Im Wasser versunken
CHF 15.00
Chrigel Farner
Nina Wehrle / Helena Hunziker
M.S. Bastian / Isabelle L.
Fabian Meister
Lina Müller / Luca Schenardi
Martina Walther
Laura Jurt
Helge Reumann
Beschreibung
No:156
CHRIGEL FARNER
Cover
NINA WEHRLE / HELENA HUNZIKER
Ohne Titel
M.S. BASTIAN / ISABELLE L.
Ohne Titel
FABIAN MEISTER
Biber
LINA MÜLLER / LUCA SCHENARDI
Churchy steigt aus
MARTINA WALTHER
Strom für die grosse Stadt
LAURA JURT
Ohne Titel
Carte Blanche:
HELGE REUMANN
Kilmotor
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Im Wasser versunken
Claudio Barandun und ich, Roli Fischbacher haben, in den letzten Jahren in zwei STRAPAZIN-Ausgaben das Thema Weltmeere ins Blickfeld gerückt, in der Nr. 142 zeugten Unterwasserwelten und in Nr. 149 Grosse Schiffe von unserer Leidenschaft. Auch in der vorliegenden Ausgabe von STRAPAZIN spielen die Geschichten wieder unter und über dem Wasser, aber in einem ganz anderen Kontext: Was geschieht, wenn der Mensch bewusst Landschaften, Dörfer, ja, ganze Städte unter Wasser setzt? Und was ist mit den Menschen geschehen, die vom Wasser aus ihrer Heimat vertrieben wurden? Ist deren einstige Welt jetzt von Gespenstern belebt, die mit ihrem Schicksal hadern? Was treiben die einsamen Geister in den Fluten, wer bewohnt die versunkenen Häuser, Fabriken, Kirchen und Bauernhöfe?
Inspirationen zu diesem Thema sammelte ich auf Reisen nach Reschen, am Länderdreieck Schweiz-Österreich-Italien, denn am Reschenpass gab es bis zum Bau einer Talsperre 1950 drei Seen: den Reschensee, den Mittersee (auch Grauner See genannt) und den heute noch selbstständigen Haidersee. Bei der Stauung, die den alten Reschensee und den Mittersee vereinte, versanken das gesamte Dorf Graun und ein Grossteil von Reschen in den Fluten. Insgesamt wurden 163 Häuser, und 523 Hektar fruchtbaren Kulturbodens überflutet. Heute zeugt nur noch der aus dem Reschensee ragende Kirchturm von Alt-Graun davon. Dass es auch in der Schweiz geflutete Dörfer und Weiler gibt, war mir schon vor dem Mystery-Film Marmorera bekannt. Die 29 Wohnhäuser und 52 Ställe des Dorfs Marmorera, am Weg zum Julierpass gelegen, fielen 1954 einem Stausee zum Opfer. Mit dem Bau des flächenmässig grössten Stausees der Schweiz, dem Sihlsee bei Einsiedeln, wurde 1932 begonnen, fünf Jahre später wurde das Tal geflutet. 55 Bauernhöfe verschwanden, 1762 Menschen mussten dem See weichen; mehrere ihrer Erwerbsgrundlage beraubten Familien wanderten in die USA aus, wo wiederum beim Bau des Hoover-Damms, 1938, ein Stausee entstand, der Lake Mead, auf dessen Grund die Stadt St. Thomas liegt, die 1865 von Mormonen gegründet worden war. In Russland wurde unter Stalin in den Jahren 1935 bis 1940 nahe Kaljasin, 200 km nördlich von Moskau, ein neues Wasserkraftwerk geplant. Hierzu wurde die Wolga gestaut, was zur Vernichtung von Teilen des historischen Kaljasiner Stadtgebietes führte. Lediglich der Glockenturm der Nikolaus-Kathedrale ist bis heute als Ruine erhalten und steht auf einer kleinen Insel im Stausee. Der mitten im Wasser stehende Turm gilt heute als Hauptsehenswürdigkeit Kaljasins. Ein Kirchturm ragt auch in Petrolandia aus dem Wasser, der nahe des Flusses São Francisco gelegenen Stadt in Brasilien, seit der Luiz-Gonzaga-Damm gebaut wurde. In der Türkei wird durch die Aufstauung des Ilisu-Damms zurzeit die über 10 000 Jahre alte Stadt Hasankeyf am Tigris zerstört. Und vergessen wir nicht die Drei-Schluchten-Talsperre in China, für die bis zu zwei Millionen Menschen umgesiedelt wurden. Seit der Fertigstellung 2009 liegen ganze Städte, unzählige Dörfer und Fabriken unter Wasser. Eine ökologische, soziale und kulturelle Katastrophe.
In dieser Ausgabe von STRAPAZIN soll der Versuch unternommen werden, den vertriebenen Menschen und Tieren, den versunkenen Landschaften und Kulturen die hier versammelten Geschichten zur Seite zu stellen, damit sie nicht ganz in Vergessenheit geraten.
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Roli Fischbacher
DAS GESCHRIEBENE WORT
Die Ballade vom Untergang der Stadt Vineta
Klingen Abendglocken dumpf und matt,
Uns zu geben wunderbare Kunde
Von der schönen alten Wasserstadt
. . .
Eine schöne Welt ist da versunken,
Ihre Trümmer bleiben unten stehn,
Lassen sich als goldne Himmelsfunken
Oft im Spiegel meiner Träume sehn.
So dichtete um 1850 der deutsche Poet Wilhelm Müller, der auch bekannt ist für Werke wie Am Brunnen vor dem Tore oder Das Wandern ist des Müllers Lust. Sein Poem behandelt den Untergang von Vineta, einer reichen Hafenstadt an der Ostsee. Als Strafe für den moralischen Verfall der Bevölkerung, ihren Hochmut und ihre Verschwendungssucht verschluckte vor etwa 1000 Jahren das Meer die Stadt.
In unserer Zeit hingegen wurden Ortschaften wegen der Energiegewinnung überschwemmt, quasi als Gegenteil, um Hochmut und Verschwendung überhaupt erst möglich zu machen. Für Wasserkraftwerke im Alpenraum verschwanden diverse Dörfer in Stauseen.
«Eine der grössten Aufgaben unserer Zeit ist es, einen Weg zur Energieversorgung von morgen zu finden.» Das hiess es schon immer, das heisst es heute erst recht und solange man dies liest, wird sich nichts ändern am bevorstehenden Untergang.
Eine Nixe als Racheengel
Im Jahr 1954 ist in den Graubündner Bergen, nördlich des Julierpasses, das Dorf Marmorera abgerissen und überschwemmt worden. Im Auftrag der Zürcher Elektrizitätswerke wurde im Tal eine Staumauer zur Energiegewinnung erbaut. 29 Häuser, 52 Ställe, das Schulhaus und die Kirche verschwanden. Die Einwohner wurden umgesiedelt. Einige Einwohner*innen wehrten sich und bauten ihr Dorf wieder auf, am Hang über dem See.
Das ist die Kulisse für den Schauerroman Marmorera von Dominik Bernet. Am Ufer des Stausees wird eine junge Frau gefunden. Sie hat keine Identität und kann nicht reden. Der beigezogene Zürcher Psychiater Cavegn verliebt sich in die Geheimnisvolle und ahnt dabei schon allerlei von dem Unheil, das bald über ihn hereinbrechen wird. Als sich in der Umgebung des Stausees bizarre Todesfälle häufen, ist klar, dass die Dame vom Lai da Marmorera etwas damit zu tun hat.
Dominik Bernet ist auch als Co-Autor der Drehbücher für die bekannte Fernsehserie Der Bestatter bekannt; sein 2006 erschienener Marmorera-Roman wurde kurz darauf verfilmt, wie immer mit ein bisschen zu viel Schmonzes und Getue, aber mit einem ziemlichen Staraufgebot an Schauspieler*innen.
Ein anderer Fall: 1920, nach der Annektion des Südtirols durch das faschistische Italien, sollte der Fluss Etsch oder Adige bei den Ortschaften Reschen und Graun zur Energiegewinnung gestaut werden. Das Projekt zog sich aber hin und die Wirren des 2. Weltkriegs beendeten es vorerst. Doch 1950, als die reichen Schweizer Elektrizitätsgesellschaften unbedingt Winterstrom brauchten, finanzierten diese den Bau des Staudammes und so entstand schliesslich der Reschensee, berühmt dafür, dass der Turm der Kirche St. Katherina der Gemeinde Graun aus dem Wasser schaut, als Mahnmal, als Touristenattraktion, als was auch immer.
