No:140

  • Cover: Iris Boudreau
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EDITORIAL

Die Ausgabe von Strapazin, die Sie in Ihren Händen halten, ist ganz den Comics aus Québec gewidmet. Québec ist zwar nur eine der zehn Provinzen und drei Territorien, aus denen Kanada besteht, aber auch die einzige Provinz des Landes, die Französisch und nicht Englisch als offizielle Sprache hat. Von den 37 Millionen Einwohner*innen Kanadas leben nur 8,5 Millionen in Québec; nimmt man die 328 Millionen Einwohner*innen der Vereinigten Staaten hinzu, wird das Besondere an Québec als französische Insel im Meer der Anglophonen noch deutlicher. Dies spiegelt sich auch in der Kunst Québecs, Comics bilden da keine Ausnahme. Lange Zeit steckten die Comic-Zeichner*innen zwischen der französisch-belgischen Produktion und der amerikanischen Comic-Industrie fest.
Aber seit fast zwanzig Jahren erleben Québecer Comics einen Boom. Die Zahl der Künstler*innen hat sich vervielfacht, begleitet von vielen neuen Publikationsmöglichkeiten und Veranstaltungen sowie einem gesteigerten Interesse seitens der Medien und der Institutionen an diesem Medium. Comic-Künstler*innen aus Québec machen zunehmend auf sich aufmerksam, auch international —hauptsächlich natürlich im französischsprachigen Europa und in den Vereinigten Staaten. Die Autor*innen zeichnen sich in allen Sparten des Genres Comics aus, sowohl in erzählerischer als auch in ästhetischer Hinsicht.
Wir zeigen in dieser Ausgabe von Strapazin eine Auswahl von zwanzig Autor*innen, die zu den repräsentativsten der verschiedenen Strömungen der Québecer Comics gehören. Einige Namen sind bekannt, wie z.B. Julie Doucet und Diane Obomsawin, die uns hier einen Einblick in ihre jüngsten Arbeiten erlauben. Die meisten anderen Namen sind Neuentdeckungen für Europa. Und vergessen Sie nicht — es handelt sich zwar nur um eine Kostprobe der in Québec vorhandenen Talente, doch finden Sie hier eine Vielfalt von Erzählstilen und Themen, repräsentativ für die Vitalität der mehr als 250 Comic-Schaffenden in dieser
kanadischen Provinz. Auf Seite 3 finden Sie einen Artikel, der die Geschichte des Comics in Québec skizziert.
Eigentlich hätte Kanada dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse auftreten sollen, was eine einzigartige Gelegenheit gewesen wäre, die Talente Nordamerikas einem breiteren Publikum vorzustellen. Leider hat uns die Coronavirus-Krise einen Strich durch die Rechnung gemacht. Als ich dieses Editorial schreibe, ist es noch unklar, ob die Einladung nach Deutschland verschoben wird, oder ob der Auftritt online stattfindet. Wie auch immer, ob Virus oder nicht, wir vom Québecer BD1-Team möchten diese Zusammenarbeit mit Strapazin nutzen, unsere Kunst nach Europa reisen zu lassen.
Wir danken dem Strapazin-Team ganz herzlich, insbesondere Claudio Barandun und Lawrence Grimm.

Francis Desharnais
Gelegentlicher Comic-Autor und -Verleger
Thomas-Louis Côté
Direktor von BD Québec

 

Die Geschichte der Comics in Québec – Wie der Comic nach Québec kam

Von Thomas-Louis Côté und Michel Viau

Angesichts der wachsenden Zahl von Autor*innen, engagierten neuen engagierten Verlagen, internationalen Erfolgen und einer wachsenden Leserschaft ist man versucht zu glauben, dass Québecs neunte Kunst erst jetzt entsteht. Die aktuelle Lebendigkeit der Comic-Szene markiert jedoch eher ein neues «goldenes Zeitalter» für das Medium Comics in der einzigen französischsprachigen Provinz Kanadas. Tatsächlich können die heutigen Comics auf eine reiche Tradition zurückgreifen, die Literat*innen, Medien und sogar Comic-Liebhaber*innen oft wenig bekannt ist.
Die erste Spur eines Québecer Comics, auch BDQ genannt, findet sich im Mai 1792, im Zusammenhang mit einer der ersten kanadischen Wahlen. Während des Wahlkampfes erschien ein Wahlplakat mit Bildern in Panels und mit Sprechblasen – ganz in der britischen Tradition. Dieses Plakat mit dem Titel À tous les électeurs (An alle Wähler) kann durchaus als Comich bezeichnet werden, vielleicht ist es der älteste im französischen Sprachraum.
Während des gesamten 19. Jahrhunderts gab es in Québec verschiedene satirische Zeitschriften. Publikationen wie Le Canard, La Scie, Le Grognard und Le Charivari canadien enthielten zahlreiche Illustrationen und Karikaturen sowie stumme oder mit Untertiteln versehene Comics. In dieser Zeit trugen Pioniere wie Henri Julien (L’album drolatique du journal Le Farceur) und Hector Berthelot (La Vie d‘étudiant, Le Père Ladébauche) dazu bei, den Weg für eine erste Generation von Comic-­Autor*innen aus Québec zu ebnen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannten die Zeitungen, dass diese Art der Unterhaltung die Leser*innen nicht nur wegen ihres Humors anzog, sondern auch wegen ihrer Fähigkeit, komplexere Geschichten als Karikaturen zu erzählen. Karikaturisten fanden Arbeit bei grossen Zeitungen in Québec, unter ihnen Raoul Barré, der 1902 mit Pour un dîner de Noël den ersten Comic in einer Québecer Tageszeitung veröffentlichte. Barré, der später nach New York zog, um in der aufkommenden Trickfilmindustrie tätig zu werden, war auch der erste Karikaturist aus Québec, der mit seiner Serie Noahzark Hotel für eine amerikanisches Firma arbeitete (McClure Newspaper Syndicate, 1913).
Mit Comics in den Tageszeitungen wurde ein erstes goldenes Zeitalter für die 9. Kunstform in Québec eingeläutet. 1904 beschritt die Montrealer Tageszeitung La Patrie neue Wege, indem sie die erste wöchentlich erscheinende Comic-Serie veröffentlichte: Les Aventures de Timothée, zuerst von Albéric Bourgeois, dann von Théophile Busnel gezeichnet. Dieser fünf Jahre lang erscheinende Comic war von amerikanischen Vorbildern inspiriert und verwendete zum ersten Mal Sprechblasen, zwanzig Jahre bevor diese in europäischen französischsprachigen Comics auftauchten. Die Konkurrenzzeitung La Presse zog schnell nach und so entstanden in diesen Tageszeitungen zahlreiche Serien wie La Famille Citrouillard (René-Charles Béliveau), Monsieur Phirin Lefinfinfin (H. Samelart), Le Père Ladébauche (Joseph Charlebois), Le contes du Père Rhault (Raoul Barré), Toinon et Polype (Albéric Bourgeois) u.v.a. Zwischen 1904 und 1909 erschienen mehr als 600 Seiten mit Comics.
So schnell die frankokanadischen Comics entstanden waren, so schnell verschwanden sie auch schon wieder, als die Zeitungen ab 1909 keine Comics mehr abdruckten. In den 1920er Jahren tauchten amerikanische Strips auf, vertrieben von Presse-Syndikaten. Einigen Autor*innen gelang es, eigene Strips zu platzieren, darunter Avila Boisvert, Autor des ersten Strips in einer Québecer Tageszeitung (Bénoni, 1922) und Yvette Lapointe, die erste Québecer Comic-Autorin (Petits espiègles, 1933), Vic Martin (L’Oncle Pacifique, 1935) und Roberto Wilson (Les Aventures de Robert et Roland, 1956).
Nach einer eher schwierigen Periode trug ausgerechnet die Kirche zur Wiederbelebung des Genres bei, indem sie konservative historische Comic-Geschichten publizierte. Katholische Gruppen wie die Centrale de la Jeunesse étudiante catholique (François, 1943 und Claire, 1957) und vor allem der Verlag Fides (Hérauts, 1944) versuchten sich in der neunten Kunst und gaben einheimischen Autoren Arbeit. Eine bemerkenswerte Ausnahme war jedoch Albert Chartiers Onésime-­Serie mit der gleichnamigen Hauptfigur. Die 1943 für die landwirtschaftliche Zeitschrift Le Bulletin des Agriculteurs mitten in der «BDQ-­Krise» publizierten humorvollen Abenteuer dieser Figur erfreuten sich bis 2002 grösster Beliebtheit und gelten damit als der am längsten laufende kanadische Comic-Strip.
Die 1960er-Jahre waren weltweit eine Zeit der Veränderungen. In Québec zirkulierten an Universitäten und in der Kunstszene neue Arten von Comics, der «Frühling der BDQ» war angebrochen. Eine Schlüsselfunktion hatte die Gruppe Chiendent, bestehend aus André Montpetit, Marc-Antoine Nadeau, Michel Fortier und Claude Haeffely mit Comics wie Ma®de in Kébec (Sherbrooke, 1971), B. D. (Sainte-Thérèse, 1971), L’Hydrocéphale illustré (Montreal, 1971), Patrimoine (Québec, 1973), Tomahac (Arvida, 1973) und La Pulpe (Hull, 1973). Es gab erste Comic-Festivals und Ausstellungen, und eine der wichtigsten Comic-­Figuren, Captain Kébec, geschaffen von Pierre Fournier, wurde geboren.
In diese Zeit fällt auch die Gründung von La coopérative Les Petits dessins (1974) durch den Autor und Verleger Jacques Hurtubise (alias ZYX), die den Kreationen aus Québec einen Platz auf den Seiten der Tageszeitungen verschaffte. Daraus ging 1979 das Humormagazin CROC hervor, ein wesentliches Element bei der Wiederbelebung des BDQ.
Les Réal Godbout und Pierre Fournier (Michel Risque, Red Ketchup), Jean-Paul Eid (Jérôme Bigras), Claude Cloutier (Gilles la Jungle), Raymond Parent (Les Ravibreur) und Serge Gaboury zeichneten BDQ-Klassiker, die man heute noch kennt.
Das CROC-Abenteuer, das 1995 endete, öffnete die Tür zu einer Vielzahl neuer Publikationen, darunter Cocktail (1981), Titanic (1983), Iceberg (1983), Tchiize bis (1985) und Safarir (1987), in denen viele auch heute noch aktive Autor*innen veröffentlichten, darunter Rémy Simard, Caroline Merola, Thierry Labrosse, Gabriel Morrissette, André-Philippe Côté, Jacques Lamontagne, Mario Malouin, Henriette Valium, Diane Obomsawin und Grégoire Bouchard.
Zur gleichen Zeit entwickelte sich in Québec eine eher auf die Jugend abzielende Comic-Szene, mit Figuren wie Gargouille (Tristan Demers, 1983), Zeitschriften wie Les petits débrouillards (1982) mit Figuren von Jacques Goldstyn und dem Erscheinen von Ovale (1982) und Mille-Iles (1989). Am Ende der 80er-Jahre wurde vor allem Montreal von Underground-Fanzine und Mini-Comics überflutet, von Autor*innen mit einem sehr persönlichen Stil, darunter Julie Doucet, Siris und Richard Suicide. Aus diesen alternativen Publikationen ging der englischsprachige Verlag Drawn & Quarterly (1990) hervor, gegründet von Chris Oliveros, der neuartigen, oft autobiographischen Comics sehr viel Platz einräumte. Mit dem Entstehen von Drawn & Quarterly, heute einem der grössten unabhängigen englischsprachigen Verlage, wurde das zweite goldene Zeitalter des BDQ eingeläutet.

