic-Verlage, dazu etwa 40 Comic-Läden, davon drei in Amsterdam. Kommt dazu, dass man Comics – im Gegensatz zu anderen Büchern – nicht retournieren kann; Comics werden noch immer wie Heftchen vom Kiosk behandelt, die auch nicht retourniert werden können. Das und die mageren Einkaufsrabatte von 32 bis 35 Prozent – in Deutschland und der Schweiz sind es bis 45 Prozent – erschweren das Geschäft in den Niederlanden nicht unwesentlich.
Zwar muss Boris oft ums Überleben des Ladens kämpfen, trotzdem will er auch Spass an der Arbeit haben, was nicht ganz einfach ist. Er muss genug Geld verdienen, um die Miete und die Löhne seiner zwei Mitarbeiter, die beide seit über acht Jahren im Laden arbeiten, zu bezahlen. “Sie sind besser als ich. Ari ist selber Comic-Autor, verlegt seine Bücher selber und verkauft sie hier im Laden. Das Geld überlässt er grosszügigerweise dem Laden”, sagt Boris. “Ich selbst freue mich morgens auf meinen doppelten Espresso und auf meine beiden Mitarbeiter, die darüber hinaus auch meine Freunde sind.” Um im Lokal eine freundliche und entspannte Stimmung zu schaffen, bietet Lambiek der Kundschaft Kaffee oder ein anderes Getränk an. Man nimmt sich Zeit für sie, und freitags ab 17 Uhr gibt es jeweils einen Apéro, man trinkt mit den Stammkunden*innen im oder vor dem Laden ein Bier. “Die Einstellung meines Vaters gegenüber den Kund*innen war etwas weniger entspannt. Er war der Ansicht, sie müssten dankbar sein, in seinem Laden, dem besten von allen, überhaupt einkaufen zu dürfen. Bei mir hingegen ist der Kunde Königin”, sagt Boris.
Natürlich ist Boris mit Comics in der Muttermilch aufgewachsen: “Mein Vater brachte mir tonnenweise Comics mit, und wenn ich sie gelesen hatte, kaufte er sie mir für 25 Cents zurück, um meinen Unternehmergeist zu wecken. Unterdessen bin ich ein sehr verwöhnter Leser, ich lese nur noch, was mich wirklich interessiert.”
Die bestverkauften Comics bei Lambiek sind immer noch die franko-belgischen. Doch die Nachfrage nach den Werken dieser alten Meister wie André Franquin ist rückläufig. Eine Ausnahme bilden die Bücher des auch schon verstorbenen Jean Giraud alias Moebius, die von allen bei Lambiek sehr ge-schätzt und deshalb mit besonderem Engagement verkauft werden. Die jüngere Kundschaft kauft gerne englische Alternativ-­Comics, ihnen empfiehlt Boris mit Erfolg Comics aus den Neunzigerjahren, z.B. von Chester Brown, Joe Matt und Chris Ware, weil er sich bei diesen Autoren gut auskennt. Auf die Frage, was er mit den beim letzten Umzug vor acht Jahren aussortierten Büchern gemacht hat, seufzt er: “Wir haben sie behalten, jetzt lagern sie zum Teil hier im Untergeschoss, wo es aussieht wie im Keller des Château de Moulinsart von Kapitän Haddock. Bücher wegwerfen ist einfach zu hart.”

Das Gespräch mit Boris Kousemaker wurde am 7. Juli 2023 im Comic-Shop Lambiek in Amsterdam von David Basler geführt.







SUPER HÉROS Paris

David Basler

Tu gagnes ta vie ou tu la vis Da waren einst zwei befreundete Paare, unzufrieden mit ihrem Leben in Frankreich. Unter ihnen Daniel Coyne, der als Buchhalter und Treuhänder arbeitete und sehr gut verdiente. Nach einem missglückten Versuch, zusammen in die USA auszuwandern, kamen sie auf die Idee, einen Comic-Verlag zu gründen, mit einer dazugehörigen Buchhandlung. 1982 wurde Super Héros eröffnet, der Gedanke hinter dem Namen der Buchhandlung war, dass die Superheld*innen künftig nicht mehr Amerikaner*innen, sondern Französ*innen sind. Damals gab es in Paris nur drei Comic-Läden.
“Da diese alle an der Rive Gauche waren, eröff­neten wir unseren an der heutigen Adresse an der Rive Droite, beim Centre Pompidou”, sagt Daniel.
Im Eröffnungsjahr erschienen in Frankreich jährlich nur gerade 400 neue Comic-Alben. So nahm Super Héros von Anfang auch Comic-Hefte und Merchandising ins Sortiment auf, schliesslich musste man den Laden irgendwie füllen. Anfangs der 90er-Jahre machte die Drucktechnik grosse Fortschritte, die es ermöglichten, farbige Bücher billiger zu drucken. “Vorher musste man als Verlag 12’000 Bücher verkaufen, um ein farbiges Buch zu amortisieren. Danach rechneten sich auch
kleinere Auflagen, was der Produktion enorm Schub gab. Verlierer*innen sind die Autor*innen, die kleinere Honorare erhalten, weil diese nach den Verkaufszahlen berechnet werden”, sagt Daniel.
Die Motivation der Gründer*innen war der Spass an der Sache, ganz nach dem Motto: “Entweder du lebst, um zu arbeiten oder du lebst” (Tu gagnes ta vie ou tu la vis). Doch im ersten Jahr gab’s vor allem viel Arbeit und wenig Spass. Nach einem Jahr warf die Buch­handlung immerhin so viel ab, dass sich zwei der vier Gründer*innen den Mindestlohn auszahlen konnten. 1984 grün­deten sie dann den Verlag Reporter. Anfänglich publizierte dieser vor allem Luxusausgaben und limitierte Auflagen. Zu dieser Zeit lernten sie die Ex-Frau des Zeichners Moebius kennen, die bei der Scheidung als Abfindung alles ausser den Rechten an den Comic-Büchern bekommen hatte. Reporter hat dann für sie mit Erfolg den Vertrieb der Plakate, Siebdrucke, Originale etc. übernommen.
“Wir kannten auch Art Spiegelman gut, hatten sein Raw Magazine im Sortiment und wollten seinen Bestseller Maus auf Französisch übersetzen und verlegen, doch der von den amerikanischen Rechte­inhaber*innen verlangte Preis war zu hoch”, er-zählt Daniel. 1989 wollte sein Freund und Partner nur noch als Verleger tätig sein und kümmerte sich fortan ausschliesslich um Reporter. So blieb Daniel die Buchhandlung. Damals ging es mit dem Comic-Markt in Frankreich erst richtig los. Daniels Ziel war, junge Autor*innen zu fördern, die im Umfeld des gerade gegründeten Verlages L’Association bekannt geworden waren. So kam es dazu, dass Joan Sfar, Lewis Trondheim und Marjane Satrapi und viele andere ihre erste Signierstunde bei Super Héros absolvierten. Von Satrapis Persepolis gingen allein bei Super Héros zehn Prozent der ersten französischen Auflage über den Ladentisch!
Daniels Partner ist leider schon 1999 gestorben, seine Frau hat Reporter noch als reinen Vertrieb weitergeführt, aber keine Bücher mehr verlegt.
2005 stellte Daniel für den Comic-Laden einen Geschäftsführer ein und gründete mit zwei anderen Buchhändlern Canal BD, eine Einkaufs-Genossenschaft, der heute 140 selbstständige Comic-Buchhändler*innen angehören. Damit konnten sie mit Verleger*innen auf Augenhöhe verhandeln und erreichten, dass alle bei Canal BD, auch kleine Comic-Shops, dieselben Einkaufsrabatte erhalten. Die Verlage anderseits haben den Vorteil, nur noch eine Ansprechperson zu haben, statt mit 140 die Einkaufsrabatte einzeln aushandeln zu müssen. Dazu bietet Canal BD ihren Genossenschafter*­innen eine EDV-Plattform mit Website und ein gemein­sames Betriebswirtschaftsystem an und handelt mit den Verlagen exklusive Spezialausgaben aus, die dann nur in den Canal BD-Läden erhältlich sind. Bei Canal BD hat jeder eine Stimme, egal, wie umsatzstark die einzelnen Genossenschafter*­innen sind. Der Austausch untereinander klappt bestens.
Mit der Website hat man eine tolle Alternative zu Amazon aufgebaut. Die Super Héros-Website ist in Canal BD integriert, wo jeder Laden sein eigenes Schaufenster hat. “Bestellt jemand über Canal BD online bei Super Héros und wir haben das Buch nicht, werden die Kund*innen auf den nächstliegenden Laden hingewiesen, der das Buch an Lager hat. Und natürlich kann man sich das Buch auch zu-schicken lassen”, meint Daniel.
Bis 2020 wurde Super Héros hierarchisch geführt. Es arbeiteten ein Geschäftsführer, drei Verkäufer*­innen und zwei Auszu­bildende. Die Verkäufer*­innen packten die bestellten Bücher aus, arbeiteten an der Kasse, schickten unverkaufte Bücher zurück. Kund*innen wurden vom Ge-schäftsführer empfangen und beraten; dazu machte er den Einkauf und organisierte Sig­nierstunden und Ausstellungen.
Mit dem Internet und der enorm gewachsenen Anzahl Titel hat sich die Lage verändert. Früher kannte man noch alle Neuheiten und die Kund*­innen waren froh um Beratung, heute haben sich diese bereits im Internet umgeschaut und wissen mehr oder weniger, was sie wollen. So hat Daniel, nachdem der langjährige Geschäftsführer gegangen ist, wieder im Laden angefangen zu arbeiten und ihn radikal umgestellt. Mit neuen Leuten, mehrheitlich Frauen, ist die Hierarchie nun flach, alle machen alles. Denn auch die Kundschaft hat sich geändert, thematisch ist der Comic über Fantasy, Abenteuer und Humor hinaus gewachsen. Feministische Themen laufen heute sehr gut, vielleicht weil Männer immer weniger lesen, Frauen aber eher mehr. Was Super Héros jedoch total verpasst hat, ist das Aufkommen der Manga, weil der Einkauf damals ausschliesslich vom Geschäftsführer besorgt wurde, und er sich nicht dafür interessierte.
Sammler*innen als Kund*innen gibt es bei Super Héros immer noch, man muss sie aber pflegen. Früher gab es noch die sogenannten “Schachtel”-Kund*innen: “Diese Kund*innen hatten je eine eigene Schachtel, in die wir ihnen die Neuerscheinungen legten; sie kauften schlicht alles. Später begannen sie, auszuwählen, entweder weil es zu viele neue Titel gab oder weil ihnen das Geld ausging. Einige verlegten sich dann auf das Sammeln von Originalseiten”, sagt Daniel, der noch bis 2026 weiter­machen will. Was nachher mit dem Laden passiert, kümmert ihn momentan nicht.