Der italienische Autor Marco Balzano hat einen schönen Roman über Mut und Vertrauen geschrieben, der noch vor dem Bau des Kraftwerks in dieser Gegend spielt. Die Lehrerin Trina soll wegen des Abkommens zwischen Mussolini und Hitler als deutschsprachige Südtirolerin ins Deutsche Reich auswandern und nicht mehr unterrichten dürfen. Sie bleibt aber, unterrichtet privat und leistet bald auch Widerstand gegen die beabsichtigte Flutung der Dörfer, ein Projekt, das keine Rücksicht auf Mensch und Natur nimmt.
Dem Inscheniör ist nichts zu schwör!
So spricht Daniel Düsentrieb in der kongenialen deutschen Übersetzung von Dr. Erika Fuchs. Auch dem Schweizer Ingenieur Bruno Siegwart fällt es nicht schwer, die durchaus hirnrissige Idee von
Atlantropa planerisch zu begleiten. Der deutsche Architekt Herman Sörgel will 1928 das Mittelmeer durch zwei Dämme, einer bei Gibraltar im Westen, einer am Schwarzen Meer im Osten, vom Wasserzufluss abschneiden und somit neue Landflächen gewinnen. Siegwart gibt diesem technokratischen Hirngespinst mit Berechnungen und Zahlen einen Boden. Boden, der durch die Wasserspiegelsenkung gewonnen werden soll, um Platz zu schaffen für das «Volk ohne Raum», das in ein paar Jahren einen Mann mit schmalem Zahnbürstenbärtchen zum Führer wählen wird.
Atlantropa soll der neue Kontinent heissen, der aus Europa, dem trockengelegten Mittelmeer und Afrika bestehen soll. Aber die Nazis finden diesen Vorschlag viel zu pazifistisch und befürchten überdies eine Rassenvermischung.
Im Laufe seiner Berechnungen kommt der rastlose Technokrat Siegwart auf eine neue Idee: Afrika fluten! Zum Beispiel den Fluss Kongo stauen und so einen gewaltigen Stausee zur Produktion von Pferdestärken bzw. Kilowatt zu bauen. Also das, was später in Marmorera, am Reschensee oder anderswo eher klein gebaut wurde, in ganz grossem Massstab durchzuführen.
Diese Landvernichtung würde die afrikanische Bevölkerung dezimieren. Aber auch auf diese menschenverachtende Ungeheuerlichkeit sprangen die Nazis nicht an. Sörgel konnte seine Theorien von Atlantropa noch über das Ende des 2. Weltkriegs bis zu seinem Tode 1954 weiterspinnen. Siegwart, der wackere Schweizer Ingenieur, starb schon vorher, mit all seinen Zahlen, Berechnungen und Plänen.
Christoph Keller erzählt diese wahre Geschichte von Technologiewahn, Rassismus und Totalitarismus aus der Sicht eines Zeitreisenden, der auch die heutigen Verwüstungen durch fossile Energieträger am Mittelmeer aufzeigt. Die Inscheniöre sind noch immer unter uns.
Klima wie in der Kreidezeit
Abgesehen vom bewussten Fluten könnte selbstverständlich auch der Fall eintreten, dass sich demnächst infolge des Klimawandels die ganze Welt selbst unter Wasser setzt. Der britische Autor James Graham (JG) Ballard (1930-2009) hat das schon früh thematisiert. Er ist einigermassen bekannt für seine dystopischen Romane, in denen er ganz genau die zukünftigen Probleme für den Fortbestand der Menschheit (Klima, Gier, Dummheit, Rassismus) beschreibt und auf die damit einhergehenden Probleme des menschlichen Zusammenlebens hinweist.
In seinem 1962 erstmals erschienenen Roman The Drowned World, auf Deutsch Die Flut, sind durch ungefilterte Sonneneinstrahlung die Polkappen der Erde geschmolzen und haben die Landmassen überschwemmt. Aus Europa ist ein Dschungel aus der frühgeschichtlichen Kreidezeit geworden, so wie es hier vor Millionen Jahren schon einmal war. Die Hitze ist unerträglich und die entstandenen Sümpfe und Lagunen sind von riesigen Leguanen und Fledermäusen bevölkert, aber der grösste Feind des Menschen ist immer noch der Mensch selbst.
In seinem Luxusappartement im 10. Stock des Hotels Ritz, das gerade noch über den Wasserspiegel des überfluteten Londons hinausreicht, kartographiert Dr. Kerans die verbliebenen trockenen Stellen. Viele sind es nicht mehr. Als der Befehl kommt, sich in die letzten einigermassen kühlen Regionen in Grönland zurückzuziehen, bleiben Kerans und seine Geliebte zurück. Ihn hat eine seltsame Sucht überfallen, zu dieser neuen Kreidezeit zu gehören, sich sozusagen der überwältigenden Sonne in die Arme zu werfen.
Dann kommt eine Art Piratenbande vorbei, die sich ziemlich übel benimmt, aber einen Teil von London vorübergehend trockenlegt. Doch die zukünftige Welt kann sich der Mensch nun wirklich nicht mehr untertan machen.
Ballard beschreibt das alles ziemlich fiebrig und intensiv, sodass man es sich beim Lesen, angesichts der Sommerhitze, ziemlich gut vorstellen kann und von der grossen roten Sonne zu träumen anfängt.
Das Tiefseerestaurant zum toten Wal
Ich weiss nicht mehr, ob ich das gelesen oder irgendwo aufgeschnappt habe, jedenfalls ist es mir während dieser literarischen Beschäftigung mit Wasser, Flut und Meer wieder in den Sinn gekommen: Was passiert, wenn einer dieser Leviathane, einer dieser grossen Wale mal im Wasser stirbt und dann untergeht?
Wird dann am Grund des Ozeans ein Restaurant eröffnet? Dient der tote Wal zur Ernährung? Entsteht sofort ein Biotop, eine Oase auf dem wüsten Grund der Tiefsee? Muss man einen Tisch reservieren? Und tauchen dann auch all die unheimlichen Bewohner des unergründlichen Wassers auf, etwa die Magnapinna, der wunderbare Gespenstertintenfisch?
Mehr zum Meer, zur Tiefe und Hingabe gibt es im schönen Buch Die Chronistin der Meere des schwedischen Autors Patrik Svensson, der sehr anschaulich und emotional erzählen kann und daher hier zur Lektüre wärmstens empfohlen wird.
Playlist:
Christoph Keller: «Afrika fluten», Rotpunktverlag, Zürich 2023, EUR 25 / CHF 28.—
JG Ballard: «Die Flut», Diaphanes Verlag, Zürich 2023, EUR 17 / CHF 26.50
Dominik Bernet: «Marmorera», Cosmos Verlag, Bern 2006, EUR 32 / CHF 37.—
Marco Balzano: «Ich bleibe hier», Diogenes TB, Zürich 2022, EUR 22 / CHF 19.—
Patrik Svensson: «Die Chronistin der Meere», Hanser Verlag, München 2023, EUR 24 / CHF 32.—
PFLICHT LEKTüRE
Appupen, Laurent Daudet: «Dream Machine oder wie ich meine Seele beinahe an die künstliche Intelligenz verkauft hätte».
Traummaschinen — oder wie Du KI für Dich gewinnst
Mit ChatGPT ist die künstliche Intelligenz in den Alltag eingezogen: Was zuvor für viele noch ein abstraktes Konzept war, ist nun eine praktische Anwendung, die jede und jeder ohne tiefere Programmierkenntnisse ausprobieren kann. Allein mit Texteingaben, sogenannten «Prompts», vermögen Chatbots wie ChatGPT, anspruchsvolle Fragen zu beantworten und intelligente Aufgaben zu lösen. Das weckt Träume und Hoffnungen, birgt jedoch auch Risiken und führt zu weitreichenden Konsequenzen in Wirtschaft und Gesellschaft, die zugleich gehypt und unterschätzt werden. Wer sich ein realistisches Bild machen will, wie Chatbots funktionieren, ist mit dem Comic Dream Machine des indisch-französischen Autoren-Duos Appupen und Laurent Daudet ausgezeichnet bedient. Ihre Erläuterungen in Text und Bild sind prägnant und gut nachvollziehbar. Ihre Erklärungen, etwa wie die Chatbots die Texteingaben verarbeiten, sind so gut formuliert, dass sie sich auch als Tipps für das eigene Prompten eignen. Schliesslich sind Chatbots nicht wirklich intelligent, sie erkennen vor allem, welche Wörter in Sätzen statistisch am häufigsten aufeinander folgen.