 
 

PFLICHT LEKTüRE

Takei, Eisinger, Scott, Becker: «Eine Kindheit im Internierungslager»

US-Konzentrationslager

Der US-japanische Schauspieler und Aktivist George Takei ist vielen als Sulu aus der 1960er-TV-Serie Raumschiff Enterprise ein Begriff. Wenige hingegen wissen, dass Takei als Kind mit seiner Familie in ein Internierungslager gesteckt wurde. Dieses dunkle Kapitel der US-Geschichte beginnt direkt nach dem Angriff 1941 auf die US-Flotte durch japanische Streitkräfte in Pearl Harbor. Japaner*innen oder japanischstämmige US-Bürger*innen wurden ab da als Feind betrachtet und interniert, da man ihre Loyalität zu den USA anzweifelte. Insgesamt wurden zwischen 1942 und 1945 rund 120’000 (US-)Japaner*innen in Lagern untergebracht, so auch der vierjährige George mit seinem Bruder und seinen Eltern. Für sie wird das Internierungslager für die nächsten paar Jahre ihr Zuhause, für George bleiben trotz aller Ungerechtigkeit auch schöne Kindheitserinnerungen erhalten. Doch ganz klar formt sich daraus Takeis zukünftiges Engagement als Aktivist. Die nun vorliegende Autobiografie zieht zieht Parallelen zum heutigen Umgang der USA mit seinen Immigrant*innen.
Sie ist ergreifend geschrieben, aber anstatt sein amerikanisches Heimatland für die diversen Missstände anzuprangern, führt Takei einen klugen Diskurs und analysiert sachlich die verschiedenen Reaktionen seiner Landsleute und seiner Eltern auf diese Ungerechtigkeit. Lange vor Takei hatte bereits 1946 die japanische Künstlerin Miné Okubo ihre Erfahrungen in Citizen 13660 als Bildergeschichte für Erwachsene auf Papier gebracht (siehe Strapazin Nr. 100). Takei, als ein ziemlich berühmter US-Asiate in Hollywood, mag mehr bewirken, jedenfalls ist sein Buch heute aktueller denn je.
Giovanni Peduto

George Takei, Justin Eisinger, Steven Scott, Harmony Becker:
«They Called us Enemy: Eine Kindheit im Internierungslager».
Ludwigsburg, Cross Cult, 208 S.,
Hardcover, s/w, € 25 / CHF 38.90

Serge Bloch: «Die Bären aus der Rue de l’Ours»

Die Bären sind los

In der jüdischen Kultur geht man davon aus, dass jeder Mensch mit einer bestimmten Anzahl von Wörtern auf die Welt kommt, und wenn er alle ausgesprochen hat, stirbt er. Der französische Illustrator Serge Bloch, 1956 in Colmar im Elsass geboren, hat dies als Schüler oft von seinem Talmud-Lehrer gehört, wenn es in der Klasse mal wieder zu laut wurde. Vielleicht erklärt das, so schreibt Bloch, warum er sich in jungen Jahren gegen den Willen seiner Eltern entschieden hat, in Strassburg Illustration zu studieren und sich ganz der stillen Kunst des Zeichnens zu widmen. Heutzutage gehört Bloch zu den international renommiertesten Illustratoren, und neben seinen Arbeiten für die New York Times, Le Monde und die Süddeutsche Zeitung hat er zahlreiche Kinder- und Jugend­bücher illustriert, für die er international mehrfach ausgezeichnet wurde. 40 Jahre hat sich Bloch Zeit gelassen, bis er nun mit dem bibliophilen Buch Die Bären aus der Rue de l’Ours seiner Familie eine ganz besondere Liebeserklärung in Wort und Illustration macht. Zentrum des Familienlebens bildet die koschere Metzgerei in der Rue de l’Ours, 1907 vom Grossvater gegründet, als das Elsass zu Deutschland gehörte. Blochs Vater zog 1939 für Frankreich in den Krieg, 1940 wurde die Stadt wiederum dem Deutschen Reich angeschlossen, um 1945 dann erneut an Frankreich zurückzufallen. Die bewegte und vom Krieg geprägte Geschichte des Ortes spiegelt sich auch in Blochs Familie wieder – der Krieg ist kein Thema, und über Gefühle können «les ours», die Bären, nicht besonders gut sprechen. Und doch schafft sich die Grossfamilie nach der turbulenten Zeit eine Insel, auf der sich ihre Mitglieder gegenseitig helfen. Mit Unterstützung der Schriftstellerin Marie Desplechin gelingt Bloch eine eindrucksvolle Erzählung aus den Augen eines Kindes, das den Freigeist seiner Familie bereits früh in sich trägt. Blochs Illustrationen bestechen durch ihre Leichtigkeit, man kann seine Zeichenbewegungen regelrecht nachvollziehen, und ihre Skizzenhaftigkeit verleiht ihnen eine besondere Lebendigkeit. Die Bären aus der Rue de l’Ours laden den Leser und Betrachter zu einer berührenden Zeitreise ein, wie man sie nur selten erfährt. Ein ganz besonderes Buch.
Matthias Schneider

Serge Bloch: «Die Bären aus der Rue de l’Ours».
Kunstanstifter, 192 S.,
Hardcover, s/w, € 22