Das Gespräch mit Daniel Coyne wurde am 5. Juli 2023 an der Rue Saint Martin in Paris von David Basler geführt.








PAPIERS GRAS Genf

David Basler

Das Papierschiff in der Rhône Die Galerie Papiers Gras ist untrennbar mit dem Namen ihres Gründers, dem Genfer Roland Margueron, verbunden, der sie 1981 an der Rue de Voltaire in Genf ins Leben rief. Zuvor hatte er bereits einen ersten, nicht sehr langlebigen Comic-Shop gegründet. Ohne festen Laden verkaufte er sechs Monate lang Comics an einem Stand auf dem Flohmarkt. In dieser Zeit entschied er sich, ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Seine zukünftige Buchhandlung sollte Papiers Gras heissen, in Anspielung auf ein Buch von Gérald Poussin, dem renommierten Zeichner und Künstler aus Carouge. “Papier Gras” nennt man auf Französisch das Papier, das zum Einwickeln von Lebensmitteln verwendet wird. “Der Name hat mir sehr gefallen, denn zu der Zeit hatten Comics einen schlechten Ruf, und für viele Menschen waren sie nicht mehr wert als Wurstpapier”, sagt Roland.
Roland wusste, dass er auf die Unterstützung vieler Zeichner*innen aus seinem Bekanntenkreis zählen konnte. Aber auch renommierte Comic-Künstler wie Enki Bilal, Jacques de Loustal, Milo Manara, Jacques Tardi, Tanino Liberatore und Will Eisner liessen sich gerne nach Genf einladen. Da der Laden sehr klein war, wurden die Ausstellungen in Zusammenarbeit mit dem Centre Marignac du Grand Lancy und später in der Maison des jeunes et de la culture de Saint-Gervais (MJC) in der Innenstadt organisiert. Gleichzeitig veranstaltete Roland auch Rockkonzerte mit den Bands von Comic-Stars wie Frank Margerin oder Philippe Vuillemin, und beim Festival Twist & Scooter, das in drei Tagen 25’000 Zuschauer*innen anzog, war er Mitorganisator. Die für diese Anlässe erstellten Plakate sind legendär und zu Sammlerstücken geworden.
Aufgrund des wachsenden Erfolgs zog die Galerie Papier Gras 1987 an ihren heutigen, sehr speziellen und überaus prominenten Standort in den Halles de l’Île, dem eins­tigen Schlachthof, mitten in Genf auf einem Inselchen in der Rhone gelegen. Ein Ort, an dem man sich wie auf dem Deck eines Ozeandampfers fühlt. Hier findet man ein ausgewähltes Comic-Sortiment, zudem werden regelmässig etwa zehn Ausstellungen pro Jahr von renommierten französischen Comic-Künstler*innen sowie Autor*innen aus der Region präsentiert. Roland ist stolz darauf, der erste Genfer gewesen zu sein, der schweizerdeutsche Zeichner wie Thomas Ott, Anna Sommer oder Yves Noyau ausgestellt hat. Seit Jahrzehnten bleiben diese Künstler*innen der Galerie treu, so wie auch das Memphis Design Collective von Ettore Sottsass aus Mailand oder preisgekrönte Animationsfilmer wie Michael Dudok de Wit und Georges Schwizgebel.
Als Kapitän an Bord zählt Roland oft auf Mitarbeiter*innen, die selbst junge, talentierte Künstler*innen sind. Derzeit kümmert sich Fabian Menor um die Website und die Newsletter. Die Hierarchie ist klar definiert: «Ich entscheide immer alleine, aber ich arbeite in der Galerie sehr gerne mit Künstler*innen der jungen Generation zusammen.»
Während vier Jahrzehnten hat Roland beobachtet, wie sich die Welt der Comics entwickelt hat. Heute interessiert ihn vor allem, dieses Genre in all seinen Facetten weiterhin zu unterstützen, Mediation, Vernetzung, Förderung sind seine Mission. Sein langjähriges Engagement führte dazu, dass die Stadt Genf den Prix Töpffer mit je CHF 10’000 Preisgeld ins Leben rief und zudem den drei jungen Finalist*innen ermöglicht, ihre unveröffentlichten Werke zu präsentieren. Jedes Jahr organisiert Roland zusammen mit der Haute École d’Arts Appliqués (HEAD) den Prix Cryptogame, der die Veröffentlichung des ausgewählten Projekts und eine Ausstellung bei Papiers Gras ermöglicht. Die diesjährige Preisträgerin, Léa Vautravers, hat den Comic über Papiers Gras in dieser Ausgabe gezeichnet. Zudem wird in Genf bald ein Comic-Museum eröffnet – zweifellos haben Zeichner*innen und Verleger*innen in Genf mehr Möglichkeiten und finanzielle Unterstützung als andernorts.
Als Galerist und Buchhändler muss Roland ständig seine Rolle überdenken, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. Derzeit entwickelt er den Online-Verkauf weiter, der während der Pandemie an Bedeutung gewonnen hat. Er stellte fest, dass sich Liebhaber*innen und Sammler*-innen des Medium Comics vermehrt dem Online-Verkauf zuwenden, was er be-dauert, da dabei seiner Meinung nach nicht die Leidenschaft, sondern eher die Spekulation beim Kauf von Originalwerken, die zwischenzeitlich hohe Preise erzielen können, im Vordergrund steht.
Ausserdem hat sich die Comic-Verlagswelt stark verändert, hauptsächlich mit dem Aufkommen von Manga, die sich in Millionen-Exemplaren verkaufen. Jugendliche weltweit bevorzugen Manga vor den klassischen Comics, die ihre Eltern lasen. In Frankreich löste sich zunehmend die Grenze zwischen kleinen unabhän­-gigen Verlagen und grossen Verlagshäusern auf, da Letztere nun auch Graphic Novels veröffentlichen würden, sagt er.
Die meistverkauften Comics bei Papiers Gras sind immer noch diejenigen anerkannter Autoren wie Jacques Tardi oder Enki Bilal und Reihen wie Blake et Mortimer oder Blacksad. Aber auch Autoren wie Miles Hyman, Thomas Ott, Bastien Vivès oder Riad Sattouf laufen gut, wie auch die Genfer Autor*innen Pierre Wazem, Tom Tirabosco, Peggy Adam oder Isabelle Pralong. “Ein Chris Ware wird nie hohe Verkaufszahlen erzielen, aber er bleibt kulturell wichtig, genauso wie Winshluss, Antoine Marchalot in Frankreich, oder Helge Reumann, die ich alle fantastisch finde”, sagt Roland.
Papiers Gras bleibt ein gastfreundlicher Ort, an dem sich Autor*innen und Comic-Fans bei Ausstellungseröffnungen oder den zahlreichen Signierstunden treffen und austauschen können. Obwohl es für ihn zunehmend schwieriger wird, freut sich Roland darüber, dass der Comic seine verdiente Anerkennung gefunden hat. In Frankreich wird er als “Neunte Kunst” bezeichnet, und vor kurzem wurde die franzö­sische Zeichnerin Catherine Meurisse in die Académie des Beaux-Arts aufgenommen, was eine wichtige Würdigung für diese Ausdrucksform darstellt.

Das Gespräch mit Roland Margueron wurde am 25. Juni 2023 in den Halles de l’Île in Genf mit David Basler geführt.







Das geschriebene Wort

Wolfgang Bortlik

Es war einmal eine Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat. Diese schöne Märcheneinleitung ist vielleicht ein ganz guter Einstieg in die folgenden Ausführungen.

Es war einmal nicht nur in der Schweiz eine Zeit, da kam das Wissen zumeist aus dem Kopf, der vorher in einem Buch gesteckt und dieses gelesen hatte. Optimal war selbstverständlich, wenn das der eigene Kopf war, der nicht in einem fremden Arsch gesteckt hatte.
Der Märchenonkel erzählt im Folgenden von früher, wie das war, vor gut 40 Jahren.