Laurent Daudet kennt diese Entwicklung aus erster Hand. In Frankreich leitet er ein Start-up, das grosse Sprachmodelle entwickelt, auf denen Chatbots aufbauen. Dieser Hintergrund prägt die Rahmenhandlung: Daudets Start-up hat einen Chatbot entwickelt, der in mehreren Sprachen arbeitet. 2022 erhält er ein verlockendes Multimillionen-Kaufangebot von einem BigTech-Konzern. Die Leser*innen erfahren nun, welche technischen, finanziellen und ethischen Gründe für und gegen den Verkauf sprechen. Der Zeichner Appupen befördert mit seinem dialogbetonten Stil den kurzweiligen Lesefluss und steuert einige Fallbeispiele aus seinem Heimatland Indien bei.
Im Verlauf der Argumentation entlarven die Autoren die übertriebenen Versprechungen, dass KI auf wundersame Weise alle unsere Probleme lösen könne, als Unsinn. Dream Machine ist weder ein lupenreiner Sach-Comic noch ein waschechter grafischer Roman. Vielmehr plädieren Appupen und Daudet für eine vertrauenswürdige KI, die mit den Werten offener Gesellschaften im Einklang steht. Dazu reichen sie die Hand, indem sie KI so erklären, dass sich die Leser*innen Fragen stellen, um sich bewusst zu entscheiden, wie sie KI nutzen wollen, anstatt dass sie ausgenutzt werden.
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Florian Meyer
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Appupen, Laurent Daudet:
«Dream Machine oder wie ich meine Seele beinahe an die künstliche Intelligenz verkauft hätte».
Jacoby & Stuart, 176 S.
Softcover, s/w und blau,
EUR 25 / CHF 37.90
Mark Russel, Richard Pace: «Second Coming»
Als Gott die Schnauze voll hatte
Mark Russels und Richard Paces Religionssatire Second Coming schaffte es schon 2019 in die deutschen Medien. Der Spiegel berichtete, dass die geplante Vertigo-Serie vom DC-Verlag gestoppt wurde, wegen Protesten und Online-Petitionen aus konservativ-christlichen Kreisen. Der Superman-Verlag bekam kalte Füsse und gab die Rechte den beiden Autoren zurück. Es ist nicht das erste Mal, dass DC zu feige für eine kontroverse Geschichte ist: 1989 entschied der Verlag, Swamp Thing Nr. 88 von Rick Veitch in letzter Minute zu stoppen, obwohl die Ausgabe bereit für die Veröffentlichung war. Grund war, dass die Hauptfigur Jesus während der Passionsgeschichte hätte treffen sollen.
Der amerikanische Verlag Ahoy Comics nahm schliesslich Russels und Paces Serie auf und die Leserschaft konnte sich selber ein Bild machen, wie gotteslästernd Second Coming wirklich ist. Das Setting ist schnell erzählt: Gott hat die Schnauze voll von den Menschen und zieht sich zurück. Obwohl er seinem Sohn eine Chance gibt, den Menschen noch ein letztes Mal zu helfen, ist er darüber entsetzt, dass Jesus wegen seinen Bemühungen von den Menschen nach 33 Jahren getötet wird. Er will ihn darum nicht mehr auf die Erde zurückschicken. Als er 2000 Jahre später die heroischen Taten des Superman-ähnlichen Superhelden Sunstar beobachtet, schickt Gott seinen Sohn zu ihm in die Lehre. Fortan soll Jesus bei ihm wohnen und von ihm lernen, wie man den Menschen den rechten Weg zeigt. Von da an folgt eine Buddy-Geschichte, bei der die unterschiedliche Auffassung von Gut und Böse zwischen den beiden die Handlung vorantreibt. Viele der Witze drehen sich um Jesus’ Erstaunen darüber, was aus seinen Lehren geworden ist, sowie um Seitenhiebe auf das Superhelden-Genre. Second Coming ist weniger eine Attacke gegen das Christentum als eine Kritik daran, dass Superhelden ihr Recht nur mittels roher Gewalt durchbringen können. Somit verkörpert Sunstar zusammen mit dem alttestamentarischen Gott im Comic das Gegenteil von Jesus’ Lehre der Barmherzigkeit. Und auch wenn Russel den Sohn Gottes stellenweise ein wenig naiv und tölpelhaft auftreten lässt, porträtiert Jesus eine neue und andere Beziehung zwischen Mensch- und Gottheit und ersetzt den rachsüchtigen Vater und gottähnlichen Sunstar mit einer positiveren Lehre.
Die deutsche Ausgabe im Dantes Verlag scheint in religiösen Kreisen unbemerkt geblieben zu sein. Ein bisschen Shitstorm könnte dem Buch im deutschsprachigen Raum die verdiente Beachtung geben.
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Giovanni Peduto
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Mark Russel, Richard Pace:
«Second Coming» Band 1 bis 3. Aus dem Amerikanischen von Jens R. Nielsen.
Dantes Verlag, 2023/2024. 160 S.,
Softcover, farbig,
EUR 22 / CHF 33.90
Ika Sperling: «Der grosse Reset»
Regen, Schweiss und Tränen
«Zuerst Corona, dann der Krieg, jetzt die Inflation», sagt der Mann zur Comic-Zeichnerin Ika Sperling, «lass dich nicht verarschen, Ika.» Dieser Mann, der nur als verschwommener Umriss gezeigt wird, ist Ika Sperlings Vater. Als sie für ein Wochenende aus Hamburg in die provinzielle pfälzische Heimat zurückkehrt, muss sie feststellen, dass ihr Vater für sie nicht mehr greifbar ist, ebenso wenig wie für die restliche Familie, ihre Mutter und ihre Schwester, er löst sich als Mensch förmlich auf. Er hat sich in Verschwörungstheorien verloren, will das Haus verkaufen und auswandern, weg von der «Corona-Diktatur». Wenn er vom bevorstehenden Bürgerkrieg spricht, vom Ukraine-Krieg, der ein Fake sei, und über die «Systemmedien» schimpft, brechen auch die Strukturen der aquarellierten Comic-Panel auf; die zuvor noch bunten Bilder verschwimmen zu einer graugrünen Fläche, auf der sich seine drohenden Worte verlieren.
In ihrem Comic-Debüt Der grosse Reset versucht die 1996 geborene Zeichnerin, Bilder zu finden für den Verlust eines Menschen, der nicht wirklich verstorben ist, sondern sich vielmehr mit voller Überzeugung von seiner Familie verabschiedet. Dabei bleibt Sperling sprachlich voller Humor, kostet das provinzielle Setting, in dem Hauswände poliert werden und Dorffeste im Besäufnis enden, voll aus. Dies ist das Milieu, in dem sich der Vater bewegt, und sein Gerede von Diktatur und Impfzwang, gepaart mit Grünen-Hass und Antisemitismus duldet keine Widerworte. Es geht Sperling nicht darum, die Entstehung von Verschwörungsmythen zu erklären oder zu dekonstruieren, sie bleibt ganz bei sich und der Trauer über den Verlust. Wasser ist dabei das zentrale Motiv, Tränen werden vergossen, Schweiss fliesst, die Schwester giesst als Übersprunghandlung die Blumen, in Schlüsselszenen regnet es und dann ist da noch die Vaterfigur, dessen Hülle mit Wasser gefüllt scheint, das er, wenn er sich in Rage redet, um sich herum verteilt. Anders als Mutter und Schwester kann Ika nach dem Wochenende wieder nach Hamburg fliehen und die Situation im Elternhaus hinter sich lassen. «Ich habe Angst, dass dies das letzte Mal ist, dass wir miteinander reden», hat Ika ihrem Vater in einem letzten Gespräch im strömenden Regen gesagt. Als sie endlich in den Zug steigt, hat es wieder aufgeklärt, doch am Horizont ziehen schon die nächsten Regenwolken auf.
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Jonas Engelmann
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Ika Sperling:
«Der grosse Reset».
Reprodukt 2024, 176 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 24 / CHF 36.90
Franz Suess: «Drei oder vier Bagatellen»
Ekel, Leere und andere Bagatellen
Die Körperhaltung des Teenagers, der ein paar Tage beim verhassten, da angeblich senilen und geizigen Opa verbringen muss, verrät schon alles: das Unbehagen im eigenen Körper, Wut und Unsicherheit, die er mit Aggressivität überspielt. Sein Lieblingsschimpfwort: schwul. Und dann läuft alles schief, der Akku ist leer, die einzige Unterhose schon bald verschissen, Opas Haus schmuddelig und eklig — das Wochenende wird zu einem quälenden Albtraum.