Britta Teckentrup: «Sommerhaus am See»

Alexander Haus

Der Begriff Palimpsest steht für mittelalterliche Schriftstücke, meist aus Pergament, die mehrmals abgeschabt oder gewaschen wurden, um sie neu zu überschreiben. Da-bei verschwanden die Originaltexte oft nicht ganz, waren also weiterhin teilweise zu entziffern, und so überlagerten sich die Texte, oder wie hier im Buch von Britta Tec-kentrup, Geschichte um Geschichte. Palimpseste sind auch die beeindruckenden Illustrationen, die die Autorin für die Bilderbuch-Adaption der Literaturvorlage Sommerhaus am See gefunden hat, aber auch das Sommerhaus selbst, dem die Rolle eines Protagonisten zukommt. Der englische Autor und Journalist Thomas Harding hat sich 2013 auf den Weg nach Berlin an den Glienicker See gemacht, zu dem Haus, das sein jüdischer Urgrossvater Alfred Alexander 1927 gebaut hatte und das der Familie bis 1936, als sie von den Nazis vertrieben wurde, als Sommerhaus diente. Im Jahr darauf verkaufte die Gestapo das Haus an den Komponisten und Musikverleger Will Meisel, Mitglied der NSDAP, der 1944 mit seiner Familie nach Österreich floh. Von dort aus gewährte Meisel seinem Geschäftsführer und dessen jüdischer Frau Unterschlupf in dem Haus am See, bis die beiden weiterfliehen mussten, kurz bevor 1945 die Sowjets den Ort besetzten. 1961 wurde das Haus erst durch einen Zaun, dann durch die Mauer vom See abgeschnitten. 1985 mietete der Strassenreiniger Wolfgang Kühne mit seiner Familie das Haus, er spionierte für die Stasi seine Nachbarn aus. Ab 1999, nach Kühnes Tod, stand das Haus leer. Harding gelang es, die Stadt Potsdam davon zu überzeugen, gemeinsam mit seiner Familie das Haus zu renovieren und es in die Gedenkstätte Alexander Haus umzuwandeln. Teckentrup hat Hardings Buchvorlage stark gekürzt, sie erzählt mit ausdrucksstarken ganzseitigen Illustrationen die turbulente Geschichte des Hauses und seiner Bewohner*innen. Farbflächen überlagern sich und – als ob die Bilder durch Schaben und Kratzen bearbeitet worden wären – scheinen mehrere Schichten durch sie hindurch. Eine intensive Textur entsteht, mal grell leuchtend, mal düster. Mit ihrem Bilderbuch ist Teckentrup eine kongeniale illustratorische Umsetzung der bewegenden Geschichte des Sommerhauses am See gelungen.
Matthias Schneider

Britta Teckentrup: «Sommerhaus am See».
Jacoby & Stuart, 48 S.,
Hardcover, farbig, € 15

Tor Freeman: «Willkommen in Oddleigh»

Britisch-spleenig

Inspektorin Jessie und Sergeant Sid sorgen in der kleinen Stadt Oddleigh, eine Anspielung auf den englischen Begriff «odd» (sonderbar, verschroben), für Recht und Ordnung. Im beschaulichen Städtchen spielen sich merkwürdige Dinge ab, wie das ungleiche Ermittlerteam feststellt – die Inspektorin, eine zierliche Maus mit rosa Ohren und Schwanz, der Sergeant, ein grosser, rundlicher Kater.
Die britische Illustratorin und Kinderbuchautorin Tor Freeman hat mit Willkommen in Oddleigh ihren ersten Comic vorgelegt. In den fünf Geschichten des Bandes häufen sich skurrile Vorfälle: In Der Fluch von Lorringham (bereits abgedruckt in Ausgabe 2 des Kindercomic-­Magazins Polle) haben sie einen Fluch zu brechen, der auf dem herrschaftlichen Landhaus von Lady Angora liegt, in dem die Grosstante der Lady spukt. Um sie zu bannen, ist nicht nur Mut erforderlich, es müssen auch Rätsel geknackt werden. In Ptess von den Oddleigh Hills verwirrt ein junger Flugsaurier einen Walross-Professor, und in Die Leibwächter klären Jessie und Sid auf, wer den fuchspelzigen Schnulzensänger Flynn Carrington mit Drohbriefen, Kaugummi in Haarbürsten und untergeschobenen Furzkissen belästigt. Der Zahnarzt enthüllt sein dunkles Geheimnis gar nur der Leserschaft, während Jessie nach dem Besuch zwar ihre Zahnschmerzen, nicht aber den Verdacht los wird, dass mit dem Krokodil Dr. Hauer etwas nicht stimmt.
Am schrägsten und originellsten ist die Geschichte Der Kult um eine Raupen-Sekte. Die kleinen grünen «Kokonisten» fiebern dem Augenblick entgegen, an dem ihr Anführer sich in einen Schmetterling verwandelt, doch bei der Prozession mit dem Kokon stellt sich heraus, dass er gegen eine alte Dörrpflaume ausgetauscht wurde. Der Verdacht besteht, dass der Kokon in dem bereits verspeisten Kuchen gelandet ist …
Tor Freemans Personal besteht aus Tierfiguren mit ausdruckstarker Mimik, mit weit aufgerissenen, verdrehten oder von schweren Tränensäcken verhangenen Augen. Insgesamt passt Tormans illustrativer, malerischer Zeichenstil mit den gedeckten Farben gut zum niedlichen, aber dennoch britisch-spleenigen Ton der Geschichten.
Barbara Buchholz

Tor Freeman: «Willkommen in Oddleigh».
aus dem Englischen von Matthias Wieland,
Reprodukt, 64 S.,
Softcover, farbig,
€ 18 / CHF 26.90

Joe Sacco: «Wir gehören dem Land»

Fluch und Segen der Rohstoffe

Joe Sacco, der wohl berühmteste aller Comic-Journalisten, erkundet in Wir gehören dem Land den Konflikt der Dene, der indigenen Bevölkerung Kanadas, mit dem Staat, der Kirche, den Rohstoff-Firmen. Fluch und Segen gleichzeitig ist die Ausbeutung der Bodenschätze Öl, Gas und Diamanten. Einerseits schafft die Industrie reichlich Arbeitsplätze und ist für viele Dene die einzige Chance, der Armut zu entfliehen. Andererseits zerstört die Förderung der Bodenschätze die Natur, die für hunderte von Jahren nicht nur Lebensgrundlage für die Dene war, sondern auch die Grundlage ihrer mythischen Kultur. Joe Sacco bereist den Nordwesten Kanadas und steigt mittels zahlreicher Interviews und Ortserkundungen immer tiefer in das Thema ein, erforscht die unterschiedlichen Positionen zu wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen innerhalb der indigenen Gemeinschaft, ihre Geschichte, ihre Gegenwart und ihr Verhältnis zur Natur, von der sie so sehr geprägt und zugleich abhängig ist. Sacco ergreift auch in dieser Reportage klar Partei, zudem ist er immer Teil des Geschehens, das er in aufwändigen, detaillierten Zeichnungen seiner Reise und der Interviewszenen festhält; er bebildert aber auch die Geschichten, Anekdoten und Hintergründe, von denen seine Gesprächspartner sprechen. Häufig schildert er den immensen Informationsfluss in seitenfüllenden Zeichnungen, die sich wiederum aus mehreren ineinanderfliessenden Einzelbildern zusammensetzen. Alleine dadurch entsteht eine sehr dynamische und dramatische Erzählweise; die Vielstimmigkeit durch die zahlreichen O-Töne der Interviewpartner*innen trägt noch mehr dazu bei, dass Wir gehören dem Land nicht nur informativ ist, sondern auch sehr spannend.
Christian Meyer-Pröpstl

Joe Sacco: «Wir gehören dem Land».
Edition Moderne, 256 S., Softcover, s/w,
€ 25 / CHF 29.80

Yoshiharu Tsuge: «Der nutzlose Mann»