Es war eine Zeit, da gab es kein Internet, kein Wikipedia, keinen schnellen Zugriff auf Wissen, ausser man hatte selbst eine anständige Bibliothek oder eine in der Nähe. Oder es gab eine gute Buchhandlung um die Ecke oder in der nächsten Stadt.
Es war einmal …
Gegen Ende der 1970er-Jahre befanden wir uns in analogen Zeiten, und es war eine theorielastige Welt da draussen. Was man nicht alles lesen musste, um nicht als vollendeter Trottel dazustehen: über die Welt und ihre Vorstellungen, aber auch von den Ahnungen anderer Welten.
Gerne wollte man die bestehende Welt verändern, schöner und lebenswerter machen – dazu gab es viele schöne Gedanken und Anleitungen zur Praxis, alles in Bücherform. Am besten machte man gleich selbst eine Buchhandlung auf. Oder man fuhr nach Zürich, um sich den neu eröffneten Laden, das Paranoia City, anzuschauen.
“Wir möchten Bücher geniessbar machen, sie nicht in einer Warenhaus-Atmosphäre schal werden, sondern sie anstacheln lassen. So soll denn bei uns das Buch nicht nur Kaufobjekt, sondern auch Diskussionsobjekt sein, wobei wir lieber im Sitzen diskutieren und deshalb eine Sitzecke eingerichtet haben.” So stand es in der Selbstbeschreibung. Heutzutage, da Buchhandlungen oft einem Friedhof der Kuscheltiere gleichen, ist zumindest letzteres Anliegen erfüllt.
Im damals düsteren Paranoia-Ladenlokal standen prominent die schwarzen Bände des Karin Kramer Verlags aus Berlin: Michail Bakunins Werke in drei Bänden, die Gegenseitige Hilfe im Tier- und Menschenreich von Pjotr Kropotkin, der in seiner Untersuchung Darwins Konzept vom Kampf ums Überleben als Schwindel entlarvte usw. Ein Schatz des Wissens, des Widerstands und der Utopie. Gleich daneben lagen Underground-Comics, aktuelle Geschichten- und Geschichtsbücher, etwas Kunst, viele Zeitschriften und ja, auch der eine oder andere Roman.
Uns Aarauer*innen war klar, ein anarchistischer Buchladen musste her! Was die Zürcher*innen können, das können wir in unserem Städtchen auch. So entstand das Goldene Kalb in der Hauptstadt des heute so unseligen SVP-Kantons.
Der Märchenonkel geriet in die Fänge des Buches. Bücher sind eigentlich eine verdammte Droge, dachte er und buckelte sie kistenweise herum, verpackte sie und sandte sie an Schweizer Buchhandlungen. Er arbeitete in einer sogenannten Verlagsauslieferung mit dem vielversprechenden Namen buch & information.
Es war das Jahr 1980, bald sollte die Schweiz wegen der unzufriedenen Jugend ex- bzw. implodieren, auch wegen der kulturellen Drög- und Dummheit. Steht alles in den Büchern, die in den nächsten Jahren erscheinen werden.
Und was steht da im Lager der Auslieferung, bereit dazu, in den Schweizer Alltag hinausgeliefert zu werden? Bakunin, Werke 1–3; Emma Goldmans Mein Leben, ausnahmsweise nicht im schwarzen Einband, sondern rot, aber auch in drei Bänden; dazu Kropotkin, Louise Michel, Malatesta, Erich Mühsam, Bücher, geschrieben, um die Welt zu erschüttern – seit gut 100 Jahren.
Der Schweizer Buchhandel vor den 1980er-Jahren war ein recht trüber, kulturbourgeoiser Acker, aus dem mit der Zeit aber auch schön schillernde Blumen wuchsen. Aufmüpfige Buchhandelslehrlinge machten ihre eigenen Läden auf. Und die Linken, ja, die Kommunisten, die Sozialisten und die Anarchisten, aber vor allem die Frauen – sie eröffneten Buchhandlungen mit Info- und Tee-Ecke, grossen Regalen für all die Alternativzeitschriften und theoretischen Magazine, die es damals als Papierausgaben gab.
Da existierte sogar eine Art Verband des linken und alternativen Buchhandels! Mehr oder weniger dabei waren aus Zürich die Läden Paranoia City, Rathausbrücke, Buchhandlung und Verlagsaus­lieferung Pinkus, buch & information aus Affoltern am Albis, aus Basel die Buchladengenossenschaft, der Funke, Annemarie Pfister, aus Bern die Münstergasse bzw. der Frauenbuchladen, Comedia St. Gallen, das Goldene Kalb in Aarau, Raeber in Luzern, das Narrenschiff in Chur, Oberi Gass in Baden und weitere Läden in Schaffhausen, Fribourg, Biel – sicher habe ich ein paar vergessen, sorry! Viele dieser Buchhandlungen waren früher oder später Genossenschaften, eine gute Organisationsform mit breiter Beteiligung. Selbstverständlich gab es auch heldenhafte Einzelgänger*innen. Einige dieser Buchhandlungen gibt es immer noch.
Ausserdem tobte in den frühen 1980er-Jahren die Diskussion über die Selbst­verwaltung von Betrieben (der Grossteil davon waren Beizen) und ein diesbezügliches Netzwerk in der Schweiz. Der Märchenonkel erinnert sich an viele Diskus­sionen, in denen es vor allem um Geld ging. Das war peinigend, deswegen hat er quasi alles von damals vergessen.
Aber zurück zu den Buchhandlungen: Welche Ware ging damals über den Ladentisch? Das waren Bücher, die es heutzutage echt schwer hätten, beispielsweise die Cartoons des genialen französischen Zeichners Reiser, Texte des deutschen Romanciers und Edelpolemikers Eckhard Henscheid oder Gedichte des Anarchosurrealisten Benjamin Péret. Dessen Gedichtbändchen Les couilles enragées erschien 1980 auf Deutsch, vorsichtshalber unter dem nicht ganz korrekt übersetzten Titel Die tollwütigen Oden. Denn ja, auch damals gab es Zensur, weil sich gar mancher “nicht wohlfühlte dabei”, wenn er gewisse Sachen las.
Auch über einen damaligen Geheimtipp müssen wir reden: Der Roman Kokain von Pitigrilli war weisser Zucker für alle, denen das linke Lager zu schal war. Von diesem merkwürdigen italienischen Autor stammt der schöne Spruch: “In der Kunst fängt man als Brandstifter an und als Feuerwehrmann hört man auf.” Pitigrilli, geboren als Dino Segre, hat diesen Spruch glänzend eingelöst – er wurde vom Libertin oder Freigeist zum Katholisch-Konservativen und distanzierte sich von seinen frühen Büchern.
Gute Buchhandlungen waren eine Art alchemistisches Labor, in dem alle Zutaten für das Weltverständnis im Regal lagen, aber auch die Kritik an den Zuständen und viele gute Ideen, das Elend zu überwinden. Um 1980 wurde die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhundert wiederentdeckt und aufgesogen: Dada, die Frauen des Surrealismus, die Lebenswerke grosser Einzelgänger wie Franz Jung, Ernst Fuhrmann oder Adrien Turel erschienen erneut in Buchform. Doch selbstverständlich waren das keine Bestseller. Auch linke Buchhändler*innen mussten ökonomisch denken, die Ladenmiete und ein kleines bisschen Lohn mussten irgendwie bezahlt werden. Zum Glück gab es sogar linke oder alternative Bestseller, welche Geld in die Kassen spülten, wie etwa das Buch Der Papalagi, eine Zivilisationskritik aus der Sicht eines Südseehäuptlings, 1920 verfasst von einem gewissen Erich Scheuermann. Ein anderer Hammer war Der Tod des Märchenprinzen von Svende Merian, ein Gejammer über die Macho-Männer der Achtzigerjahre. Letzteres kann man vielleicht mit einem heutigen Bestseller, dem Blutbuch von Kim de l’Horizon vergleichen: Ein Hype wird losgetreten, alle kaufen das Buch, aber kaum jemand liest es.
Bevor es zu den 1980er-Unruhen kam, las im Sommersemester 1978 an der Universität Zürich ein Mann namens Hans Peter Duerr im Fach Ethnologie über Traum und Traumzeit, ein Semester später über Unterdrückt die Zivilisation unsere Sinnlichkeit?. Wenn ich mich nicht irre, hielt zeitgleich an der ETH der anarchistische Erkenntnistheoretiker Paul Feyerabend Vorlesungen. Das war Veränderungsdramatik pur, denn beide waren ausgesprochene Gegner des akademischen Betriebs. Duerrs damaliges Buch Traumzeit wurde ein respektabler Bestseller im linken Buchhandel. Wer die Schwarte nicht hatte oder kannte, war eine Wurst. Vordergründig geht es in Traumzeit um die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, auf der Hecke dazwischen sitzt die Hexe (Hagazussa), die fliegen kann. Traumzeit war ein Buch, das kaum jemand “verstand”, deswegen war es ja so grossartig, weil es eben eine andere Welt aufscheinen liess, eine andere Art des Verstehens verlangte. Und das Buch spülte durchaus Geld in die Kassen des kritischen Buchhandels.

So, jetzt hat der alte Märchenonkel genug erzählt und geschwafelt, er schweigt fürderhin. Dieser Text ist auch geschrieben im Gedenken an den kürzlich ver­storbenen Tomi Geiger, Mitbegründer des Paranoia City-Ladens.
Und, Moment, doch noch: Bücher!
Für die, welche eine Reise in die Vergangenheit unternehmen wollen, also nur im Kopf, nicht wahr, wegen dem ökologischen Fussabdruck, denen sei der neue Roman von Wu Ming, dem obskuren Literaturkollektiv, empfohlen. Erzählt wird von Italien im Jahr 1978, von Ufologen, der Entführung von Aldo Moro, den drei Päpsten in jenem Jahr, der Fussball-WM in der Militärdiktatur Argentinien … insgesamt eine brillante Polit-Thriller-Mischung!

Wolfgang “Märchenonkel” Bortlik

Playlist

Wu Ming: “UFO 78”.
Assoziation A, Hamburg 2023,
448 S., Hardcover
ca. CHF 34.— / EUR 28

“Les couilles enragées” gehört zum französischen Kulturkanon und ist gerade als Buch wieder aufgelegt worden.

“Traumzeit” ist offensichtlich bei edition suhrkamp immer noch lieferbar.







PFLICHT LEKTüRE


Onofrio Catacchio, Doug Headline, Luana Vergari: “Jean Ray’s Harry Dickson. 1. Mysteras”

Sherlock Holmes in Pulp

Die erfolgreiche Autorin Miss Delphina Cruyshank lebt abgeschottet in der Krone eines futuristisch anmutenden Turms mit Glaskuppel. Von unten gesehen, hebt sich die schwarz-grau-blaue Silhouette des Bauwerks gegen einen purpurfarbenen Nachthimmel voller Sterne ab – schon die ersten Bilder des Comics Jean Ray’s Harry Dickson. 1. Mysteras etablieren eine unheimliche und phantastisch angehauchte Stimmung, die auch auf den folgenden ereignisreichen Seiten andauert. Miss Cruyshank beobachtet per Teleskop eine neuartige Hinrichtungsmethode im Gefängnis gegenüber. Kurz darauf ist sie spurlos verschwunden – zurück bleibt nur ein unfertiges Manuskript ihres neuesten Romans Mysteras. Der Wissenschaftler, der die Todesspritze gab, wurde ermordet, und der Seziertisch, auf dem die Leiche des Hingerichteten lag, ist leer.
Gut, dass Detektiv Harry Dickson und sein junger Assistent Tom Wills gerade von einem Angelausflug in Schottland nach London in die Baker Street 111B zurückkehren. Ihre Vermieterin, Ms. Crown, bringt die Herren sogleich auf den Stand der Dinge, den Rest erfahren die beiden wie auch die Leser*innen durch die Lektüre der Zeitungen.
Harry Dickson und Tom Wills wohnen nicht zufällig nur ein paar Häuser weiter als ihre literarischen Kollegen Sherlock Holmes und Dr. Watson. Der belgische Autor Jean Ray (ein nom de plume des 1887 in Gent geborenen und 1964 ebenfalls dort gestorbenen Raymond Jean-Marie De Kremer) hatte Ende der 1920er-Jahre den Job angenommen, eine Reihe von ursprünglich deutschen Krimi-Heften über Harry Dickson, den amerikanischen Sherlock Holmes, zu übersetzen. Ray fand die Texte so schlecht, dass er schliesslich auf Grundlage der Originalserie eigene Geschichten schrieb, eine haarsträubender als die andere.¶ Nun haben der Autor Doug Headline (Sohn des Schriftstellers Jean-Patrick Manchette) und seine Kollegin Luana Vergari mit Mysteras einen ersten Fall des “amerikanischen Sherlock Holmes” (der allerdings in London sesshaft ist) in ein Comic-Szenario übertragen, das der italienische Zeichner Onofrio Catacchio in franko-belgischem Stil mit abwechslungsreicher Seitenarchitektur und knalligen Lautmalereien in Bilder gesetzt hat. Der Japaner Hiroyuki Ooshima leuchtet die Story voller überraschender Wendungen mit expressiver Farbgebung perfekt aus. Eine herrliche Pulp-Lektüre, die nach Fortsetzung schreit.