Der Österreicher Franz Suess, 1961 in Linz geboren, ist ein bildender Künstler, der vor knapp 15 Jahren den Comic für sich entdeckte und sich diese Ausdrucksform auf eigenwillige Weise aneignete. 2011, als fünfzigjähriger, veröffentlichte er seinen ersten Comic, seither entstand ein umfangreiches Werk, das mehr und mehr Beachtung findet: Unter anderem wurde er mit Preisen der ICOM und der Berthold-Leibinger-Stiftung ausgezeichnet und für Drei oder vier Bagatellen für den Max-und-Moritz-Preis nominiert.
In den anderen Geschichten in Drei oder vier Bagatellen taucht Franz Suess ein in die Abgründe des Online-Datings. Er heisst Milan oder Stevan, sie heisst Brigitte — oder auch nicht; kennengelernt haben sie sich online, sie treffen sich in einem Café, betrinken sich, landen in ihrer Wohnung. Er entpuppt sich als vulgärer Macker, und sie bleibt mit ihrer Katze allein im Bett.
Auch der rothaarige und übergewichtige Michael lässt sich auf seiner Suche nach ein bisschen Glück und Geborgenheit auf alles ein — sogar auf Sex in einer Kneipentoilette mit Simon, einem attraktiven, aber verlogenen Online-Match. Diese Szene ist so grotesk, dass es schmerzt — noch demütigender für Michael sind jedoch die Momente später in Simons WG.
Suess erforscht die unterschiedlichen Erwartungen, die kleinen und grossen Lügen und Heucheleien, den schmalen Grat zwischen Traum und Enttäuschung, Betrug und Ausbeutung und schliesslich die Gefühle von Ekel, Leere und Einsamkeit.
Franz Suess’ Milieustudien bestechen durch den schonungslosen Blick auf Menschen am Rand der Gesellschaft, auf Verlierer*innen, Aussenseiter*innen, Gescheiterte, Abgehängte. Er erzählt ihre tristen Dramen in expressiven, grau grundierten Zeichnungen. Die Körper sind ausdrucksstark, die Gesichter werden oft in Grossaufnahme gezeigt. Diese Nahaufnahmen schaffen jedoch keine Nähe, dazu sind sie zu ungeschönt und grausam; sie schaffen Distanz und gleichzeitig auch Empathie: Egal, wie schonungslos Suess seine Charaktere zeichnet, nie führt er sie vor. Der Humor ist scharf und schwarz, aber lachen mag man nicht wirklich. Franz Suess ist der Chronist einer Welt, die selten Eingang in Comics findet.
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Christian Gasser
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Franz Suess:
«Drei oder vier Bagatellen».
Avant-Verlag, 208 S.,
Softcover, s/w,
EUR 25 / CHF 37.90
Nicolas de Crécy: «Transit Visa»
Erinnerungen aus dem Osten
Nicolas de Crécy blickt in Transit Visa auf eine Reise in den mittleren Achzigerjahren zurück: Gemeinsam mit seinem Cousin Guy macht er sich im Jahr 1986 in südöstliche Richtung auf. Anlass ist der Fund eines an sich schrottreifen Citroën Visa im Garten der Tante. Statt ihn auf den Schrottplatz zu bringen, bringen sie ihn wieder in Schuss. Aber es bleibt eine Schrottkarre, die sicher nicht für weite Reisen geeignet ist. Trotzdem durchqueren sie damit Italien, das damalige Jugoslawien, Bulgarien und schliesslich die Türkei bis an die Mittelmeerküste. Im Hintergrund immer dabei: das Atomunglück in Tschernobyl.
Den Kern der Reiseerinnerungen macht zum einen das ungleiche Paar aus: Guy ist ein draufgängerischer Typ, zögert nicht lange und lässt sich gerne auf Abenteuer ein. Nicolas ist eher ängstlich und malt sich permanent aus, was alles passieren könnte. Zugleich haben beide ein fast vorsätzliches Desinteresse für die Situation in den Ländern, die sie durchqueren. Es sind aber vor allem die zufälligen Ereignisse, die die Reise zu einer nachhaltigen Erinnerung werden lassen. Und das ist neben der (Zeit-)Reise auch schon das zweite grosse Thema des mit über 400 Seiten sehr umfangreichen Comics: das Erinnern. De Crécy sagt selber, dass er nicht einer jener Zeichner sei, die permanent ihr Notebook dabei hätten. Im Gegenteil, er zeichne demonstrativ nicht, um die Erinnerungen nicht einzufrieren. Fotografieren kommt schon gar nicht in Frage. Der Prozess des Erinnerns und der Wandel der Erinnerung im Laufe der Zeit ist permanent Thema in Transit Visa. Geräusche, Gerüche, Ausblicke und Ansichten — das alles sind sich wandelnde Erinnerungsstützen, auf die nicht immer Verlass ist. Mit diesen Gedanken spielt Transit Visa immer wieder. Erinnerungslücken werden ebenso thematisiert wie offensichtliche Unstimmigkeiten. Und schliesslich kommt de Crécys Zitierwut hinzu, die Erinnertes in literarische oder malerische Zitate einbetten. Auch hier baut de Crécy eine Metaebene mit Selbstreflexion ein. Wenn er dann immer wieder assoziativ, von Ereignissen der Reise getriggert, von anderen Lebensabschnitten erzählt und Kindheitserlebnisse oder andere Begebenheiten der jüngeren Vergangenheit einflechtet, dann ist das für die Lesenden mitunter eine grosse Herausforderung, den roten Faden nicht zu verlieren. Man kann sich diesem zwischen viel staubiger Hitze, Tschernobyls Giftwolke, Ostblock-Finsternis und kleinen grünen Oasen mäanderndem Erzählfluss aber auch einfach hingeben und die surrealen Effekte geniessen. Die Farbzeichnungen — mal in geschwungenen Linien, mal in hektischem Strich — fangen uns mit ihrer geschmeidigen Anmutung stets auf.
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Christian Meyer-Pröpstl
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Nicolas de Crécy:
«Transit Visa».
Reprodukt, 416 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 44 / CHF 61.90
Maurice Vellekoop: «I’m So Glad We Had This Time Together»
Ein vorsichtiges Coming-out
Ich entdeckte die Arbeit von Maurice Vellekoop in den späten Achtzigerjahren am Rande der aufkeimenden unabhängigen Comic-Szene in Toronto, als er als Grafikdesigner und Illustrator arbeitete und nebenbei auch noch Comics veröffentlichte. Ich bekam seine frühen Zines Fear Comics und Guilt Comics in die Hände und war sofort beeindruckt von seinem skurrilen, aber selbstbewussten Strich und seiner Fähigkeit, Gesichtsausdrücke mit nur wenigen perfekten Strichen einzufangen. Kurz darauf begann Vellekoop an der ersten Drawn and Quarterly-Serie mitzuwirken. Bald lobte man Vellekoop für seine «unbestreitbar feierliche Queerness», was ihm Unrecht tut — ist er doch ganz einfach ein verdammt guter Cartoonist.
I’m So Glad We Had This Time Together ist eine reife, witzige, ergreifende, anspruchsvolle Graphic Novel, die fast 500 Seiten umfasst. Fairerweise muss man sagen, dass die Kerngeschichte in I’m So Glad, eine schwule Coming-of-Age-Erzählung, nicht sonderlich neu ist: Vellekoop wuchs in einem strengen christlichen Elternhaus auf und hatte ein schwieriges (wenn auch letztlich liebevolles) Verhältnis zu den Eltern. Wie er erzählt, spiegelten sich seine Kämpfe mit seiner Sexualität in seiner Unentschlossenheit wider, ob er genug Talent hätte, ein Künstler zu werden. Die Art und Weise, wie Vellekoop diese Geschichte erzählt, ist wunderschön anzuschauen. Er zieht uns in seine komplexe Psyche hinein, zeigt uns, wie wichtig Disney, Broadway-Musicals und Filme für seine Sicht auf die Welt waren. Detailliert stellt er uns eine Vielzahl von Freunden und Liebhabern vor, und es ist wirklich herzzerreissend, vom Tod des einen zu lesen. Trotz der Anmut der gemalten Seiten des Buches fällt Maurice, dem Erzähler in I’m So Glad, nichts leicht. Einige der bewegendsten Szenen sind die, in denen er (meist erfolglos) versucht, mit der Authentizität einer ungehemmten schwulen Kultur umzugehen. Ich hatte das Gefühl, dass die wahre Stärke der Geschichte weniger darin liegt, dass es sich um eine Coming-out-Story handelt, sondern schlicht darin, dass es eine ehrliche und aufschlussreiche Studie darüber ist, wie jeder von uns mit der Entscheidung ringt, ob und wie er einen Partner fürs Leben wählt.