Eine Ode an das Scheitern

Eigentlich ist Sukezô Sukegawa ein von Kritik und Verlegern gefeierter Mangaka – und doch wendet er sich vom Manga ab und nimmt konsequent keine Angebote mehr an. Als Händler von unbearbeiteten Steinen, die er an einem Flussufer sammelt, ist er indes so erfolglos, dass er seine Familie ins Elend stürzt. Ein Mann, der seine Familie nicht ernähren könne, sei nutzlos, heisst es einmal im Buch; anderswo vergleicht seine Frau ihn mit einer Larve.
Der 1937 geborene Yoshiharu Tsuge stiess in den 1960er-Jahren zur legendären Zeitschrift Garo. Mit seinen kurzen Geschichten (siehe die in Strapazin 139 besprochene Anthologie Rote Blüten) revolutionierte er den Manga in vielerlei Hinsicht: Er begründete den autobiografischen Manga, pflegte in einigen Geschichten einen verstörendem Realismus, und erforschte in anderen mit einer eigenwilligen Symbolsprache die Räume zwischen Traum, Wirklichkeit und Wahrnehmung. Damit begeisterte Tsuge Japans Intellektuelle und dieKunstszene – nicht zuletzt dank ihm kam der Manga in der Hochkultur an.
Trotz seines Erfolgs litt Tsuge zeitlebens an Depressionen, Ängsten und einer krankhaften Schüchternheit. Das führte 1987 zu seinem endgültigen Rückzug vom Manga – nicht aber, ohne zuvor mit Der nutzlose Mann sein künstlerisches Vermächtnis abgeliefert zu haben, eine desillusionierte Reflexion über den Künstler als Aussenseiter, dessen Existenz für sich und andere von zweifelhaftem Wert ist.
Auf seiner Suche nach Beschäftigung und Verdienst treibt Tsuges Alter Ego Sukegawa immer weiter in gesellschaftliche Randzonen ab; dass die Gesellschaft Unangepasste wie ihn ausstösst, ist ihm je länger, je gleichgültiger. Auf seinen ziellosen Gängen begegnet er anderen Aussenseitern; manchmal verliert oder vergisst er sich, träumt von Flucht oder Suizid – und mehrmals wird er von seinem kränklichen Sohn gefunden und nach Hause gebracht. Dort erwartet ihn seine Frau, für die die Situation verständlicherweise immer unerträglicher wird.
Diese kurze Inhaltsbeschreibung mag schlicht klingen, doch die Vermischung dieser Alltagstristesse mit symbolischen und metaphorischen Elementen ist sowohl erzählerisch als auch zeichnerisch eindringlich und zutiefst emotional. Wie die Erzählungen wirken auch die Zeichnungen vordergründig schlicht und nüchtern, doch die Seiten sind klug gestaltet und von einer dem Inhalt entsprechenden Vielschichtigkeit. Allein wie Tsuge es schafft, die Gattin während der ersten hundert Seiten so zu zeichnen, dass ihr Gesicht für uns unsichtbar bleibt, ist beeindruckend.
Der nutzlose Mann ist spürbar authentisch und sehr düster. Und doch ist in der zugespitzten Darstellung von Sukegawas Depression und Verhalten eine Prise schwarzen Galgenhumors spürbar, die leicht übersehen werden könnte. Letztlich macht diese stoische Ironie Tsuges poetische Ode an das Scheitern erträglich und zu einem Meisterwerk.
Christian Gasser

Yoshiharu Tsuge: «Der nutzlose Mann».
aus dem Japanischen von Nora Bierich,
Reprodukt, 416 S.,
Softcover, s/w,
€ 24 / CHF 32.50

James Sturm: «Ausnahmezustand»

Gräben

Off Season heisst die neue Graphic Novel von James Sturm im Original und beschreibt damit nicht nur die düstere Jahreszeit und Stimmung, in der das Ehedrama von Mark und Lisa angesiedelt ist, sondern auch die Form des Erzählens. Nebenbei werden auch die Risse geschildert, die sich in der amerikanischen Gesellschaft auftun, zwischen den Geschlechtern, den Arbeitern und der Mittelschicht, zwischen Alt und Jung, Aufbruch und Tradition. Angesiedelt ist die Story in den Monaten um die Wahl von Donald Trump, während der sich die Gräben stetig vertieft haben. Dass der Verlag Reprodukt für die deutsche Version den Titel Ausnahmezustand gewählt hat, ist vermutlich auch politisch zu deuten – die gesellschaftlichen Zustände in den USA haben sich weiter verschärft, haben Züge eines permanenten Ausnahmezustandes angenommen.
In einer Kleinstadt irgendwo in den USA leben Mark und Lisa, die sich gerade getrennt haben und sich über die Betreuung ihrer Kinder Suzie und Jeremy verständigen müssen. Sie wollen alles besser machen als andere getrennte Eltern und tauschen schliesslich doch Schimpfworte und Anwaltsbriefe aus. Mark arbeitet als Bauarbeiter und wird von seinem Arbeitgeber über den Tisch gezogen, Lisa hingegen muss sich dank ihrer wohlhabenden Eltern keine Sorgen machen, was zu weiteren Konflikten zwischen den beiden führt. Der erste Graben, den Sturm zeigt, ist jener zwischen den sozialen Schichten und ihren Möglichkeiten innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft. Doch die Gräben sind vielschichtig: Lisa unterstützt Hillary Clinton, die für Mark zum Establishment gehört, ohne dass er deswegen Trump wählen würde. Die Kinder der beiden sind hin- und hergerissen zwischen den Erwartungen ihrer Elternteile, für sie spielt sich der Ausnahmezustand im Alltag ab.
Diesem Zerfall von Strukturen und Gewissheiten setzt James Sturm zwei ästhetische Strategien entgegen: Masken und eine klare Seitenstruktur. Es sei befreiend für Schauspieler, eine Maske zu tragen, erklärt eine Stimme aus dem Off im Ausnahmezustand. Dass die Protagonisten als Hunde dargestellt sind, ist als Hinweis darauf zu lesen, dass in dieser Verfremdung auch die Möglichkeit liegt, aus der Distanz wieder zu einem klaren Blick auf die gesellschaftlichen Realitäten zu kommen. So deuten auch die letzten Panels nach dem emotionalen Chaos der Geschichte eine innere Ruhe und Klarheit an. Um diesem Wirrwarr zusätzlich Herr zu werden, hat Sturm seine Seiten streng arrangiert, von der Struktur zweier Panels pro Seite weicht er nicht ab. Wenn auch alles zusammenbricht, so kann man sich als Leser*in zumindest an diese Struktur klammern.
Jonas Engelmann

James Sturm: «Ausnahmezustand».
Reprodukt, 216 S.,
s/w, Hardcover,
€ 24 / 36.90 CHF

Moa Romanova: «IdentiKid»

Die Künstlerin und der «Fernsehpromi (53)»

Moa Romanova zeichnet sich selbst mit riesigen Händen und Füssen, ihre Arme und Beine sind zu lang und zu schwer. Wenn sie ihren Kopf in ihre Hände legt, verschwindet er ganz. Und das tut sie oft, ihren Kopf in die Hände legen; oft kauert sie auch in einer Ecke auf dem Boden, oder sie liegt zusammengekrümmt auf ihrem Bett, man spürt, dass auch die kleinste Bewegung eine ungeheure Anstrengung bedeutet. Und doch bewegt sich dieser unförmige Körper bisweilen erstaunlich anmutig und selbstbewusst über die Seiten von IdentiKid. So bringt die Darstellung des Körpers sehr gut die Spannungen zum Ausdruck, unter denen Moa Romanova leidet, diesen Cocktail aus Depressionen, Panikattacken und plötzlichem Lebenshunger.
Moa Romanova ist Schwedin, 28 und verarbeitet in IdentiKid die Lebenskrise, die sie als Mittzwanzigerin erlebte. Sie schildert ihre prekäre Studentinnen- und Künstlerinnenexistenz, deren seltene Lichtblicke – Parties, Drogenkonsum, sexuelle Abenteuer – von langen Tunnelphasen abgelöst werden.
Ihr Leben erfährt eine besonders tiefe Erschütterung, als die Dating-Plattform Tinder sie mit einem «Fernsehpromi (53)» verbandelt. Moa und der namen- und gesichtslos bleibende Prominente treffen sich, und aus dieser Affäre entwickelt sich eine eigenartige Fernbeziehung, die es Moa schliesslich ermöglicht, einen Weg aus der Krise zu finden.
Identikid ist düster und schräg zugleich und voll schwarzen Humors. Mit ihrem Hang zu sarkastischer und selbstkritischer Zuspitzung schafft Romanova die Distanz, um aus ihren Erfahrungen so etwas wie die Geschichte ihrer Generation zu schälen: Erfolgsdruck, Versagensängste und drohende Burn-outs; die Verpflichtung zum Glücklichsein, die Arbeit als Projekt zur Selbstverwirklichung, die Tyrannei der sozialen Medien und ihre Gnadenlosigkeit vor allem den Jugendlichen gegenüber, die, wie Romanova, anders ticken.
Romanovas Strich ist klar, die Bildgestaltung jedoch sehr stilisiert, kaum je naturalistisch. Die Hintergründe sind körnig, die sparsam eingesetzten Grün-, Rosa- und Gelbflächen sind unwirklich kühl. So entsteht ein spannender Bruch zwischen der klar erzählten, authentischen Geschichte und der grafischen Kunstwelt.
Mit Identikid legt Moa Romanova nicht nur ein beeindruckendes Debüt vor, sondern hat auch – das beweist ihr Erfolg – einen Nerv der Zeit und ihrer Generation getroffen.
Christian Gasser