Barbara Buchholz

Onofrio Catacchio, Doug Headline, Luana Vergari: “Jean Ray’s Harry Dickson. 1. Mysteras”.
Colorierung: Hiroyuki Ooshima,
übersetzt aus dem Französischen von Resel Rebiersch,
Schreiber & Leser, 64 S.,
Hard­cover, farbig,
ca. CHF 25.— / EUR 17.95

Joris Mertens: “Das grosse Los” / Joris Mertens: “Béatrice”

Béatrice und das grosse Los

Mertens hat knapp 30 Jahre beim Film als Set Designer, Art Director, Illustrator, Storyboarder, Fotograf und Grafikdesigner gearbeitet – bei belgischen und europäischen Filmpro­duktionen. Dann, im Alter von 50 Jahren, veröffentlichte er einen Comic mit dem Titel Béatrice, der von der Kritik mit Lob überschüttet wurde. Auf dieses erfolgreiche Debüt liess er gleich einen zweiten Hit folgen, Das grosse Los. Ob ihm wohl die Pandemie Raum und Zeit für die Entstehung der Comics gegeben hat? Wie dem auch sei – sein Debütalbum Béatrice begeisterte Leser*innen, Kritiker*innen und auch Kolleg*innen in höchstem Mass. Béatrice erzählt vom monotonen Leben einer Handschuh-Verkäuferin anfangs der Siebzigerjahre in einem Kaufhaus in einer Stadt, die Brüssel ähnelt. Aufstehen, mit der Eisenbahn zum Kaufhaus fahren, arbeiten, nach Hause fahren, und dabei Françoise Sagans Bonjour Tristesse im Zug oder im Bett lesen – so sehen die Tage der jungen Frau aus. Ihr Leben wird auf den Kopf gestellt, als sie eines Morgens eine rote Tasche im Bahnhof sieht. Am Abend steht die Tasche, unbemerkt von den Menschenmassen, immer noch dort, also nimmt Béatrice sie mit nach Hause. Die Tasche entpuppt sich als ein Fotoalbum aus den 1920er-Jahren, mit Fotos, die ein junges, offensichtlich wohlhabendes Paar zeigen. Von diesen Bildern wird Béatrice in eine geheimnisvolle, luxuriöse Welt entführt, die sehr weit entfernt von ihrem eigenen Leben scheint. Der Comic ist komplett ohne Worte erzählt und zieht die Leser*innen alleine durch die unglaublich detailreichen Farbzeichnungen in seinen Bann. Hier wie auch in Mertens im folgenden Jahr entstandenem zweiten Album Das grosse Los, scheint in jedem Panel Mertens jahrelange Arbeit beim Film durch – die präzise gesetzten Licht- und Schatteneffekte, die Perspektiven und die Auswahl des Bildausschnitts, der Rhythmus – all das ist so nah an einer Filmästhetik, die zwischen Film noir und französischen Krimis der Sechziger und Siebziger zu verorten ist, wie man es selten in dieser Perfektion sieht. Gleiches gilt für die Dramaturgie, die bei beiden Comics mit einem bösen Plot-Twist aufwartet. In Das grosse Los, zeitlich und örtlich gleich angesiedelt wie Béatrice, dieses Mal aber klassisch mit Sprechblasen erzählt, trifft das Schicksal einen einsamen Fahrer einer Wäscherei, der, mit einem neuen Beifahrer konfrontiert, ebenfalls durch Zufall aus seinem Alltagstrott gerissen wird. Und natürlich spielt auch diese Geschichte im Dauerregen, der dafür sorgt, dass sich die Lichter der Grossstadt höchst attraktiv im nassen Kopfsteinpflaster spiegeln.

Christian Meyer-Pröpstl

Joris Mertens: “Das grosse Los”.
Splitter, 144 S. Hardcover, farbig,
ca. CHF 49.90 / EUR 35

Joris Mertens: “Béatrice”.
Splitter, 112 S. Hardcover, farbig,
ca. CHF 37.90 / EUR 25

Yannis La Macchia: “Naturellement”

Natürlich ein Virus

In naher Zukunft wird die Menschheit mit einem mysteriösen Computervirus konfrontiert werden, der den menschlichen Körper in unförmige Gebilde verwandelt. Auch die kleine Kommune von Idealisten, die sich von dem Rest der Welt abschottet und einen Alltag zwischen Bio-Anbau und Beziehungskonflikten lebt, ist von der Pandemie betroffen. Neben fürsorglichen Mutterfiguren, nerdigen Hipstern und einem jungen Liebespaar ist Klaus – von allen liebevoll “Pupute” (französisch für Balg) genannt – vermutlich der auffälligste und interessanteste Protagonist der Kommune. Mit seinem langen, strähnigen Haar und seinem unvorhersehbar verrückten Verhalten erinnert er nicht von ungefähr an den Schauspieler Klaus Kinski. Rastlos sucht er nach Kontaktpunkten mit der teilweise verseuchten Natur, die er auf respektvolle Art liebt.
Der in Genf lebende Autor Yannis La Macchia rief ab 2014 Menschen dazu auf, Anekdoten, Geständnisse, Lügen, Ideen für Geschichten oder Figuren mit ihm zu teilen. So sammelte er rund 400 Textfragmente, die er in seinem Buch Naturellement verarbeitete. In diesem Werk erforscht La Macchia die komplexe Beziehung der Menschen zur Natur, zur Technologie und zueinander. Naturellement zeigt das soziale Verhalten einer Gruppe von Menschen in einer Krisenzeit und kann als soziales Experiment betrachtet werden, genauso wie die Entstehung des Buches selbst ein Experiment darstellt.
Yannis La Macchia lotet immer wieder die Grenzen des Comics aus. Naturellement erscheint parallel als digitale Version auf seiner eigenen Plattform RGB Collection. Die digitale Version weist viele Ähnlichkeiten mit der gedruckten Ausgabe auf, ist jedoch nicht identisch. Die Geschichte ist für eine interaktive Leseerfahrung konzipiert. Am Ende jeder Episode kann die Leserschaft selbst entscheiden, welche Ereignisse oder Figuren sie weiterverfolgen möchte. Leider enttäuschen viele der interaktiven Comics, doch umso schöner ist es, die Printversion in den Händen zu halten. La Macchias Zeichenstil, die unkonventionelle Seitengestaltung, die Sprechblasen und die pastellene Farbpalette wirken wie eine organische Einheit.

Giovanni Peduto

Yannis La Macchia: “Naturellement”.
Atrabile, 264 S.,
Softcover, farbig,
ca. CHF 33.— / 30 EUR
Digitale Version auf:
collectionrvb.com/naturellement
EUR 6.50

Julian Voloj (Hg.): “Clayton. Der Pate der Lower East Side”

Der Pate der Lower East Side


“Jeder weiss, dass Mr. Patterson der Bürgermeister der Lower East Side ist”, beschrieb der Künstler Boris Lurie seinen Freund Clayton Patterson. “Wenn er durch die Strassen der Lower East Side geht, gefolgt von seiner Waffenmeisterin Elsa Rensaa, zittern die Bürgersteige der ehemals jüdischen Lower East Side.” Zwar nicht als Bürgermeister, aber als “Pate der Lower East Side” interpretiert eine von Julian Voloj zusammengestellte und herausgegebene Comicdokumentation den 1948 in Kanada geborenen bildenden Künstler, Fotografen, Dokumentaristen, Archivar, Geschäftsmann und Aktivisten, der 1979 pünktlich zur Hochzeit des Punk nach New York zog. Volojs Anspruch war es, den zahlreichen Facetten dieses ausserhalb von New York wenig bekannten Lebens eine ästhetische Entsprechung zu geben und hat daher unterschiedliche Comic-Zeichner*innen gebeten, jeweils eine Episode aus Claytons Leben umzusetzen, zusammengehalten von einem Fotocomic – eine Hommage an den Fotografen Patterson, der die Interviewsituation dokumentiert. Bekannte Namen sind keine darunter, wichtiger war Voloj das Interesse an Clayton und der Lower East Side. Gemeinsam ist den Zeichner*innen, dass sie einen Bezug zur Stadt New York haben, ihr Stil reicht von überwiegend am Underground-Comic angelehnten Zeichnungen bis hin zu Collagen.
Pattersons Leben ist in der Tat faszinierend: Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, schafft er den Sprung auf eine Kunsthochschule, wird Kunstlehrer und zieht schliesslich mit seiner Lebensgefährtin Elsa Rensaa nach New York. Hier wächst sein Hauptwerk – eine Dokumentation der Lower East Side in all ihren Facetten. Er archiviert leere Heroinpäckchen mit den Tags der unterschiedlichen Strassengangs, Demotransparente, Flyer, Kunst ansässiger Künstler*innen – letztlich sammelt er eine halbe Million Fotos und Tausende Stunden Videomaterial. Darüber hinaus engagiert er sich für die Legalisierung des Tätowierens – in New York bis 1997 illegal, gegen Polzeigewalt und Gentrifizierung, arbeitet als Galerist und Künstler und designt erfolgreich Baseballmützen, die Clayton Hats. Einige der Themen können in den Comics nur kurz angerissen werden, und wie es Anthologien eigen ist, gelingt es manchen Zeichnern besser, das Faszinosum Clayton Patterson zu vermitteln, während andere etwas blass bleiben. Doch soll diese Kritik nicht davon ablenken, dass mit Clayton. Der Pate der Lower East Side ein vielseitiges und facettenreiches Porträt eines bemerkenswerten Künstlers gelungen ist.