Es scheint, dass Vellekoop ein Leser grosser Literatur ist und eindeutig weiss, wie man eine Geschichte erzählt. Während der Lektüre von I’m So Glad dachte ich, dass ich seine Geschichte wahrscheinlich auch dann geniessen würde, wenn es eine normale Prosa-Autobiografie wäre. Es hätte nicht unbedingt ein Comic sein müssen, aber in Vellekoops fähigen Händen ist es sogar ein besonders guter.
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Mark Nevins
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Maurice Vellekoop:
«I’m So Glad We Had This Time Together».
In englischer Sprache,
Pantheon, 2024, 496 S.,
Hardcover, farbig,
$ 35
Frank Miller, Geof Darrow: «The Big Guy and Rusty the Boy Robot»
Godzillas Erben
In einem japanischen Labor steht die Menschheit vor einem Durchbruch: Die Abiogenese, jene Ursuppe, aus der vor Milliarden Jahren die ersten Lebewesen entstanden, wurde erfolgreich reproduziert. Doch das Experiment gerät ausser Kontrolle. Ein vierarmiges, reptilienartiges Monster, wolkenkratzerhoch, bricht aus dem Labor aus. Tokio versinkt im Chaos. Hochhäuser zerbröseln, Menschen werden zerquetscht, Autos zerrissen. Militärwaffen versagen. Japans letzte Hoffnung: Rusty, ein kleiner, rothaariger Roboterjunge. Doch als auch der scheitert, wird mit Hilfe der Weltmacht USA der Verteidigungsroboter Big Guy, eine Mischung aus Cadillac und Atombombe, auf den Plan gerufen.
Die Autoren dieser actiongeladenen, über hundertseitigen Geschichte sind die US-Künstler Frank Miller und Geof Darrow. Darrows Illustrationen geben die Zerstörung durch das Monster sehr detailliert wieder. Miller — bekannt für seine Neuinterpretation von Batman und seiner Sin-City-Serie — verbildlicht mit der Figur des Big Guy eine überrissene Parodie des US-amerikanischem Über-Patriotismus, der Kriegsmacht, des Kalten Krieges, der Muskelprotze des 1980er Action-Kinos. The Big Guy and Rusty the Boy Robot erschien in den USA bereits 1995 und ist eine Hommage an die Monsterfilme wie The Beast from 20000 Fathoms (1953) oder Godzilla und den Astro-Boy-Trickfilmen. Godzilla entstand als Sinnbild der atomaren Zerstörung in Japan durch die Amerikaner und der Atomtests der USA im Pazifik während des Kalten Krieges. Nicht zufällig erinnern die Namen der beiden Protagonisten an die beiden auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben Fat Man und Little Boy. Es fehlt nicht an Ironie, wenn zuletzt der amerikanische Superheld den kleinen Roboterjungen und sein Land rettet.
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Giovanni Peduto
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Frank Miller, Geof Darrow:
«The Big Guy and Rusty the Boy Robot».
Aus dem Amerikanischen von Josef Rother.
Cross Cult, 2024, 112 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 30 / CHF 29.90
Eric Schwarz: «Ein bisschen Freiheit»
Der letzte Ausflug
Eine grosse Welle erhebt sich auf dem Cover von Eric Schwarz’ erster Graphic Novel. Mittendrin äugt ängstlich und klein der Protagonist aus dem Meer. Rundherum zieht sich eine psychedelische Schrift, die leise an Schallplattencovers der späten 1960er-Jahre erinnert (die musikalischen Bezüge im Comic selbst sind aktueller). Mit Ein bisschen Freiheit hat Eric Schwarz eine reflektierte und fesselnde Road Novel geschaffen. Inhaltlich verbindet er die Sehnsucht nach Abenteuer und fernen Orten mit dem jugendlichen Wunsch, gesellschaftlichen Zwängen zu entfliehen und das eigene Leben selbst zu bestimmen. Im Fokus steht nicht die «grosse» gesellschaftliche Freiheit, sondern die «kleine», die individuelle Suche nach dem eigenen Lebensentwurf, und ein letztes, rauschhaftes Aufbegehren des Jugendlichen, bevor das normierte Erwachsenenleben beginnt. Sinnbildlich steht dafür eine Szene am Strand des Atlantiks, wo der namenlose Protagonist im Rhythmus der Wellen so gleichmässig atmet, dass er den Lärm der Welt ausblendet und ganz in sich aufgeht. Die erlebte Freiheit gleicht nun der Schaumkrone auf den Wellen: nicht greifbar und doch überall, ein Konzept ohne Form.
Ihm ist klar, wie trügerisch die Sehnsucht nach Freiheit ist. Mit seinem Zwillingsbruder und zwei Freunden begibt er sich auf einen einwöchigen Urlaubstrip. Ständig tickt seine innere Uhr, denn er ahnt, dass dies ihr letzter gemeinsamer Ausflug ist. Feinsinnig
reflektiert er die Unterschiede zwischen Brüdern, Freunden und
Liebenden. Bindungsbedürfnis tritt neben Freiheitssehnsucht. In einer Bildfolge wird aus einer zärtlichen Umarmung fliessend eine gefesselte Existenz.
Als die zuvor parallelen Lebensentwürfe der Brüder plötzlich diametral auseinandergehen, eskaliert die Geschichte. Der Trip endet dramatisch — und anders als erwartet. Was wie ein autobiografischer Coming-of-Age-Comic beginnt, weitet sich zur Autofiktion aus und endet wie ein Noir-Thriller.
Zeichnerisch bewegt sich Eric Schwarz, der als Illustrator, Comic-Autor und Dozent arbeitet, zwischen Klarheit und Illusion. Linierte Zeilen ordnen die inneren Reflexionen, wohingegen die real gesprochenen Worte in Schulschrift gehalten sind, die die Träume immerzu beiseiteschieben. An einer Schlüsselstelle über die Freundschaft der Jugendlichen lösen sich die Gedanken mit jedem Panel in immer kleineren Wolken auf — zum Schluss bleibt die Einsicht, dass wer davonkommt, auch jemanden zurücklässt.
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Florian Meyer
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Eric Schwarz:
«Ein bisschen Freiheit».
Luftschacht Verlag, 336 S.,
Softcover, s/w,
EUR 28 / CHF 41.90
Akane Torikai: «Saturn Return»
Spurensuche im Dauerregen
Eine Schreibblockade lässt nicht nur die Schriftstellerin Ritsuko Kaji verzweifeln — auch der junge Redakteur Shunpei Koide, dessen Job auf der Kippe steht, wenn er nicht endlich Kajis neuen Bestseller präsentiert, ist ratlos.
Liegt die Lösung womöglich in der Vergangenheit? In Ritsukos Heimatstadt Osaka? Im mysteriösen Selbstmord ihres Freunds Atsushi Nakajima, dem sie ihren bisher einzigen, sehr erfolgreichen Roman gewidmet hat? Atsushi stand Modell für ihren Protagonisten Aoi — und Ritsuko fühlt sich schuldig, weil ihr Roman seinen Selbstmord nicht hat verhindern können.
Ritsuko und Shunpei begeben sich auf eine Reise durch Raum und Zeit, doch die Vergangenheit deckt sich nicht mit Ritsukos Erinnerungen. Sie treffen Verwandte, Weggefährt*innen, Geliebte von Atsushi. Ritsukos Bild von ihm verändert sich, erhält Risse: Er war ein Host im exklusiven Club River, und kurz vor seinem Tod machte er acht Frauen einen Heiratsantrag.
Es entsteht ein widersprüchliches Bild des Toten; gleichzeitig wird sich Ritsuko bewusst, dass das eigentliche Ziel ihrer Spurensuche nicht die Wahrheit über Nakashima ist, sondern sie selbst: Wer ist sie? Was will sie? Warum hat sie ihre Kunst dem Dasein als Hausfrau geopfert? Warum befreit sie sich nicht aus der toxischen Beziehung zu ihrem Mann (und ehemaligen Lektor) Kazufumi? Auch Ritsuko ist nicht das, was sie zu sein vorgibt — sie trägt ein Trauma in sich, das sie immer verschwiegen hat, das sich jedoch nicht länger verdrängen lässt.