Moa Romanova: «IdentiKid».
aus dem Schwedischen von Katharina Erben,
Avant Verlag, 184 S.,
Softcover, farbig,
€ 25 / CHF 35.50

Paolo Bacilieri: «Sweet Salgari»

Knebelvertrag und Burn-out um 1900

Paolo Bacilieri hat vor zwei Jahren auf dem Comic Salon in Erlangen mit seiner Graphic Novel Fun und einer dazugehörigen Ausstellung begeistert. Nun erscheint auch der Vorgänger von Fun auf Deutsch: In Sweet Salgari widmet sich Bacilieri dem Leben und Werk des italienischen Schriftstellers Emilio Salgari (1862 – 1911), einem Fliessband-Autor von Abenteuerromanen, vergleichbar mit Karl May, Jules Vernes oder Rudyard Kipling. Die beiden Letzteren kommen in dieser Biografie auch als erfolgreichere Konkurrenten vor. Sehnsucht nach Anerkennung begleitete Salgari sein Leben lang; zwar wurde er in grossen Auflagen gelesen und auch in zahlreiche Sprachen übersetzt, doch der Ruhm blieb ihm weitgehend verwehrt. Als Jugendlicher heuerte er auf einem Schiff an, kam jedoch nicht über die Adria hinaus. Wie Karl May hat er die Länder, über die er schrieb, nie gesehen und Italien nie verlassen. Stattdessen wurde er Lokaljournalist, Berichterstatter für Selbstmorde und Unfälle, schrieb aber auch Theaterkritiken. Die Abenteuerlust stillte er in seinen Novellen und Romanen, mit denen er trotz seiner Laster – er trank bis zum Exzess – sich und seine kinderreiche Familie ernähren konnte. Zwar wurde er vom König mit einem Orden ausgezeichnet, doch damit konnte er seine Rechnungen nicht bezahlen. Also unterzeichnete er einen Vertrag, der ihm jährlich mehrere Romane und monatlich eine Novelle bei mässiger Bezahlung abverlangte und alle Rechte nahm. Dass dieser Knebelvertrag in ein Burn-out und eine Depression mündete, erstaunt nicht; im Jahr 1906 war das wie der Anfang der modernen Buchindustrie, die ihre Kreativen wie eine Zitrone ausquetscht. Paolo Bacilieri erzählt von einem privat sicher schwierigen Menschen, der seine Familie vernachlässigte und sich stattdessen voller Energie in seine Arbeit stürzte, bis nichts mehr an Kreativität übrig war. Davon hat Paolo Bacilieri hingegen reichlich: Er liefert mit dieser Biografie zugleich ein Sittengemälde des Italiens der Jahrhundertwende, zeigt sozial prekäre Verhältnisse auf und koppelt dies an Salgaris Texte. Die Bilder aus den Strassen Genuas und Turins sind ebenso informativ wie wunderschön.
Christian Meyer-Pröpstl

Paolo Bacilieri: «Sweet Salgari».
Avant Verlag, 176 S.,
Hardcover, s/w,
€ 25 / CHF 37.90

Daniel Blancou: «Un Auteur de BD en trop»

Im Haifischbecken des Comic-Marktes

Un auteur de BD en trop ist kein wirklich netter Titel für ein Album, heisst das auf Deutsch doch «Ein Comic-Autor zu viel». Wie das zu verstehen ist, verrät uns der Franzose Daniel Blancou gleich auf der ersten Seite: Wie kann ein mittelmässiger Comic-Zeichner auf einmal ein komplett neuartiges Comic-Album vorlegen, das alle Genres über den Haufen wirft?
Blancous Album ist zum einen ein Comic über die Alltagsnöte eines Zeichners, zum anderen ein theoretisches Werk, das verschiedene Spielarten des Comics auslotet und die ökonomische Frage aufgreift, wie sich ein Comic-Zeichner in einem gesättigten Markt behaupten kann. Sehr schön sieht man das an der Seitenaufmachung: Sie wandelt sich im Laufe des Bandes und spielt mit den Comic-Formaten von Strip bis Graphic Novel. Beim Lesen lernt man so ganz verschiedene Comic-Stile kennen.
Zwar gibt es Abschnitte, die in der Form mehr überzeugen als im Inhalt, aber man spürt die intensive Auseinandersetzung des Autors mit dem Medium Comic und seiner Entwicklung. Der Band hat etwas Nostalgisches, die Farben (gelb, rot, blau) sind oft gerastert und so matt gedruckt, dass sie den Anschein erwecken, als sei das Album in der Sonne verblichen. Tatsächlich erzielt Blancous Album nicht ganz dieselbe Leichtigkeit wie die Werke von Art Spiegelman, Scott McCloud, Boucq oder Marc-Antoine Mathieu, die in den 1980er- und 1990er-Jahren comictheoretische Reflexionen spielerisch in ihre Erzählungen einbauten. Bei Blancou spürt man förmlich, wie hoch die Latte liegt, um diese Erneuerer des Comics zu übertreffen. Die Überzeugung, etwas total Neues zu schaffen, weicht hier der marktbedingten Ungewissheit, ob das, was ein Comic-Zeichner mit Leib und Seele tut, wirklich beachtet wird – besonders deutlich wird das auf dem Cover, auf dem die Masse der Comic-Fans am unbekannten Zeichner Daniel vorbeiströmt.
Inhaltlich am stärksten sind die Passagen, in denen Blancou die Hollywoodisierung eines Marktes reflektiert, in dem Comic-Zeichner*innen zu Stars aufsteigen können. Weniger originell ist der Teil, in dem Daniel ein Manuskript eines Jungen erhält, dem just jener Wurf gelingt, den er selbst vergeblich anstrebt. Das bringt Daniel natürlich in Versuchung …
Alles in allem ist Un auteur de BD en trop ein Comic, den man mit Gewinn zu Ende liest, weil er einem einen Einblick gibt, wie das Genre und sein Umfeld funktionieren.
Florian Meyer

Daniel Blancou: «Un Auteur de BD en trop».
Éditions Sarbacane, 86 S.,
Hardcover, farbig,
€ 22.50 / CHF 38.50

Nathan Hale: «Nathan Hale’s Hazardous Tales» (Serie)