Jonas Engelmann

Julian Voloj (Hg.): “Clayton. Der Pate der Lower East Side”.
Goldenpress, 112 S.,
Hardcover, s/w,
ca. CHF 35.90 / EUR 28


Liam Francis Walsh: “Red Scare”

Kommunistenhatz und Polio

Nicht allzu oft gelingt es derart gut, einen Comic auf dem schmalen Grat zwischen Jugend- und Erwachsenen-Literatur anzusiedeln wie Liam Francis Walsh mit Red Scare. Der auf einer Farm in Wisconsin aufgewachsene Autor, Cartoonist und Illustrator für u.a. The New Yorker, Reader’s Digest, Esquire, und The Guardian lebt inzwischen mit seiner Familie in der italienischen Schweiz. Red Scare, nach zwei illustrierten Kinderbüchern seine erste Graphic Novel, entführt die Leser*innen in ein sehr authentisch geschildertes Nordamerika im Jahr 1953. Zwei Krankheiten wüten im ganzen Land, so auch in der typisch amerikanischen Kleinstadt, der Heimat der Schülerin Peggy: Kinderlähmung und die Jagd auf Kommunist*innen.
Peggy, die seit ihrer Polio-Erkrankung an Krücken geht, findet einen merkwürdigen rot schimmernden Stab, der ihr Flügel verleiht – wenn sie ihn in Händen hält, kann sie nicht nur ihre Krücken ablegen, sie kann damit sogar fliegen! Während sie in der Schule gemobbt wird und sie sich zuhause mit einem missgünstigen älteren Bruder, einer sich mit Putzjobs abrackernden Mutter, und einem bettlägerigen depressiven Korea-Veteran als Vater herumschlagen muss, gibt ihr der geheimnisvolle Stab die Möglichkeit, all die Unbill bei himmelhohen Ausflügen weit unter sich zu lassen. Doch schon bald ist das FBI hinter dem Stab und somit auch hinter ihr her. Unterstützung erhält sie von der Nachbarin, die auch auf ihre Schule geht, aber bald Opfer der “Red Scare”, der allgegenwärtigen Angst vor vermeintlich kommunistischen Umtrieben, wird, weil ihr Vater eben tatsächlich in der Kommunistischen Partei ist. Unglaublich empathisch aber zugleich auch actionreich erzählt Walsh in seinem Comic-Debüt von einer Zeit der Verunsicherung und Denunziation, die leider auch heute wieder aktuell ist.
Zeichnerisch ist Walsh von seinen erklärten Vorbildern Alan Moore, Mike Mignola, Bill Watterson und Hergé beeinflusst, muss sich aber – auch dramaturgisch – vor keinem seiner Vorbilder verstecken. Die Frage, ob der Comic nun für Jugendliche, Erwachsene oder für alle gleichermassen geeignet ist, verliert sich bei der lustvollen Lektüre schnell. Allein der hohe Preis könnte eine Verbreitung von Red Scare unter Jugendlichen verhindern.

Christian Meyer-Pröpstl

Liam Francis Walsh: “Red Scare”.
Toonfish, 240 S., Hardcover, farbig,
CHF 55.90 / EUR 39.95

Kristen Radtke: “Seek you. Eine Reise in die Einsamkeit”

Seek you – wo seid ihr?

Einsamkeit ist etwas anderes als Alleinsein. Einsamkeit ist eine Art Distanz zu anderen, die für Betroffene selbst dann nicht aufhört, wenn sie sich mitten unter Menschen befinden. “Einsamkeit fühlt sich für mich an, als wäre ich unter Wasser, als würde ich gegen eine stumme Welt ankämpfen, in der das Geräusch meines eigenen Körpers in der Stille um mich herum laut ist”, schreibt die amerikanische Autorin und Comic-Zeichnerin Kristen Radtke in ihrer Graphic Novel Seek You. Darin macht sie sich auf eine rund 350 Seiten lange Reise, um die Einsamkeit in ihren vielen Facetten zu erkunden, und um für sich – wie für andere – Auswege zu finden, die aus der schmerzlichen Selbst-Einigelung herausführen.
Radtke vergleicht die Einsamkeit mit der Liebe und liest beide als Ausdruck dessen, wie sehr eine Person mit ihren Mitmenschen verbunden ist: “Einsamkeit füllt die Lücke zwischen den Beziehungen, die jemand hat, und den Beziehungen, die jemand will.” Radtke idealisiert die Einsamkeit nicht, noch verteufelt sie sie. Sie betrachtet sie als gesellschaftliches Phänomen, das sie aufgrund ihrer Erfahrungen verstehen will.
Entstanden ist eine Graphic Novel, die Essay, Autobiografie und Sachbuch zugleich ist. Radtke verzichtet auf exzessive Nabelschau. Sie nutzt ihre Biografie, um die Ursachen und Erscheinungsformen der Einsamkeit sachlich, authentisch und eindringlich vorzutragen. Dieser Fokus auf das Phänomen, seine Erklärung und Einordnung unterscheidet Seek You von anderen Graphic Novels, die sich mit seelischen Leiden befassen, und wie sich diese auf eine Person und ihr Umfeld auswirken.
Radtke vermeidet es, Einsamkeit auf eine einzige Ursache zurückführen – auf übermässigen Smartphone-Gebrauch etwa. Vielmehr zeigt sie, dass sie verschiedene Auslöser haben kann, zum Beispiel den Verlust von Angehörigen, einen Umzug vom Land in die Stadt oder ein Mangel an Berührungen.
Auch beim Einfluss von Technologien zeichnet sie nach, wie gewisse Menschen schon vor dem Aufkommen der Social Media eher virtuelle als reale Beziehungen pflegten. Ihr Vater zum Beispiel verbrachte Stunden am Kurzwellenradio, um andere funkende Menschen aufzuspüren. Von daher stammt auch der Titel: “CQ”, (für “seek you”, “suche dich”) ist der allgemein gebräuchliche Anruf im Funkverkehr.
Bei Kristen Radtke steht der Titel sinnbildlich für die Hoffnung, dass “jede*r von uns eine Stimme hört, die Antwort gibt”. Erschienen ist Seek You im Schweizer Verlag Helvetiq, der den Comic sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch verlegt.

Florian Meyer

Kristen Radtke: “Seek you. Eine Reise in die Einsamkeit”.
Helvetiq, 352 S.
Hardcover, farbig.
CHF 39.— / EUR 29

Kurd Lasswitz: “Aus dem Tagebuch einer Ameise”

Von Menschen und Ameisen

20 Billiarden – das ist eine 20 mit 15 Nullen – Ameisen gibt es auf der Erde, haben im letzten Jahr Forscher*innen errechnet. Die Insekten kommen in tropischen, subtropischen und gemässigten Klimazonen aller Kontinente vor, manche sogar in den subarktischen Zonen Sibiriens. Dabei organisieren sich Ameisen in Staaten mit bis zu 20 Millionen Tieren, die wiederum streng hierarchisch in Kasten organisiert sind, meist mit einer Königin und einem Heer von Arbeiterinnen und Soldatinnen. Letzteres ist tatsächlich einer der grösseren Unterschiede zum Menschen, denn die Ameisenvölker bestehen vor allem aus weiblichen Tieren, Männchen gibt es nur, um die Jungköniginnen zu begatten.
Kurd Lasswitz gilt als Begründer des deutschsprachigen Science-Fiction-Genres, er widmete sich in seinem Buch Aus dem Tagebuch einer Ameise von 1908 den grossen Fragen der Menschheit. Dabei wendete er den Kunstgriff an, eine Ameise von ihren Forschungsergebnissen über das “grobschlächtige Knochentier namens Mensch” berichten zu lassen. Vor allem über den Wunsch der Menschen nach Individualismus, Freiheit und selbstbestimmtem Handeln wundert sich die Ameise, und was die Menschen unter “Liebe” verstehen, ist für sie absolut unverständlich. Lasswitz’ pazifistisches und humanistisches Weltbild findet sich in all seinen Texten wieder, und so verwundert es nicht, dass sie im sogenannten Dritten Reich verboten wurden, und danach leider in Vergessenheit geraten sind. Nun sind die Betrachtungen der Ameise in einer grossartigen Neuausgabe wieder erhältlich, mit ausdrucksvollen Illustrationen von Katia Fouquet. In ihren Zeichnungen nimmt Fouquet den Blickwinkel der Ameise ein, so dass die Menschen in Untersicht zum Teil grotesk überzeichnet und monsterhaft dargestellt sind. Denn für die Ameise stellen die Menschen allein aufgrund ihrer physischen Grösse eine ständige Bedrohung dar, auch für ihr streng hierarchisches Ameisen-Weltbild. Zugleich verachtet die Ameise die Menschen für ihren Individualismus. Wie so oft führt Angst zu Abwertung, und dieses Feindbild Mensch hat Fouquet ausdrucksvoll expressionistisch in Szene gesetzt.

Matthias Schneider

Kurd Lasswitz: “Aus dem Tagebuch einer Ameise”,
illustriert von Katia Fouquet,
Favoriten Presse, 64 S.,
Hardcover, zweifarbig,
ca. CHF 20.— / EUR 16

Ben Gijsemans: “Aaron”

Unbequeme Lektüre

Aaron verbringt den Sommer mit der Vorbereitung von Prüfungen. Gleichförmig plätschern die Tage dahin, Aaron verbringt viel Zeit am Fenster und ertappt sich dabei, wie er immer öfter einen Jungen beobachtet, der auf dem nahen Sportplatz Fussball spielt. Bald kauft Aaron einen Ball und versucht, den Buben zum gemeinsamen Kicken zu überreden.
Aaron ist eine irritierende Graphic Novel. Der Autor und Zeichner Ben Gijsemans umkreist den inneren Konflikt eines jungen Mannes, der – selber überrascht, verwirrt, ja verstört von dem, was in ihm vorgeht – seine pädophilen Neigungen entdeckt und nicht weiss, wie er damit umgehen soll. Das Thema erfordert Mut: Pädophilie ist tabu, und der künstlerische Umgang damit im heutigen Kontext rascher Empörungen eine Gratwanderung. Diese meistert Ben Gijsemans bravourös.
Aaron ist betont langsam erzählt. Formal fällt die rigide Seitengestaltung ins Auge: Jede Seite besteht aus vier mal drei gleichgrossen Bildern. Stilistisch treten überdies die langen Bildsequenzen hervor, in denen nichts zu geschehen scheint. Die Bilder wiederholen sich in leichten, eine Entwicklung oder auch Stillstand andeutenden Variationen. Ausserdem verzichtet Gijsemans auf eine Innensicht des Protagonisten, es gibt keine inneren Monologe, und wegen der Tabuisierung seiner Veranlagung kann er mit niemandem darüber sprechen. Umso wichtiger sind die Gesten des Zögerns, die Mimik des Zweifelns, die seine wachsende Verzweiflung – denn er weiss, dass sein Begehren falsch ist – zum Ausdruck bringen.
Die undramatische Erzählweise ist inhaltlich sinnvoll und ein Grund für die Wirkung dieser Graphic Novel. Aaron ist kein Spektakel, das emotional mitreisst oder intellektuell bevormundet. Die Leser*innen müssen selber nachvollziehen, was in Aaron vorgeht, wie er mit sich und seinen pädophilen Neigungen ringt.
Als Kontrast fungieren die alten Superhelden-Comics, mit denen sich Aaron ablenkt und die auch für die Leser*innen eine willkommene Entspannung bedeuten. Ben Gijsemans gestaltet seine Pastiches billiger Comic-Hefte stilsicher und liebevoll. Auch inhaltlich schafft das einen Kontrapunkt zu Aarons Tragödie. In diesen eskapistischen Fluchtwelten gibt es nur Gut und Böse und keine Grauzone des Zweifelns.
Es ist beeindruckend, wie Gijsemans das Erwachen der Pädophilie in Aaron vermittelt, ohne zu moralisieren und zu verurteilen, aber auch ohne Voyeurismus oder Sensationalismus. Das macht aus Aaron eine unbequeme, aber eindringliche Lektüre.