In der Astrologie bedeutet «Saturn Return» die Rückkehr Saturns an den Punkt, auf dem er bei unserer Geburt stand. Dieser Kreislauf dauert ungefähr 29 Jahre und wird in der Astrologie als Wendepunkt betrachtet — mit 29 Jahren nahm sich Nakajima das Leben. Aber auch Ritsuko steht an dem Punkt, an dem sie ihr Leben neu bewertet und Konsequenzen daraus ziehen muss.
Fünf der zehn Bände von Saturn Return sind bereits auf Deutsch erschienen. Es ist eine ausgesprochen subtile und facettenreiche Geschichte, die von Band zu Band tiefer in die vielfältigen Konflikte der Figuren eindringt, vor allem in Ritsuko Kajis Konflikte. Sie ist gefangen zwischen den Normen der japanischen Gesellschaft, dem Zwang, eine möglichst perfekte Fassade der Normalität als Frau aufrechtzuerhalten und ihren eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Träumen als Schriftstellerin und Frau.
Saturn Return ist leise erzählt und fein gezeichnet — und nimmt uns mit in ein melancholisches Osaka im Dauerregen.
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Christian Gasser
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Akane Torikai:
«Saturn Return».
Aus dem Japanischen von Antje Bockel,
Carlsen Verlag, bisher 5 Bände: je 192 bis 240 S.,
Softcover, s/w,
EUR 8 / CHF 12.90
Ai Weiwei, Elettra Stamboulis, Gianluca Costantini: «Zodiac. Mein Leben — meine Kunst»
Metaphorisches Kreisen
Der chinesische Künstler Ai Weiwei ist unter schwierigsten Bedingungen in den 1950er- bis 1970er-Jahren in der Verbannung aufgewachsen, weil sein Vater, der berühmte Dichter und Regimekritiker Ai Qing von Mao Zedong in eine nordchinesische Provinz ins Exil geschickt worden war, wo die Familie in einer Erdhöhle lebte, während der Vater Toiletten putzen musste. Das und vieles mehr erfährt man in dem autobiografischen Comic Zodiac. Mein Leben — meine Kunst, das der Künstler zusammen mit der Autorin und Kuratorin Elettra Stamboulis sowie dem Zeichner Gianluca Costantini realisiert hat. Eine klassische Autobiografie ist das Buch nicht geworden — das wäre bei der Eigenart des 1957 geborenen Künstlers auch überraschend gewesen. Stattdessen sortiert der Comic Ai Weiweis eigene Geschichte, seine Kunst und seine Gedanken in 12 Kapiteln, die den Tierkreiszeichen des chinesischen Horoskops entsprechen. Die Lebensgeschichte ist daher nicht in einer klassischen Narration angelegt. Einzelne Episoden oder nur kurze Ereignisse werden nicht chronologisch erzählt, sondern assoziativ in Ai Weiweis Denkfluss eingewoben. Der wiederum wird von Gesprächen — mit seinem Sohn, seiner Frau, seiner Mutter, befreundeten Künstlern oder anderen Wegbegleitern — angestossen. Ai Weiweis Reden und Denken kreisen um das Leben und die Kunst, sie erzählen von seiner Zeit im New York der 1980er- und frühen 1990er-Jahre, seiner Rückkehr nach China und der schwierigen Zeit unter Beobachtung und mit Restriktionen, die schliesslich zu seiner Verhaftung und anschliessend zum Ausreiseverbot führt. Auch die Zeit im Exil in Europa ist Thema in dem Comic. Vieles wird nur beispielhaft erwähnt oder verweist aufeinander, so dass man nebenher tiefer recherchieren muss, um alle Anspielungen zu verstehen. Zudem spricht Ai Weiwei nicht nur gerne in Metaphern, sondern zieht auch viele chinesische Märchen und Parabeln heran, um seine Sichtweise des Lebens und der Kunst zu erläutern. Der feine, dünne Strich von Zeichner Costantini trägt dazu bei, dass dieser Comic keine beiläufige Lektüre zulässt.
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Christian Meyer-Pröpstl
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Ai Weiwei, Elettra Stamboulis, Gianluca Costantini:
«Zodiac. Mein Leben — meine Kunst».
Knesebeck, 176 S.,
Hardcover, s/w,
EUR 25 / CHF 37.90
Patrick Wirbeleit & Matthias Lehmann: «Ich und Tod Detektei»
Detektiv Tod
Lukas erschrickt zu Tode: Neben ihm auf der alten Klostermauer sitzt ein Skelett in schwarzem Umhang und schaut ihn aus dunklen Augenhöhlen an. «Bin ich tot?», fragt der Junge. «Fühlst du dich tot?», fragt der Knochenmann zurück. Aber Lukas spürt durchaus die Schmerzen, die er sich beim Herumklettern auf der Ruine zugezogen hat. Er ist also nicht tot, er plaudert nur mit dem Tod — der plötzlich wieder weg ist. In den folgenden Jahren stattet Gevatter Tod dem heranwachsenden Jungen immer mal wieder einen Besuch ab. Ich und Tod Detektei ist der neue Comic von Szenarist Patrick Wirbeleit und dem Zeichner Matthias Lehmann, dessen grafische Handschrift hier leider gelegentlich hölzern wirkt. Es fehlt am Flow, der sich zwischen den Panels eines Comics entwickeln kann und sollte. Das ist schade, denn die Geschichte bietet eine schöne Mischung aus Nachdenklichkeit und Witz, Ernst und Leichtigkeit — was sich auch in der Farbpalette widerspiegelt, bei der Lehmann von Adrian vom Baur und Andreas Zimmer unterstützt wurde.
Wirbeleit hat nach der Comic-Reihe Kiste um den Tüftler Mattis und seinen sprechenden Werkzeugkasten (mit Zeichner Uwe Heidschötter) einen Jugendkrimi mit übernatürlichem Touch geschrieben. Einen Hang zum Übersinnlichen bewies der Autor auch schon mit dem britisch angehauchten Gruselkrimi Alan C. Wilder Ltd. (mit Ulf K.) und den Geschichten um das magische Haus Nr. 8 (mit Sascha Wüstefeld).
Ich und Tod Detektei spielt in der deutschen Provinz, Lukas lebt bei seiner liebevollen Mutter, die ein Café am grünen Ortsrand führt und trotz viel Arbeit immer einen Rest Quiche oder Gemüselasagne für ihren Sohn parat hat. Nachbar Johann ist ein grossväterlicher Freund, der den Jungen mit heisser Schokolade und Schauergeschichten füttert; er weiss als Einziger, dass Lukas auf Du mit dem Sensenmann ist. Als Johann dann tot im Teich aufgefunden wird, taucht der Skelett-Detektiv im schwarzen Umhang wieder auf und hilft Lukas zu untersuchen, weshalb der alte Mann ums Leben kam. Das ungewöhnliche Duo spürt düstere Familiengeheimnisse auf, und plötzlich wird es ziemlich brenzlig für die Ich und Tod Detektei.
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Barbara Buchholz
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Patrick Wirbeleit & Matthias Lehmann:
«Ich und Tod Detektei»,
Kibitz-Verlag, 144 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 20 / CHF 29.90
Icinori: «Merci»
Danke!
Merci heisst das aussergewöhnlich stimmungsvolle Album von Icinori, das sowohl Kinder als auch Erwachsene fasziniert und anspricht. Die besten Kinderbücher sind sowieso solche, die mehreren Generationen zugänglich sind, da sie auf verschiedenen Ebenen Anknüpfungspunkte bieten. Dem französischen Künstlerduo Icinori, bestehend aus Mayumi Otero & Raphael Urwiller, gelingt dies durch Reduktion der Texte und bildstarke Illustrationen, die Leser*innen jeden Alters mit auf eine Reise nehmen. Eine Reise, die zu Gedankenspielen inspiriert, indem sie bei Kindern die Fantasie anregt und bei Erwachsenen zu philosophischen Überlegungen und Reflektionen führt. Darüber hinaus vermittelt Merci eine humanistische Demut gegenüber dem Leben und der Natur, denn auf jeder Seite wird einem Gegenstand, einem Lebewesen oder Naturereignis gedankt — zu Beginn des Buches den Farben, im speziellen den Farben Gelb, Rot und Blau, aus denen auch die Illustrationen in Merci bestehen. Im Verlauf des Buches begleiten wir einen kleinen Jungen, der sich auf eine Reise begibt, die ihn von zuhause in die weite Welt und wieder zurück führt, von der Grossstadt in den Dschungel, und von den Meerestiefen bis in luftige Höhen. Am Ende des Buches bedankt sich der Protagonist für all die Erinnerungen, die er von seiner Reise mitbringt. Merci ist ein illustratorisches Meisterwerk, das der französische Verlag La Partie qualitativ hochwertig drucken liess, und das sowohl in der Kinderbuchabteilung als auch bei den Kunst- und Grafikbüchern zuhause ist.