Nathan Hale über Nathan Hale

Eine Warnung zu Beginn: Es könnte etwas kompliziert werden!
Nathan Hale, ein amerikanischer Kolonist, wurde 1776 während des später als Revolutionskrieg bekannten Konflikts wegen Spionage hingerichtet. Nathan Hale, Karikaturist und kein Verwandter seines Namensvetters, wurde 1976 in Amerika geboren, er ist der Schöpfer von Graphic Novels über folgenreiche Momente der amerikanischen Geschichte, die von dem anderen Nathan Hale (dem Patrioten, nicht dem Karikaturisten) in einem Scheherazade-ähnlichen Versuch, die Schlinge des Henkers aufzuhalten, erzählt werden, aber auch von seinem Henker und dem mit der Überwachung der Hinrichtung beauftragten britischen Armeeoffizier.
Das mag wie die Handlung eines postmodernen Romans klingen, aber alles, was Sie wissen müssen, ist, dass die Graphic Novels von Nathan Hales (dem Karikaturisten), mit dem Titel Nathan Hale’s Hazardous Tales wunderbar süchtig machend sind. Bis jetzt sind davon neun Bücher erschienen, ein zehntes sollte später in diesem Jahr erscheinen. Einige Comic-Fans haben die Serie vielleicht noch nicht entdeckt (was eine wahre Tragödie wäre), weil sie sich in erster Linie an den Markt für junge Erwachsene richtet.
Ich bin, ich gestehe es, ein Fan von Geschichts-Comics. Ich halte Larry Gonick für ein verkanntes Genie, und vermutlich bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der Robert Crumbs Adaptionen von James Boswells Life of Johnson leidenschaftlich liebt. Hales Bücher schrecken vor gross angelegten Panoramen zurück und konzentrieren sich eher auf faszinierende Ausschnitte der (meist amerikanischen) Geschichte. Meine bisherigen Favoriten sind die aufregende Biografie der Abolitionistin Harriet Tubman, der Mutter der sogenannten Underground Railroad, einer legendären Fluchthilfe-Organisation für schwarze Sklav*innen, und The Raid of No Return, ein knallharter Bericht darüber, wie die US-Marine nach Pearl Harbor entdeckte, wie man Bomber von Flugzeugträgern aus starten lassen kann, um Japan anzugreifen (leider nicht, wie sie diese Bomber und ihre Besatzungen nach Hause zurückbringen konnten).
Ich habe Nathan Hale durch meine zehnjährigen Zwillinge entdeckt, die alle seine Bücher mehrfach verschlungen haben. Ihr 55-jähriger Vater tut jetzt dasselbe. Hale, der Karikaturist, ist bemerkenswert talentiert. Er ist ein ausgezeichneter Historiker, der genau weiss, auf welche Details er sich konzentrieren muss (jedes Buch hat eine detaillierte Bibliografie im hinteren Teil), und er ist ein noch besserer Karikaturist, der in einem persönlichen, klaren Stil arbeitet, der die visuelle Direktheit von Jason Lutes mit der Energie und Impulsivität von Hunt Emerson verbindet. Die vollständig auf dem iPad komponierten Seiten führen Leser*innen mühelos von der Katastrophe zur Komödie, von grossen Ereignissen zu subtilen psychologischen Erkenntnissen.
Ich bin jetzt fast fertig mit der Serie und freue mich auf Band 10 (über den Kauf von Louisiana) und werde sicher viele davon noch einmal lesen. Diese Pandemie war für uns alle eine harte Reise, und ich habe mich bei gesundem Verstand gehalten, indem ich wenig Nachrichten, keine sozialen Medien und viel Geschichte gelesen habe.
Mark Nevins

Nathan Hale: «Nathan Hale’s Hazardous Tales» (Serie).
Amulett, je 128 S.,
Hardcover, s/w,
$ 14, ca. CHF 15

Lukas Kummer: «Prinz Gigahertz»

Radioaktive Märchenwelt

«Es war einmal, vor langer Zeit, in einer anderen Welt…» So beginnt Lukas Kummers Sci-Fi-/Fantasy-Abenteuer Prinz Gigahertz. Wir treffen den titelgebenden Protagonisten in einer Wüste auf der Flucht vor einem Roboterdämon. Der Prinz, der eigentlich Billy heisst, ist nach einer furchtbaren Schlacht aus einem dreissigjährigen Schlaf erwacht. Wir befinden uns in einer mittelalterlichen dystopischen Welt, in der elektronische Geräte aus einem Paralleluniversum vom Himmel fallen und als Zauberei abgetan werden. Durch Flashbacks erfahren wir von dem einst mächtigen Königreich, das durch einen atomaren Angriff des Roboterdämons dem Erdboden gleich gemacht worden ist. Wieso nur ist dieser Dämon hinter Billy her? Woher kommen die Elektrogeräte, die sich immer wieder aus dem Nichts manifestieren? Die Antworten erfährt die Leserschaft am Ende, beim grossen Showdown.
Schon im einleitenden Satz wird klar, dass sich Kummers Comic-Erzählung an bekannte Science-Fiction-Epen anlehnt. Nebst Anspielungen an Star Wars oder Zurück in die Zukunft erinnert die neonfarbene Ästhetik an den Virtual-Reality-Klassiker Tron. Nicht nur Filme dienen dem Abenteuer als Vorlage, auch sonst alles, was an die zurzeit so beliebte 80er-Nostalgie erinnert. Prinz Gigahertz ist eine 80er-Collage ganz nach der TV-Serie Stranger Things, samt Dungeons-&-Dragons-­Kulisse und einer Prise von Lewis Trondheims Donjon. Das ist nicht abwertend gemeint, Kummer erschafft nämlich trotz allem eine eigene Stimmung und Ästhetik und erfindet wie die klassischen epischen Dichter aus dem «geklauten» Material eine neue (vielleicht sogar bessere) Geschichte. Lukas Kummer hat sich schon mit den düsteren Tagebuchadaptionen Der Keller und Die Ursache von Thomas Bernhard einen Namen gemacht. Nun beweist er mit dem buntgrellen Action-­Abenteuer, dass er auch ganz andere Genres im Griff hat.
Giovanni Peduto

Lukas Kummer: «Prinz Gigahertz».
Zwerchfell Verlag, 112 S.,
Hardcover, farbig,
€ 18 / CHF 23.90

Zep: «The End»

Die Macht der Bäume

Merkwürdige Dinge geschehen, besonders in den Wäldern. Giftige Pilze tauchen auf, Tiere verlieren ihre Scheu und Menschen fallen plötzlich tot um. Im schwedischen Naturreservat Doksla ist eine Forschungsgruppe nahe dran, diese Vorkommnisse zu entschleiern. Doch just als sie entdecken, wozu die Bäume fähig sind, ist es zu spät. Die Menschheit wird auf einen Schlag auf ein paar tausend Individuen dezimiert.
Hauptfigur des Ökothrillers The End, den der Schweizer Comic-Zeichner Philippe Chapuis unter seinem Pseudonym Zep veröffentlicht hat, ist der Umweltaktivist Theo Fiato. Als Praktikant tritt er der Forschungsgruppe Richard Frawleys bei, eines Experten für prähistorische Pflanzen, der erforscht, wie Bäume untereinander, aber auch mit Menschen kommunizieren. Seine Theorie: Das Gedächtnis der Erde ist im Erbgut der Bäume eingeschrieben, und die Bäume haben die Macht, Arten auszulöschen, die das Gleichgewicht der Erde stören. Bei den Dinosauriern haben sie das schon einmal getan – und The End gipfelt darin, dass sie es beim Menschen wieder tun.
Wissenschaftlich ist dieses Szenario etwas weit hergeholt. Pate stand hier der Förster Peter Wohlleben mit seinem Buch über das geheime Leben der Bäume. Doch geht aus der Tatsache, dass Bäume miteinander kommunizieren, noch nicht hervor, dass sie bewusst und zielgerichtet handeln wie Menschen. Für The End spielt das keine Rolle, denn die Fiktion funktioniert und Zep rollt seine Geschichte so geschickt auf, dass man unwillkürlich über das Verhältnis des Menschen zur Umwelt nachdenkt.
The End ist ein gutes Beispiel für ein modernes, sparsames Erzählen. Zep braucht kein Wort zu viel und keines zu wenig. Wenige Panels reichen, um die Beziehungen zwischen den Protagonisten zu skizzieren und die Theorien des Professors vorzustellen. Wenngleich einzelne Abschnitte dadurch sehr knapp ausfallen, so packt einen die Geschichte doch von Anfang bis Ende.
Eindrücklich zeigt Zep, wie die Katastrophe über die Menschen hereinbricht: Eine schwarze Doppelseite markiert den radikalen Schnitt zwischen dem Vorher und der neuen Normalität, in der sich die wenigen Überlebenden neu sammeln müssen. Theos Schlusssatz freilich, dass die Menschen nicht die Herrscher*innen über die Erde seien, sondern nur ihre Gäste, ist als Geste der Verhaltensänderung in einer funktionierenden Wohlstandgesellschaft versöhnlicher denn als Vision für die Zukunft.
Florian Meyer

Zep: «The End».
Schreiber & Leser, 96 S.,
Hardcover, farbig,
€ 19.80 / CHF 32.50

Lukas Jüliger: «Unfollow»