Christian Gasser

Ben Gijsemans: “Aaron”.
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf,
Edition Moderne, 220 S.,
Hardcover, farbig,
ca. CHF 42.— / EUR 35


Anke Feuchtenberger: “Genossin Kuckuck. Ein deutsches Tier im deutschen Wald”

Ein deutsches Tier im deutschen Wald

“Das donnernde Lachen, das auf Kerstins Ohren schlägt, bedeutet, dass der Spass vorbei ist und sie nur noch rennen sollte”, so schildert Anke Feuchtenberger die Angst der Protagonistin Kerstin in ihrem neuesten Werk Genossin Kuckuck. “Noch in der scheinbaren Sicherheit ihres Badezimmers spürt Kerstin den Sog, der von der offenen Stelle auf ihrem mit nassem Blut gefüllten Körper ausging.” “Das Unheimliche ist das ehemals Heimische, Altvertraute”, hat Sigmund Freud in seiner Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen geschrieben; vertraute Orte und Situationen, die ins Unheimliche kippen, sind es auch, die seit jeher im Mittelpunkt des Werks von Anke Feuchtenberger stehen. Dies gilt für die Bilder, die sie wählt: Masken, Doppelgänger, Totenköpfe, Gräber oder Schnitte in Körper. Es gilt aber auch für die Form ihrer Comics: Das Unheimliche stellt sich etwa durch ihre Verweigerung dar, Erklärungen für die Bilder anzubieten, surreale Situationen aufzulösen oder auch nur eine auf den ersten Blick zu erfassende Handlung voranschreiten zu lassen. “Ich hatte immer das Gefühl, noch mehr verkürzen zu wollen”, so Feuchtenberger in einem Interview. “Noch kürzere Texte und weitere Sprünge zwischen den einzelnen Bildern, so dass man von einem Bild zum nächsten das Gefühl hat, dazwischen würden ziemlich viele Bilder liegen, die ich nicht zeichne.” Diese nicht gezeichneten Bilder, in denen das Unheimliche in der Vorstellung der Leser*innen fortgeführt wird, verweisen auf das Verdrängte, das für Freud im Zentrum des Unheimlichen steht. Von dieser Suche nach dem Verdrängten, nach dem ins Unbewusste Abgedrängten, handelt auch Genossin Kuckuck, das als autobiografische Auseinandersetzung mit dem Aufwachsen in der DDR – als “Ein deutsches Tier im deutschen Wald”, wie es im Untertitel heisst – gelesen werden kann. Tiere spielen ebenso wie der Wald eine zentrale Rolle, eng verknüpft mit Dunkelheit, Feuchtigkeit, Pilzen, Schlamm und Schleim. Daneben finden sich düstere Zeichnungen von Landschaften. Feuchtenberger setzt sich in detailreichen Kohle­zeichnungen, in meist nur zwei Panels pro Buchseite, mit ihrem kindlichen Selbst auseinander, befragt ihre Vergangenheit nach Kriegstraumata der Elterngeneration und deren Auswirkungen auf die Erziehung, nach Missbrauch und Abhängigkeiten, Freundschaften und schwierigen Familienstrukturen. Die Sprache bewegt sich in ähnlichen Formen wie die Bilder, zwischen surreal und konkret, zwischen Andeutung und Anklage. Zwischen 2009 bis 2023 ist das Buch gewachsen und es ist, wenn man sich darauf einzulassen bereit ist, Feuchtenbergers Meisterwerk geworden.

Jonas Engelmann

Anke Feuchtenberger: “Genossin Kuckuck. Ein deutsches Tier im deutschen Wald”.
Reprodukt, 448 S.,
Hardcover, s/w,
CHF 58.50 / EUR 44

Sammy Harkham: “Blood of the Virgin”

Harkham im Offbeat

Ich weiss nicht, ob andere Leser*innen diesen Rhythmus ebenfalls spüren, aber für mich scheint es, als ob Harkham im Offbeat erzählen würde, als ob sich seine Geschichte jeweils zwischen den Herzschlägen seiner Figuren vorwärtsbewegen würde. Im Laufe der Jahre hat sich Harkham zu einem hervorragenden Zeichner entwickelt – sein Stil, eine Art amerikanische Ligne claire, ist von klassischen Strip-Künstlern wie Roy Crane und Frank King beeinflusst, aber letztlich ist es sein visuelles Tempo, das ihn am meisten auszeichnet.
Harkham kennt man als Herausgeber von Kramers Ergot, einer Publikation, die man ohne Weiteres als die bedeutendste und einflussreichste amerikanische Comic-Anthologie seit RAW bezeichnen könnte. Während Art Spiegelman und Françoise Mouly ihre Generation von Underground-Comic-Zeichner*innen erfolgreich als Künstler*innen porträtierten, kümmerte sich Harkham im Wesentlichen um die GenX/Millennial-Zeichner*innen wie Gabrielle Bell, Mat Brinkman, Jordan Crane, Kevin Huizinga, Anders Nilsen, Lauren Weinstein und Lale Westvind. (Wenn Sie Exemplare von Kramers Ergot aufspüren können, insbesondere die grossartige Nr. 7, werden Sie ungeahnte Glücksgefühle erleben).
Harkhams neues Buch, Blood of the Virgin, erschien als Fortsetzungsroman in Kramers Ergot sowie in seinem sehr persönlich gehaltenen Comic Crickets. BotV, eine beeindruckende 300-seitige Saga, handelt vordergründig von der Filmindustrie in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren, als das alte Studiosystem vom unabhängigen Filmemachen überrollt wurde. Aber die Filme, um die es hier geht, sind weder Hollywood-Blockbuster noch hingerotzte Streifen wie Quentin Tarantinos Once Upon a Time in Hollywood. Der Protagonist von BotV, Seymour, arbeitet in der Welt des Grindhouse-Kinos, aber selbst da weit entfernt von Autorenfilmern wie Roger Corman und George Romero. Seymour verbringt seine Tage und Nächte mit dem undankbaren Versuch, Filme aus minderwertigen B-Film-Rollen zusammenzuschnippeln, während er auf eine glückliche Chance hofft, die wahrscheinlich nie kommen wird.
Vordergründig geht es ums Filmemachen, aber die wahren Themen von BotV sind tiefer und komplizierter – es geht um das menschliche Bedürfnis, etwas zu schaffen; um die Anforderungen und Erwartungen in persönlichen und geschäftlichen Beziehungen; um Probleme der Identität; um den Umgang mit Widrigkeiten; um Kompromisse, die wir für uns nahestehende Menschen eingehen, und um die Ausreden, die wir für uns selbst erfinden; um die Risiken des Geldverdienens; und um die grausame Tatsache, dass selbst ein sogenannt glückliches Leben voller Sorgen und Frustrationen sein kann. Ich habe es genossen, mit Freund*innen, über dieses Buch zu diskutieren und dabei noch weitere Themen anzusprechen, wie z.B. die verschiedenen Facetten des Judentums oder die stille Aufopferung von Ehefrauen und Müttern. Seymour ist zwar der Protagonist dieses Buches, aber seine Frau Ida ist die Heldin. Die meiste Zeit des Buches ist sie nur eine Nebenfigur (leider auch in Seymours Augen), aber am Ende bekommt sie ihre eigene Geschichte und ist sogar die Hoffnungsträgerin des Buches – alles wird gut, auch wenn die Reise dorthin beschwerlich ist.
Einige von uns wurden auf Harkhams Arbeit wohl durch Poor Sailor aufmerksam, eine wortlose Geschichte, erschienen in Kramers Ergot, die später als kleinformatiges Buch mit nur einem Panel pro Seite veröffentlicht wurde. Der Titel des Buches ist eine Untertreibung, die titelgebende Figur erträgt ein Leben wie Hiob, ein Unglück jagt das nächste. Seymours Leben ist weniger ein Gleichnis, weniger tragisch, aber psychologisch ausführlicher und realistischer beschrieben als das des armen Seemanns in Poor Sailor. Und am Ende gibt es eine Art Erlösung, die weit weniger melodramatisch ist als in den fantastischen Filmen, die Seymour liebt, sondern eher dem wirklichen Leben entspricht.

Mark David Nevins

Sammy Harkham: “Blood of the Virgin”.
Reprodukt 2023, 296 S.,
Hardcover, teilweise farbig,
ca. CHF 45.— / EUR 39

Herman Melville: “Bartleby, der Schreiber” / Wolfgang Hildesheimer: “Lieblose Legenden”

“Ich würde lieber nicht …”

Moby Dick, erschienen 1851, ist sicherlich Melvilles bekanntestes Werk, aber auch seine zwei Jahre später erschienene Kurzgeschichte Bartleby, der Schreiber ist ein zeitloses literarisches Meisterwerk, das auch heute noch unterschiedlichste Interpretationen evoziert. Der Verlag Edition de Bagatelle hat nun eine von Andrea Wandinger illustrierte Ausgabe veröffentlicht. Der Verlag ist auf Initiative der Kunstakademien Leipzig und Hamburg ins Leben gerufen worden, zur Förderung der Magisterstudent*innen der Buchillustration; ein tolles Projekt, in dem bereits mehrere kanonische Texte der Weltliteratur neu illustriert erschienen sind. Bartleby ist ein junger Mann, der im New York des frühen 19. Jahrhunderts im Bankenwesen in einer Schreibstube zu arbeiten beginnt. Recht schnell eckt er mit seiner Eigenwilligkeit bei Vorgesetzten und Kolleg*innen an, denn er verweigert die Teilnahme an der Arbeit als auch am sozialen Leben mit: “Ich möchte lieber nicht”. Selbst sein Vorgesetzter, der Ich-Erzähler der Geschichte, der sehr viel Geduld und auch eine gewisse Sympathie für Bartleby hegt, dringt nicht zu ihm durch, und ist sichtlich betroffen, als er von dessen tragischem Ende erfährt. Die zweifarbigen Illustrationen von Wandinger fangen die eigentümliche Stimmung, aber auch die Komik der Geschichte elegant ein, so dass man sich noch mehr Bilder im Buch wünschte. Es ist Wandingers klarer Strich, der doch skizzenhaft bleibt, und die dezenten Schattierungen, gerade bei der Darstellung von Gebäuden, die beim Betrachten und der Lektüre grosse Freude bereiten.