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Matthias Schneider
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Icinori:
«Merci», in französischer Sprache,
Edition La Partie. 176 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 26 / CHF 42.90
Tobi Dahmen: «Columbusstrasse»
Das grosse deutsche Schweigen
«Ich bedaure sehr, dass ich meinen Vater nicht noch mehr fragen kann. Sein Tod war es, der mich dazu veranlasst hat, diese Geschichten nicht nur aufzubewahren, sondern zeichnen zu wollen», erzählt Tobi Dahmen in einem Interview über den Ausgangspunkt seiner neuen Graphic Novel Columbusstrasse. Wie bereits im 2015 erschienenen Fahrradmod steht darin ein autobiografischer Blick auf die Vergangenheit im Zentrum. Während die Leser*innen in Fahrradmod auf eine Reise durch unterschiedliche musikalische Subkulturen der Achtziger eingeladen wurden und die Protagonist*innen beim Erwachsenwerden begleiten konnten, vom ersten Kuss über euphorische Partys und enttäuschte Freundschaften bis zum Wegzug aus Wesel, so geht der Blick in Columbusstrasse weiter in die deutsche Vergangenheit und taucht weiter in die Familiengeschichte ein, bis tief in das Schweigen der deutschen Nachkriegsgesellschaft über die Zeit des Nationalsozialismus: «Im Grunde wurde in unserer Familie geschwiegen, wie in den meisten anderen deutschen Familien, die den Krieg miterlebt haben, auch.» Dieses Schweigen geht einher mit dem Wegschauen während der Jahre 1933 bis 1945, der Zeitspanne, die Dahmen in Columbusstrasse dokumentiert: Jüdische Nachbar*innen verschwinden, Zwangsarbeiter*innen werden zum Räumen der Trümmer nach den Bombenangriffen auf Düsseldorf eingesetzt, wo die Graphic Novel grossteils angesiedelt ist. Die Mehrheitsgesellschaft will von diesem Leid nichts wissen, bedauert und betrauert sich stattdessen selbst.
Dahmen rekonstruiert anhand von Briefen, Fotos und anderen Dokumenten auf über 500 Seiten die Geschichte seiner Eltern, die beide Anfang der Dreissigerjahre geboren wurden und ihre Kindheit unter dem Nationalsozialismus verbracht haben. Vor allem die beiden älteren Brüder seines Vaters, Peter und Eberhard, stehen im Fokus, ihre Briefe von der Kriegsfront sind durchsetzt von der Sprache der Propaganda: «Die Russen sind doch ein Barbarenvolk in höchster Potenz», heisst es dort etwa. Dahmen kontrastiert den Inhalt der Briefe mit Comic-Bildern, in denen die Gräuel der deutschen Wehrmacht im Osten abgebildet werden. «Die Briefe meiner Onkel sprechen eine deutliche Sprache, sie haben Schreckliches erlebt und sie hätten sicherlich lieber etwas anderes mit ihrem Leben angefangen, aber gleichzeitig sind sie beide nach Jahren der Indoktrination freiwillig in einen Vernichtungskrieg gezogen, in dem Millionen Menschen umgebracht wurden», erklärt Dahmen im Gespräch. «Und daran haben sie mitgewirkt, genauso wie die Menschen, die dieses System zuhause unterstützt haben, ein System, das immer nur Krieg und Vernichtung wollte.»
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Jonas Engelmann
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Tobi Dahmen:
«Columbusstrasse».
Carlsen Comics 2024, 528 S.,
Hardcover, s/w,
EUR 40 / CHF 55.90
Mikael Ross: «Der verkehrte Himmel»
Ein abgetrennter Finger im Löwenzahn
Schwarze Schraffuren und graue Raster, Speedlines, schräg geschnittene Panels, schnelle Perspektivwechsel, Lautmalereien und harte Kontraste — der Berliner Zeichner Mikael Ross greift zielsicher in den Werkzeugkasten der dynamischen Comic-Kunst, um seinen jugendlichen Noir-Thriller Der verkehrte Himmel angemessen rasant zu erzählen. Die Story spielt in Berlin-Lichtenberg, in einem Sommer zwischen heissem Beton und Kleingartenkolonie. Die Hauptrollen spielen die Schülerin Tâm und ihr Bruder Dennis, deren vietnamesische Eltern sich in der DDR ein neues Leben aufgebaut haben und ein Restaurant betreiben. Auf einem Parkplatz am Rand eines Markts in Polen treffen Tâm und Dennis auf die junge Vietnamesin Hoa Binh, die in einem Auto eingesperrt ist und kurze Zeit darauf fliehen kann. Später finden Tâm und ihr Schulkamerad Alex unter einer Brücke in Lichtenberg Hoa Binhs Rucksack — und einen abgetrennten Finger, inmitten von Löwenzahn. Fäden laufen zusammen, und schon finden sich Tâm, Dennis und Alex mitten im Strudel einer Verfolgungsjagd, deren Ausmasse sie zunächst nicht begreifen. Gut, dass da auch noch Marina mit den rasierten Schläfen, getuntem Roller und zielsicheren Tritten ist, die einen Crush auf Dennis hat und als robuster Schutzengel fungiert.
Mikael Ross zeichnet seine Figuren im Manga-Stil, mit aufgerissenen Mündern, zugekniffenen Augen und stets expressiver Gestik bzw. Körpersprache, was das Tempo der Geschichte noch vorantreibt. Der Stil unterscheidet sich deutlich von früheren Werken wie Der Umfall, das in Buntstiftoptik und weicheren Formen daherkam. Dafür hatte Ross zwei Jahre in dem Dorf Neuerkerode recherchiert, in dem Menschen mit geistiger Behinderung betreut leben. Aber auch Der verkehrte Himmel beruht auf eigenen Eindrücken: Ross arbeitet seit 2015 als Aushilfslehrer in Berlin-Lichtenberg, wo es eine grosse vietnamesisch-deutsche Community gibt.
Vor dem düsteren Hintergrund von Menschenhandel-Machenschaften erzählt der Künstler seine fiktive Story. Knapp 14 Tage folgen wir dem Abenteuer — die mehr als 300 Seiten blättern sich wie von selbst bei dieser temporeichen und emotionsgeladenen Lektüre,
die zwischen Action, Drama, Komik und einer Prise Poesie oszilliert.
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Barbara Buchholz
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Mikael Ross:
«Der verkehrte Himmel»,
Avant-Verlag, 344 S.,
Softcover, s/w,
EUR 28 / CHF 41.90
Tobias Hoffmann, Hg.: «PGH Glühende Zukunft. Zeichnungen, Plakate, Eigensinn»
Blühende Zukunft
Im Zuge von Gorbatschows Perestroika standen auch in der DDR die Zeichen auf Umbruch. Der Geist der Freiheit war aus der Flasche entwichen und liess sich nicht mehr einfangen. Davon beflügelt, schlossen sich 1989 in Ost-Berlin, noch vor dem Mauerfall, einige junge Künstlerinnen und Künstler aus den Bereichen Grafik, Malerei und Zeichnung zu einem Kollektiv zusammen, das wegweisend für die deutsche Comic- und Illustrationskunst werden sollte. Bis Anfang September ist aktuell im Berliner Bröhan Museum eine umfangreiche Ausstellung über die PGH Glühende Zukunft zu sehen, zu der ein gleichnamiger Katalog erschienen ist. Den Kern des Kollektivs waren Henning Wagenbreth und Anke Feuchtenberger, die gerade ihr Studium an der Kunsthochschule Weissensee abgeschlossen hatten. Mit dabei waren der Buchbinder und Autodidakt Holger Fickelscherer sowie Detlef Beck, der von der Kunsthochschule flog, weil er aus der SED ausgetreten war. Wagenbreth scharte die Mitstreiter*innen um sich und war auch Namensgeber, inspiriert von einem Blumenladen namens Blühende Zukunft. In dieser Zeit des Aufbruchs und Umbruchs brachte das künstlerische Quartett mit Linoldruck gefertigte Flugblätter und Postkarten unters Volk, ob bei Kundgebungen, Demonstrationen oder auf Häuserwänden. Vor allem die druckgrafischen Arbeiten von Wagenbreth und Feuchtenberger erzeugten Aufmerksamkeit und zogen bald Aufträge für Offset- und Holzdruck-Plakate nach sich, ob für Theater, Fraueninitiativen oder das Neue Forum. Fickelscherer und Beck verlagerten im Laufe der Zeit ihren Schwerpunkt auf Cartoons und Comicstrips. Gedruckt und gemalt wurde auf und mit Materialien, die gerade zur Hand waren, ob auf alten Wohnungstüren, Spanplatten, Fahnen, Tapetenrollen oder auch auf die Berliner Mauer. Innerhalb weniger Jahre gab es einen kreativen Output, der die verlorene Zeit in der ehemaligen DDR im Schnelldurchlauf nachzuholen schien. Das Ostberlin der Nachwende war grau und schwarz, doch in der Oderberger Strasse, nahe der Mauer, leuchtete es hell, besonders in der Zentrale der PGH Glühende Zukunft, die in ein leerstehendes Ladenlokal einzog. Als 1995 der neue Eigentümer des Hauses die Räumlichkeiten für sich beanspruchte, war das Ende des Kollektivs eingeläutet. Von nun an gingen alle vier ihre eigenen Wege. Doch das Glühen der damaligen Jahre leuchtet auch heute noch in ihren Arbeiten.