Naturjünger und Soziale Medien

Lukas Jüliger ist einer der spannendsten Newcomer in der deutschsprachigen Comic-­Szene. Mit seinem Debüt Vakuum hatte er vor einigen Jahren eine Art magischen Realismus entfaltet, eine klassische Coming-of-Age-Liebesgeschichte in der Provinz mit verstörenden «Teenage Angst»-Bildern einer verlorenen Jugend kombiniert. Die Gratwanderung zwischen Liebe und Entsetzen hat er weiter in seiner Poe-Adaption Berenice fortgesetzt. Dort versammelte er Sehnsucht, Stalking und Internet-Sex zu einem erschreckend kühlen Abgesang auf die Zwischenmenschlichkeit. In seinem neuen Werk Unfollow verbindet er Internetphänomene mit archaischen Naturmythen, wandelt abermals zwischen Realismus und Fantastik und erzählt von wunderschönen, aber auch grauenhaften Dingen mit entwaffnender Gleichmütigkeit! Tief verbunden mit der Natur (wenn nicht sogar die Natur selbst), wird Earthboi, der nicht in unsere Gesellschaft zu passen scheint, zunächst ins Heim gesteckt, aus dem er wenig später in die Wildnis flieht. Dort entfacht Earthboi eine weltweite Bewegung, die er als nachhaltiger und spiritueller Waldbewohner per Social Media mit seinen Anhängern wachsen lässt wie eine gut umsorgte Pflanze. Dann lernt er Yu kennen, mit der er sich wunderbar ergänzt. Die virtuelle Community soll nun in eine reale Gemeinschaft an einem echten Ort überführt werden. Dass das Ganze auf eine Katastrophe zusteuert, liegt von Anfang an latent in den Bildern, die sich komplett ohne Sprechblasen undramatisch dem Höhepunkt nähern, als die Schattenseiten von Idealismus und blinder Gefolgschaft klar werden …
Christian Meyer-Pröpstl

Lukas Jüliger: «Unfollow».
Reprodukt, 160 S.,
Softcover, farbig,
€ 18 / CHF 27.90

Guillaume Perreault: «Der Weltraum­postbote»

Fliegende Trümmer, gigantische Tomaten

Bob ist Briefträger. Allerdings ist er nicht etwa mit dem Fahrrad unterwegs, sondern fliegt in einem Raumschiff von Planet zu Planet, um Briefe und Pakete auszuliefern. Tag für Tag absolviert der freundliche Mann mit der hohen Stirn und dem Stoppelbart die gleiche Strecke, er liebt diese alltägliche Routine. Das beginnt schon beim Morgenkaffee aus einer Maschine, die aussieht wie eine Apparatur aus dem Chemielabor, und dem hieroglyphischen Smalltalk mit dem Reinigungsroboter im Postamt.
Doch als Bob eines Morgens seinen Dienst im durchs All schwebenden Planeten-Postamt antritt, verkündet der Chef, ein grüner einäugiger Krake mit Schnäuzer, Bob werde künftig jeden Tag eine neue Route bekommen. Das bereitet Bob leichtes Bauchgrimmen, aber es hilft ja nichts, denn «die Post ist heilig!». Bob belädt, reinigt und tankt sein kugelrundes Schiff wie gewohnt, beisst die Zähne zusammen und fliegt in das ihm aufgezwungene Abenteuer.
Der Kanadier Guillaume Perreault schickt den liebenswert verschrobenen Bob in Der Weltraumpostbote an selbst für kosmische Verhältnisse aussergewöhnliche Orte: Auf einem nicht sehr aufgeräumten Planeten freut sich eine alte grüne Dame über die Lieferung einer weiteren Teekanne für ihre stolze Sammlung, auf einem anderen züchtet ein freundlicher Riese im strömenden Regen gigantische Tomaten, die sich alledings als matschig herausstellen, auf wieder einem anderen lebt ein mürrischer blond gelockter junger Mann, ein gewisser Herr Kleine, in dessen Garten ein kleiner Vulkan qualmt. Herr Kleine quittiert den Empfang des Einschreibebriefs nur, wenn Bob ihm ein Schaf zeichnet…
Dank solcher Details dürfte nicht nur der Lesenachwuchs Spass an diesem sehr charmanten Kindercomic haben. Die Zeichnungen in klarer Linie und lichten Farben bieten jede Menge schöner, kleiner Entdeckungen in Bobs wundersam anachronistischer Weltraumwelt.
Am Ende der turbulenten Tour erkennen sowohl Bob als auch sein Publikum, dass ein Abstecher abseits gewohnter Pfade sehr bereichernd und unterhaltend sein kann.
Barbara Buchholz

Guillaume Perreault: «Der Weltraum­postbote».
aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock,
Rotopol, 144 S.,
Hardcover, farbig,
€ 18 / CHF 27.90

 

Kurz und Gut

von Christian Meyer-Pröpstl

Anne Goscinny kannte ihren berühmten Vater René Goscinny nicht allzu gut, starb er doch mit 51 Jahren überraschend an einem Herzinfarkt, als Anne, die heute Romane schreibt, neun Jahre alt war. Die 17 Jahre jüngere Ehefrau des Asterix- und Lucky-Luke-Erfinders starb ebenfalls mit 51 Jahren, da war Anne 26 Jahre alt. Doch die Tragik von Annes Leben ist nicht Thema in Die Geschichte der Goscinnys – Geburt eines Galliers von Catel Muller, die mit ihrer Comic-Biografie über die Künstler-­Muse Kiki de Montparnasse 2017 bekannt wurde. Neben der üblichen Recherche erzählt Muller hier mithilfe von Annes Erinnerungen als Rahmenhandlung die Geschichte des wohl berühmtesten französischen Comic-­Szenaristen von seiner Kindheit in Argentinien, den ersten Versuchen als Zeichner im New York der 50er-Jahre bis zu seinen gewaltigen Erfolgen im Frankreich der 60er- und 70er-­Jahre. Eine berührende Familiengeschichte und zugleich ein Einblick in die Geschichte der Comics des 20. Jahrhunderts – angereichert mit Briefen, Dokumenten und Faksimile-­Comic-Seiten.

Catel Muller: «Die Geschichte der Goscinnys – Geburt Eines Galliers».
Carlsen, 336 S., Hardcover, s/w,
€ 28 / CHF 40.90

Ein kurzes extremes Leben lebte der Künstler Jean-Michel Basquiat. Julian Voloj und Soren Mosdal lassen es wie einen letzten tödlichen Trip im Jahr 1988 Revue passieren: Mit 15 reisst Basquiat von zuhause aus und landet pünktlich zur Entstehung von Punk, New Wave und Hip Hop in der Lower East Side. Dort wird er Anfang der 80er-Jahre, zur selben Zeit wie Keith Haring, als Graffiti-Artist entdeckt und später von Warhol protegiert – den Ruhm verkraftet er jedoch nicht. Der Comic hakt seine Stationen mitunter etwas schnell ab, fängt aber sowohl den Exzess seines Lebens als auch die Expressivität seiner Kunst in passendem Zeichenstil ein.

Julian Voloj, Soren Mosdal: «Basquiat».
Carlsen, 136 S., Hardcover, farbig,
€ 20 / CHF 30.90

Uli Oesterles grosser Wurf um die fantastischen Abenteuer eines DJs in München liegt schon etwas zurück, nun meldet er sich wieder mit einer stark autobiografisch gefärbten Geschichte über einen verantwortungslosen Vater und dessen Sohn, der Jahre später dieselben Fehler zu machen scheint: Rufus Himmelstoss ist ein schleimiger Münchner Markisen-Vertreter der 70er-Jahre, der mit seinem Sportwagen die Kundinnen verführt und vor lauter Fremdgehen und Drogenkonsum seine Familie vergisst und schliesslich verliert. Einige Jahrzehnte später ist dessen Sohn Victor, Comic-Zeichner und Oesterles Alter Ego, in einer ähnlichen Situation. Dass der Apfel mitunter nicht weit vom Stamm fällt, zeigt Oesterle in seiner stilvollen, auf zwei Zeitebenen erzählten Geschichte. Er spürt dabei dem Egoismus des Vaters, aber vor allem auch den Ausreden des Sohnes nach, der glaubt, sein Weg sei durch die Erblast vorbestimmt.

Uli Oesterle: «Vatermilch: Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoss (Vatermilch 1)».
Carlsen, 128 S., Hardcover, farbig,
€ 20 / CHF 31.90

Manu Larcenet beeindruckte zuletzt mit seinen so grossartigen wie düsteren Comics Blast und Brodecks Bericht. Dass er auch lustig kann, hat er nicht zuletzt mit seiner Reihe Die Rückkehr aufs Land bewiesen. Nach langer Pause erscheint nun der dritte Band der Abenteuer seiner Kleinfamilie nach dem Rückzug in das ländliche Leben. Larcenet zeichnet den Funny, Jean-Yves Ferri erzählt die kurzen Anekdoten, obwohl es ja Larcenets Erlebnisse sind. Wobei nicht klar ist, wie viel davon den wirklichen Skurrilitäten des Landlebens entliehen ist und wie viel die Künstler hinzuimaginiert haben. Das illustre Figurenarsenal ist jedenfalls gewachsen, ebenso wie Larcenets Tochter. Die Kluft zwischen urbanen Künstlern und der Landbevölkerung ist hingegen nach wie vor präsent – zur Freude der Leser*innen.