Zu den Klassikern der deutschen Nachkriegsliteratur zählen Wolfgang Hildesheimers Lieblose Legenden, eine Sammlung von absurden und unterhaltsamen Kurzgeschichten. Hildesheimer gehörte zu den wenigen jüdischen Deutschen, die nach dem Nationalsozialismus aus Palästina nach Deutschland zurückkehrten. Als Maler und Zeichner hatte Hildesheimer kaum Erfolg, und so wurde er aus finanziellen Gründen Autor. Nachdem er aufgrund seiner satirischen Kurzgeschichten in die Gruppe 47 aufgenommen worden war, rissen sich die Verlage um ihn. Für die Neuausgabe der Lieblosen Legenden hat nun Christoph Ruck­häberle, Gründer des Lubok Verlages und Maler, der der Neuen Leipziger Schule zugerechnet wird, grafisch äusserst prägnante Linolschnitte gefertigt, die den Humor und die Klarheit von Hildesheimers Texten kon­genial widerspiegeln. Es ist äusserst be­eindruckend, wie Ruckhäberle in seinen Druckgrafiken sowohl expressionistische, surrealistische als auch naive Kunststile virtuos anwendet und diese in Einklang mit den Texten Hildesheimers bringt. Ein Highlight der Illustrationskunst!

Matthias Schneider

Herman Melville: “Bartleby, der Schreiber”,
Illustrationen von Andrea Wandinger,
Edition de Bagatelle, Faber & Faber, 64 S.,
Softcover, zweifarbig,
ca. CHF 25.— / EUR 20

Wolfgang Hildesheimer: “Lieblose Legenden”, Linolschnitte von Christoph Ruckhäberle,
Faber & Faber, 120 S.,
Hardcover, s/w,
ca. CHF 100.— / EUR 90


Matt Kindt: “MIND MGMT. Omnibus Band 1: Der Manager und der Futurist”

Paranormales und Mysteriöses

Wer Matt Kindts MIND MGMT beurteilen möchte, müsste eigentlich zuerst ein neues Genre der Comic-Kritik erfinden: die paradoxe Rezension. Denn raffiniert und schelmisch unterläuft der amerikanische Comic-Autor die gängigen Muster der Graphic Novels. Bereits das Cover provoziert den ersten Trugschluss, wer flüchtig hinsieht, denkt kaum an einen unterhaltsamen Comic angesichts der Aneinanderreihung psychologischer Begriffe und dem schwach angedeuteten Konterfei eines Gesichts, was zusammen mit dem enigmatischen Titel an eine wissenschaftliche Abhandlung über psychologische Kriegsführung gemahnt. Der eigentliche Titel, Der Manager und der Futurist, erscheint erst beim Aufklappen.
Dasselbe gilt für den Inhalt, denn obwohl MIND MGMT ein regelrechter Page Turner ist, der einen von der ersten Seite an fesselt, wirkt die blosse Zusammenfassung des Inhalts wie eine dröge Kopie von Marvels X-Men: Das streng geheime Regierungsprogramm MIND MGMT bildet Agent*innen mit übersinnlichen Kräften aus. Diese bekämpfen andere geheimnisvolle Menschen mit ebenfalls paranormalen Fähigkeiten.
Im Mittelpunkt der aberwitzigen Handlung steht die mässig erfolgreiche Journalistin und Autorin Meru, die über den mysteriösen Flug 815 recherchiert, bei dem alle Passagiere ihr Gedächtnis verloren haben. Bald hat sie eine heisse Spur, doch wird sie jetzt zur Gejagten; mafiöse Gestalten und Geheimagent*innen heften sich an ihre Fersen. Mit fortlaufender Handlung wird den Leser*innen immer klarer, dass Merus Leben viel enger mit dem Geheimprogramm verwoben ist als ihr selbst bewusst ist.
Matt Kindt ist ein gewiefter Erzähler, der seine Leser*innen bei der Stange halten kann, auch wenn die Handlung einige irre Wendungen nimmt (darin gleicht sie Game of Thrones). Kindt beschreitet auch neue Wege in der Darstellung, indem er am Seitenrand zusätzliche Texte neben die Panels setzt. Einerseits handelt es sich dabei um Einträge aus dem Handbuch für Agent*innen, andererseits wird darin eine fürs Verständnis relevante Nebenhandlung enthüllt.
Die amerikanische Kritik hat Kindts Zeichnungen als Schwäche moniert, und tatsächlich wirkt sein buntstiftartiger Stil bisweilen unfertig und krakelig, dennoch ist Matt Kindt ein Meister der Leser*innenführung, durchaus vom Kaliber eines Jack Kirby. Wer einmal ins Universum von MIND MGMT eintaucht, kommt so schnell nicht wieder raus. Ins Deutsche übertragen und herausgegeben hat MIND MGMT der auf Horror-Comics spezialisierte Schweizer Verlag Skinless Crow.

Florian Meyer

Matt Kindt: “MIND MGMT. Omnibus Band 1: Der Manager und der Futurist”.
Skinless Crow, 368 S.
Hardcover, farbig.
CHF 49.90 / EUR 49.90

Ram V & Filipe Andrade: “Rare Flavours”

In Teufels Küche

Rubin Baksh träumt davon, einen Dokumentarfilm über sein Lieblingsthema zu drehen, das Essen. Dieser Film soll eine dokumentarische Reise durch die Höhepunkte der indischen Küche sein und dem Publikum die kulinarische Exzellenz des Landes näherbringen, ähnlich wie es sein grosses Vorbild Anthony Bourdain, der bekannte Koch, Autor und Comic-Schöpfer, getan hat. Die Nachricht von Bourdains Tod bewegt Rubin dazu, den Schritt zur Realisierung seines Traumes zu wagen. Auf der Suche nach einem Kameramann findet er in dem jungen Mohan einen geeigneten Kandidaten, der anfangs aber nur widerwillig zusagt. Rubin möchte mit diesem Werk ein bleibendes Zeichen setzen und in Erinnerung bleiben.
Rubin Baksh ist ein “Rakshasa”, ein Dämon aus der indischen Mythologie, der traditionell als Feind der Menschen dargestellt wird und gelegentlich Menschen verspeist. Unklar bleibt, ob Rubin seinen kulinarischen Vorlieben treu geblieben ist, was ihn zwielichtig erscheinen lässt. Doch seine Leidenschaft für gutes Essen macht ihn trotz seiner dämonischen Herkunft zu einer sympathischen Figur. Ein Team aus zwei übernatürlichen Detektiven, die ihm auf der Spur sind, hegen aber Zweifel und wollen Rubin aus dem Weg schaffen…
Der erste Teil der Serie Rare Flavours verspricht dank des renommierten Autorenduos Ram V und Filipe Andrade (The Many Deaths of Laila Starr) schon viel. Ram V, selbst aus Indien stammend, setzt die mythologische Hintergrundgeschichte subtil und einfühlsam in Szene. Er verwandelt den Dämon in eine erstaunlich introspektive Figur, die die Leser*innen von der ersten Seite an fasziniert. Der “europäisch” anmutende skizzenhafte Stil und die Farbtöne von Filipe Andrades Bildern fangen die lebhafte Atmosphäre der indischen Schauplätze treffend ein. Ein besonderer Genuss für die Leser ist die Sequenz, in der erklärt wird, wie man einen guten Chai zubereitet.
Nicht nur das Setting ist für einen eher massentauglichen US-Verlag wie Boom! Studios erfrischend innovativ. Mit einem Autor wie Ram V und einem Zeichner wie Filipe Andrade haben sie die besten Zutaten für einen lesenswerten Comic zubereitet.

Giovanni Peduto

Ram V & Filipe Andrade: “Rare Flavours”. Teil 1 von 6. Auf Englisch.
Boom! Studios, 26 S.,
Softcover, farbig, USD 4.99
Die digitale Version ist auf Comixology, iBooks, Kindle u.a. erhältlich.

Adrian Pourviseh: “Das Schimmern der See. Als Seenotretter auf dem Mittelmeer”

Schlimmes Schimmern

Vor zartblauem Grund fliegt eine Gestalt in orangeroter Badehose durch die Luft, den Rücken durchgebogen, die Arme ausgebreitet. Es ist ein luftig gestaltetes Bild der Leichtigkeit, das in krassem Kontrast zu den vorangegangenen Panels voller Schwarz, dunklem Rot und grauem Blau steht.
Der abgebildete Springer ist Adrian Pourviseh, Autor und Zeichner des lesenswerten Reportage-Comics Das Schimmern der See. Pourviseh engagiert sich für geflüchtete Menschen, unter anderem ging er ab 2019 als Dolmetscher und Fotograf an Bord des Rettungsschiffs Sea-Watch 3. Die Einsätze der Crew auf dem Mittelmeer dokumentierte er nicht nur mit seiner Kamera, sondern auch mit Einträgen und Zeichnungen in seinem Skizzenbuch. Später verarbeitete Pourviseh seine Aufzeichnungen und Erinnerungen zu einem reportage-artigen Comic. In weichen Strichen und lavierten Farben, schwarzen Flächen und harten weissen Lichtstrahlen erzählt er darin aus seiner Perspektive eines teilnehmenden Beobachtenden vom “Alltag” der zivilen Seenotrettung an Europas Aussengrenzen: Besprechungen, Übungen, Briefings, Pausen – und Einsätze in kleinen Schnellbooten, um Menschen aus nicht seetauglichen Booten vor dem Ertrinken zu retten, nachts aus der im Schein von Stirnlampen und Schiffsleuchten schimmernden See, die notdürftige Versorgung schlimmer Brandwunden und anderer Verletzungen an Bord der Sea-Watch 3.
Pourvisehs Bildsprache wechselt von nüchternen, hellen Farben und ruhigen, dokumentarischen Panels zu packenden Seiten ohne Aufteilung in Kästchen, auf denen alles gleichzeitig zu passieren scheint, und vor schwarzem Grund schlaglichtartig Teile des Geschehens auftauchen. Das ist zuweilen etwas unübersichtlich, auch weil sich manche Figuren aus der Crew so ähnlich sehen, dass es schwierig ist, sie auseinanderzuhalten. Dramaturgisch ist die Geschichte aber gut aufgebaut, mit den dramatischen Rettungseinsätzen als beklemmendem Höhepunkt. In Gesprächen mit den Crew-Mitgliedern und in Kommentartexten vermittelt Pourviseh ausserdem politische Hintergründe. Die anschauliche Kombination aus beidem macht dieses Buch wertvoll.
Und wenn der Dokumentarist am Ende ins Mittelmeer springt, möchte er mit diesem Bild ausdrücken: Er hat die Freiheit, mit seinem europäischen Pass und den dazugehörigen Privilegien zurück nach Marburg zu gehen und sein Leben als freischaffender Comic-Autor weiterzuführen. Und: “Ich kann das Meer noch geniessen.”