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Matthias Schneider
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Tobias Hoffmann, Hg.:
«PGH Glühende Zukunft. Zeichnungen, Plakate, Eigensinn»,
Bröhan Museum, 100 S.,
Softcover, farbig,
EUR 13 (an der Museumskasse)
BIOGRAFIEN/LINKS
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*1972 in Schaffhausen (CH), lebt als Illustrator, Comic-Zeichner, Maler und Musiker in Berlin. Chrigel Farner liess sich an der Zürcher Hochschule für Gestaltung zum wissenschaftlichen Zeichner ausbilden, dokumentierte dabei unter anderem Hirnoperationen und überfahrene Kakerlaken. Seine aktuelle Publikation ist Pippin der Nichtsnutz, verfasst zusammen mit Tim Krohn, zuerst auf Romanisch erschienen unter dem Titel Pippin il patgific bei Chasa Editura Rumantscha, dann bei Edition Moderne auf Deutsch.
chrigelfarner.com
Nina Wehrle
*1984, ist in Willisau aufgewachsen und wohnt jetzt, nach einigen Jahren in Berlin und Hamburg, mit ihrer Familie in Luzern. Nina ist Teil des Illustrationsduos It’s Raining Elephants (mit Evelyne Laube) und liebt gestalterische Kollaborationen aller Art. Sie arbeitet als freischaffende Illustratorin, betreibt ein Keramik-Label und unterrichtet Zeichnung und Illustration an verschiedenen Institutionen.
itsrainingelephants.ch
Helena Hunziker
*1991, ist in Schaffhausen aufgewachsen und arbeitet seit ihrem Studium in Illustration Fiction an der HSLU als freie Illustratorin und Lehrerin in Luzern. Sie lässt sich beim Zeichnen gerne von Zufällen treiben, mag dreidimensionales und kollaboratives Arbeiten, Experimente, Schwimmen im See, sie kocht gerne, unternimmt Velofahrten und liest viel. Ausserdem interessiert sie sich für die ganz kleinen Dinge und den alltäglichsten aller alltäglichen Alltage.
helenahunziker.ch
M.S. Bastian / Isabelle L.
*1963 / *1967. Eines von Bastians ersten Bildern war ein Schiff, eben die MS Bastian, benannt nach dem Familiennamen seiner Mutter. Und aus Marcel Sollberger wurde flugs MS wie Motorschiff, also fortan M.S. Bastian. Seither stach Bastian als international bekannter Comic-Künstler immer wieder in See oder tauchte unter Wasser; das Meer hat ihn nie mehr losgelassen, Schiffs- und Himmelsmotive wurden seine Spezialität. Dann wurde die Crew um Isabelle L. erweitert, es kamen Stadt-, Paradies- und apokalyptische Motive dazu. Seit über zwanzig Jahren malen sie zusammen irritierende, manchmal verstörende, aber immer auch humorvolle Werke. Unter den vielen Publikationen seien zwei besonders erwähnt: Bastomania — ein Rückblick auf zwanzig Jahre Schaffen — und Bastokalypse, beide erschienen bei Scheidegger & Spiess.
ursreichlin.com/artists
Facebook-Fan-Seite: MS. Bastian & Isabelle L.
Fabian Meister
*1998 in Winterthur (ZH), illustriert, zeichnet Comics, animiert seltsame Kurzfilme und spielt experimentell improvisierte Musik. Er hat 2023 das Illustrationsstudium an der Hochschule Luzern mit dem Comic Brutstätten abgeschlossen und ist seitdem Freischaffender in Emmenbrücke. Meister zeichnete für Fumetto 2024 im Rahmen des Pulsar Förderpreises den Comic Eine Weile innehalten über ein fiktives Überbrückungsheim in einer ehemaligen Teppichfabrik; auch organisiert er Comic Jams.
fabianmeister.ch
Lina Müller
*1981 in Burgdorf (BE), aufgewachsen im Solothurner Jura, arbeitet als freischaffende Illustratorin und Künstlerin in Altdorf. Sie studierte an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich, an der Hochschule Luzern und an der Academy of Fine Arts Krakau. Sie arbeitete für verschiedenste Publikationen und Institutionen wie Die Zeit, Das Magazin, die Neue Zürcher Zeitung und viele andere. In STRAPAZIN Nr. 142 findet sich die Geschichte Sunset Bay, Seaweed Boulevard, die sie zusammen mit Luca Schenardi entwickelt hat. Ihre Arbeiten wurden nominiert für die Swiss Design Awards 2017.
linamueller.com
Luca Schenardi
*1978 in Altdorf (SZ), studierte an der Hochschule Luzern HSLU Illustration-Fiction. Er lebt und arbeitet in Altdorf. Sein bislang umfangreichstes Werk An Vogelhäusern mangelt es jedoch nicht erschien 2012 in der Edition Patrick Frey. 2014 produzierte er zusammen mit Lina Müller das Buch berri Jazz, im April 2017 erschien wiederum in der Edition Patrick Frey eine gezeichnete Sammlung von transkribierten Teletext-Fehlern unter dem Titel Meyer spricht von Gratiskaffee. 2021 war Luca Schenardi Gewinner des Swiss Design Awards im Bereich Graphic Design.
lucaschenardi.ch
Martina Walther
*1983 in Konolfingen (BE), studierte Illustration an der Hochschule Luzern HSLU. Sie arbeitet als freischaffende Illustratorin in Bern und Luzern, ihre Illustrationen und Comics erschienen u.a. bei Le Monde Diplomatique, Fantoche, Megafon Reitschule Bern. 2023 publizierte der Kunstanstifter Verlag ihr Bilderbuch Albertas Wunschladen.
martinawalther.ch
Laura Jurt
*1979, Studium im Fachbereich Visuelle Kommunikation, Studiengang Illustration an der Hochschule Luzern und im Austauschsemester an der Belas Artes do Porto (FBAUP), Portugal. Seit 2004 als selbständige Illustratorin in Zürich tätig. Arbeitsaufenthalte in Paris und Lissabon. 2015 Werkpreis der Hans-Meid-Stiftung, 2017 Förderpreis Illustration, Internationale Bodensee Konferenz (IBK) Mitglied des Druckerkollektivs Zitropress (F+F).
laurajurt.ch
Helge Reumann
*1966 in Uster (ZH). Ausbildung als Grafiker an der Ecole des Arts Décoratifs de Genève. Helge Reumanns Arbeiten sind über die Jahrzehnte oft in STRAPAZIN erschienen, eine ganze Geschichte zuletzt in Nr. 149 zum Thema «Grosse Schiffe». Helge Reumann überrascht immer wieder mit faszinierenden Buchprojekten, 2007 zum Beispiel mit Elvis Road, einem Leporello in Buchform, erschaffen zusammen mit seinem Studio-Kollegen Xavier Robel, ein Werk, das auch prompt seinen Weg in die Schönsten Schweizer Bücher fand. 2014 erschien Sexy Guns bei United Dead Artists, 2017 dann Black Medicine Book und 2019 SUV in der Editions Atrabile. Helge Reumann lebt und arbeitet in Genf, er unterrichtet unter anderem an der Hochschule für Kunst und Design HEAD.
helgereumann.tumblr.com