Barbara Buchholz

Adrian Pourviseh: “Das Schimmern der See. Als Seenotretter auf dem Mittelmeer”,
Avant-Verlag, 224 S.,
Softcover, farbig,
ca. CHF 35.— / EUR 26

Naoki Urasawa: “Asadora!”

Monster, Patchworkfamilien und klapprige Flieger

Der Einstieg ist fulminant: Ein Taifun braut sich zusammen, der weite Teile von Nagoya verwüsten und die aufgeweckte, zwölfjährige Asada und ihre vielen Geschwister zu Waisen machen wird. Fortan muss sie sich allein im unübersichtlichen Nachkriegsjapan zurechtfinden.
In seiner neusten Serie Asadora! erzählt Naoki Urasawa (nach Bestsellern wie Monster, 20th Century Boys und Billy Bat) die Lebensgeschichte einer jungen Japanerin und rollt dabei die Geschichte Japans seit dem Zweiten Weltkrieg auf. Urasawa webt historische Fakten in seine Geschichte ein, um ihr mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen; gewisse Ereignisse tauchen andeutungsweise auf, andere hingegen sind tragende Elemente, so der Taifun von 1959 und die olympischen Sommerspiele von 1964.
In diesem Zeitraum sind die Nachwirkungen des 2. Weltkriegs noch spürbar. Die meisten Figuren in Asadora! tragen ihre inneren und äusseren Verletzungen aus den Kriegsjahren mit sich. So etwa der Militärpilot Kasuga. Er hat sich mit seiner Entlassung aus der Armee nicht abgefunden und schlägt sich als Einbrecher durch, ehe er, nach ihrer denkwürdigen Begegnung, Asadas Ersatzvater und Mentor wird. Oder die mürrische, zunächst unnahbare Ladenbesitzerin Kinuya, die Asada schliesslich bei sich aufnimmt.
Das in einer Urasawa-Story obligate fantastische Element ist ein riesiges Seeungeheuer. Asada hat es während des Taifuns erblickt; fünf Jahre später bedroht es die Spiele von Tokio. Die mittlerweile 17-jährige Asada will zusammen mit Kasuga das Monster unschädlich machen, um den Tod von Asadas Familie zu rächen und Japan zu beschützen. Dabei geraten sie ins Schussfeld von Regierung, Kriminellen und fremden Agenten.
Selten hat Urasawa seine Figuren und ihre Beziehungen so genau und einfühlsam gezeichnet und Action und Fantasy so gekonnt mit Psychologie und Milieustudien verknüpft. Asadora! ist ebenso rasant wie emotional, ein wilder Ritt durch das Japan der Nachkriegszeit. Mit Asadora! legt Naoki Urasawa eine Serie vor, in der er Spannung und Substanz, Popularität und Qualität zu hochkomplexer Unterhaltung verknüpft.

Christian Gasser

Naoki Urasawa: “Asadora!”.
Aus dem Japanischen von Miyuki Tsuji,
Carlsen, bisher 6 Bände, je 184 S.,
Softcover, s/w, je ca.
CHF 17.90 / EUR 12

 
 

Biografien

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Jared Muralt
*1982, ist Comic-Autor, Illustrator, Verleger des Tintenkilby Verlags, Gründer des Grafikkollektivs Blackyard, und wohnt in Bern. Sein Comic The Fall wurde in drei Sprachen übersetzt.
www.jaredillustrations.ch
@jaredmuralt

Die gezeigten Seiten geben einen Einblick in die Graphic Novel “Schwarze Wespe”,
welche 2024 im Tintenkilby Verlag erscheinen wird.

Lukas Künzli
*1990, zeichnet und schreibt in Basel. Er hat Geschichte und Skandi­navistik in Basel und Reykjavík studiert und mag Risotto.
www.lukaskuenzli.ch
@lukolnikov

Luca Bartulovic
*1988, ist Illustrator und Comic-Zeichner, Mitbegründer des Ampel Magazins und lebt und arbeitet selbständig in Basel.
www.bartulovic.ch
@bartulovicomix

Bruno Giannori
*2001) ist ein Berliner Comic-Zeichner. Er zeichnet Comics und veröffentlicht diese selbst als Zines, kollaboriert bei Anthologien oder animiert seine Zeichnungen als Musikvideos. Seine Geschichten springen zwischen Horror, Humor und Alltäglichem. Seit 2019 arbeitet er auch für Modern Graphics an der Oranienstrasse.
@giannoribruno

Vanessa Karré
*1970, ist Illustratorin und Musikerin. Ihre Illustrationen sind bei verschiedenen Verlagen wie Tropen, Anette Betz, Obelisk und Zeitschriften (Das Magazin, Jitter, Süddeutsche Zeitung) erschienen. 2022 veröffentlichte sie als Musikerin ihr Debut-Album The Vandalism 01. Seit 2021 arbeitet sie auch für Modern Graphics an der Kastanienallee.
@insta_vandalism

Elsa Klée
1994, ist eine in Berlin lebende französische Comic-Zeichnerin. 2023 ist ihr erstes Buch Bibi & Peggy bei Colorama Print erschienen. Elsa arbeitet auch bei Modern Graphics an der Kastanienallee.
www.elsaklee.com
@kleeelsa

Mawil
*1976 in Ost-Berlin, publizierte seit 2003 Wir können ja Freunde bleiben, Kinderland und anderen Comic- & Kinder­bücher bei Reprodukt.
www.mawil.net

Marie-Luce Schaller
*1987, ist Illustratorin, Buchhändlerin und seit Oktober 2023 Professorin für Illustration in Strasbourg (HEAR). Sie ist der Kopf hinter Bloc Books, einem Pop-up-Buchladen, der Bücher, Poster, Karten, Merchandise und anderes von unabhängigen Verlagen und Künstler*­innen im Angebot hat. Sie hat vier Jahre bei Modern Graphics gearbeitet.
@marieluce.schaller

Wiebke Bolduan
*1994 ist Comic­-Zeich­nerin und Illustratorin und lebt in Hamburg. Im Frühjahr 2024 erscheint bei Reprodukt ihre erste Graphic Novel Viktoria Aal.
www.wiebkebolduan.myportfolio.com
@wiebolo

Helena Baumeister
*1998 ist Comic­­­-Zeich­nerin und Illustratorin und lebt in Hamburg. Ihre erste Graphic Novel oh cupid erschien 2023 im Avant Verlag und erhielt den Literaturpreis der Stadt Hamburg in der Kategorie Comic.
@exakt_helena

Kathrin Klingner
*1979, lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ihre Comics Katze hasst Welt und Über Spanien lacht die Sonne wurden bei Reprodukt verlegt.
www.betakatz.de
@kathrinklingner

Bart Schoofs
*1969, lebt in der Nähe von Leuven und zeichnet seit 2011 wöchentlich eine Seite für das flämische Newsmagazin Knack. Gesammelt erscheinen diese Seiten im Verlag Oogachtend.
@brfvrkn

Arie Plas alias Larie Cook
*1975 in Amsterdam, ist eifriger Comic-Leser und -Macher. Er hat über 60 Fanzines veröffentlicht und arbeitet bei Lambiek.
@lariecook

Edwin Hagendoorn
*1968, lebt in Amsterdam und Olhão (Portugal). Er begann als Illu­s­trator, widmete sich dann 25 Jahre lang der Malerei und fing anschliessend wieder
an zu zeichnen. Sein neues Buch Bubblegum Geisha erscheint 2024 bei Concertobooks.
@edwinhagendoorn

Victor Meijer
*1975 in Amsterdam, ist Illustrator und Autor von zwei Graphic Novels. Er ist Stammkunde bei Lambiek.
@victor.meijer

Joost Halbertsma
*1984, lebt in Rotterdam und ist Illustrator, Analogdrucker und Fanzine-Verleger, unter anderem publiziert er das internationale Mega-Zine Kultul. Schon als angehender Künstler war er Kunde bei Lambiek, heute verkauft er dort seine eigenen Fanzines.
www.joosthalbertsma.nl
@joosthalbertsma

Pier Dola
*1995 in Polen, lebt in Rotterdam. Er publiziert beim spanischen Verlag Comics.as. und klaute einst kiloweise Comics bei Lambiek, nun verkauft er dort seine eigenen Werke.
@Pierdola2023

Guido Van Driel
*1962 in Amsterdam, ist Zeichner und Filmemacher und publiziert als Autodidakt seit 1994 Comics. Sein Buch Toen wij van de Duitsers verloren wurde 2023 von ihm verfilmt und ist auf Deutsch unter dem Titel Als wir gegen die Deutschen verloren haben im Avant-Verlag erschienen.
www.lambiek.net/driel-guido-van

Maybelline Skvortzoff
*1993 in Paris, hat am Institut Saint-Luc in Brüssel studiert. Ihre erste Graphic Novel Roxane vend ses culottes erschien 2022 bei Editions Tanabis und wurde mit dem Preis Artémisia Humour 2023 ausgezeichnet.
@maybelline.skvortzoff

Léa Vautravers
*1997, ist Grafikerin und Illustratorin und wohnt in Genf. 2023 hat sie den von Papiers Gras und der Kunst­hochschule HEAD lancierten Comic­nachwuchs­preis Prix Cryptogame de l’AGPI (Association Genevoise pour la Promotion de l’Illustration et de la Bande Dessinées) gewonnen.
wixsite.com/leavautravers
@l.e.amb