Manu Larcenet, Jean-Yves Ferri: «Die Rückkehr aufs Land 3».
Reprodukt, 192 S., Hardcover, farbig,
€ 24 / CHF 37.90

 

Biografien

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Brigitte Archambault
*1973, lebt in Montreal. Sie versuchte sich eine Zeit lang als bildende Künstlerin und konnte ihre Werke in einigen Galerien in Québec ausstellen. Danach begann sie mit Animationsfilmprojekten, drehte auch eigene Kurzfilme. Jetzt endlich hat sie Zeit gefunden, sich einen langgehegten Traum zu erfüllen, Le Projet Shiatsung, ihren ersten eigenen Comic.

Jimmy Beaulieu
In Montreal lebender Karikaturist und Zeichner. Zehn Jahre elektronische Musik, zehn Jahre in einer Buchhandlung, zwanzig Jahre im Verlagswesen, achtzehn Jahre Ausbildung.

Sophie Bédard
*1991 in La Prairie. Nach ihrem Abschluss in Grafikdesign zog sie nach Montreal und begann, Glorieux Printemps zu schreiben, eine vierbändige Teenager-Reihe, erschienen bei Éditions Pow Pow. Danach erwarb sie ihren Bachelor in Sexologie und veröffentlichte, ebenfalls bei Pow Pow, Les petits garçons.

Iris Boudreau
machte einen Abschluss in Comics an der Université du Québec en Outaouais. Seit ihrer Ankunft in Montreal im Jahr 2007 arbeitet sie hauptsächlich in den Bereichen Comics, Illustration und Drehbuchschreiben. Ihre Themen sind oft dieselben: Alltagsleben, Stadtleben, soziale Probleme, Freundschaft, Liebe … Zurzeit arbeitet sie an einem vierbändigen Western-Comic mit dem Titel Folk, dessen zweite Folge im Herbst 2020 bei Éditions de la pastèque erscheinen wird. Seit 2015 veröffentlicht sie die monatliche Serie Les autres in der Jugendzeitschrift Curium.

Xavier Cadieux
ist ein Comic-Autor aus Montreal. Sein jüngstes Werk in Zusammenarbeit mit Alexandre Fontaine Rousseau, La pitoune et la poutine, ist ein populärer Erfolg, aber seine ersten Bücher, Les 500 premiers Cadieux und Mon gros lit chaud, werden die Welt retten, ist er überzeugt.

Cathon
ist Autorin, Illustratorin und Karikaturistin. Sie hat einen Abschluss in Bildender und Medienkunst der Université du Québec à Montréal. Seit 2013 veröffentlicht sie ausgefallene humoristische Comics, die bei Pow Pow bzw. La Pastèque erschienen sind, aber auch Kinderkrimi-Comics und Alben bei Comme des Géants und Owlkids. Sie lebt und arbeitet in Montreal.

Julie Delporte
ist Autorin mehrerer Graphic Novels für Erwachsene: Journal (2014), Je vois des antennes partout (2015), Moi aussi je voulais l’emporter (2017) und eines Kinderbuchs, Je suis un racoon laveur (2013). Ihre Bücher werden international gelesen und von Drawn & Quarterly und Koyama Press ins Englische übersetzt. Sie veröffentlicht auch literarische Essays und Gedichte, beschäftigt sich mit Drucktechniken (Siebdruck, Risographie, Radierung) und fertigt Keramikarbeiten an.

Ariane Dénommé
lebt in Montreal, wo sie seit 2008 ganz langsam Comics zeichnet; entstanden sind bisher zwei, Du chez-soi und Main d’œuvre – jetzt arbeitet sie an einem dritten Album, das sie noch vor der Apokalypse abschliessen möchte.

Julie Doucet
*1965 in Montreal. Nachdem sie einen Abschluss in Druckgrafik an der Université du Québec à Montréal erworben hatte, konzentrierte sie sich auf ihre bekannten autobiografischen Comics, die in mehrere Sprachen, darunter Japanisch, übersetzt wurden. Trotz ihres Erfolgs gab Doucet 1999 das Medium Comic vorübergehend auf und kehrte zur Druckgrafik zurück. Sie wurde Mitglied des Ateliers Graff und hat seither einige Kunstbücher produziert, während sie weiterhin mit Worten und Bildern arbeitete, z.B. 2009 in einem Animationsfilm. Eine retrospektive Ausstellung ihrer Comics, Kunstwerke, Zeichnungen, collagierten Poesie, Animationsfilme und Kunstbücher war 2017 am Fumetto in Luzern zu sehen. Auf Deutsch publizierte Reprodukt 2020 einen Sammelband mit ihren Comics. Ihre Arbeiten waren auch schon im Strapazin zu sehen.

Meags Fitzgerald
ist eine in Montreal ansässiger Künstlerin, Illustratorin und Performerin, deren Werke oft historische oder Gender-Themen beinhalten. Sie ist die Autorin der schwulen Coming-­of-Age-Memoiren Long Red Hair und des Geschichts- und Reiseberichts Photobooth: A Biography, für den sie zahlreiche Auszeichnungen erhielt. Sie ist auch die Illustratorin des Bildungsromans Suffrage: Kanadische Frauen und das Wahlrecht. Fitzgerald arbeitet derzeit an einem Buch über die Geschichte der alleinstehenden Frauen.

Alexandre Fontaine Rousseau
wurde durch Zufall Comic-Autor. Er schrieb schon die Bücher Pinkerton, Poulet grain-grain und Les premiers aviateurs. Mit Xavier Cadieux hat er kürzlich La pitoune et la poutine verfasst. Sein Buch Vampircousinen ist bei Schwarzer Turm auf Deutsch erschienen. Er lebt in Montreal.

Philippe Girard
aus Québec City, ist seit 1997 in der ComicWelt aktiv. Er veröffentlichte zunächst in Studentenzeitungen, bevor er mit seinen Freunden Leif Tande und Djief Bergeron das Fanzine Tabasko! gründete. 2008 zeichnete er Tuer Vélasquez, ein Buch über seine Erlebnisse mit einem pädophilen Priester. Insgesamt hat er etwa zwanzig Comic-Bücher auf Französisch, Englisch und Russisch sowie sechs Kinder- und einen Erwachsenenroman veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden in Kanada, Serbien und Japan mit Preisen ausgezeichnet. Im vergangenen Herbst veröffentlichte er beim jungen Verlag Nouvelle adresse das Album Un jour de plus.
Philippegirard.blogspot.com

Michel Hellman
ist ein Illustrator und Karikaturist, der in Montreal lebt. Er ist der Autor von Mile End, das bei Pow Pow veröffentlicht wurde. Sein Interesse an zeitgenössischer Kunst, der Geschichte der Kulturen der kanadischen Aborigines und Fragen des Nordens hat ihn dazu veranlasst, zwei Graphic Novels zu veröffentlichen, die diese Themen mittels Collagen und des Scherenschnittes untersuchen: ᐱᖃᓗᔭᖅ – Iceberg (2011) handelt von einem Atomunfall in Grönland und Le Petit Guide du Plan Nord (2013), der die zwiespältige Beziehung gewisser Kanadier*innen zu Nord-Québec illustriert. Sein Comic mit dem Titel Nunavik (Pow Pow) erzählt die Geschichte seines Aufenthalts in dieser Gegend. Derzeit arbeitet er an einem Comic über die Geschichte des Kanus.
www.michelhellman.com

Robert Marcel Lepage
seit mehr als 30 Jahren in der Musikszene Québecs aktiv, hat er dreizehn CDs, mehrere hundert Filmsoundtracks, das «pädagogische» Handbuch Der illustrierte Robert der Klarinette und drei Bücher mit illustrierten philosophischen Reflexionen veröffentlicht: Le Piano de Neige (Mécanique générale), Le Nerf initiatique (La mauvaise Tête) und Je est un Hôte (La Mauvaise Tête).

Martin Morin
ist Mitherausgeber des Québecer Comic-Magazins Planches und ausserdem Mitglied des Organisationskomitees des Montreal Comics Festivals. Absolut unfähig zu zeichnen, selbst nachdem er seine Seele an jemanden verkauft hat, der sie haben wollte, verlässt er sich auf das grosse Talent und die Arbeit seiner Freunde, um seine Geschichten zum Leben zu erwecken.

Obom alias Diane Obomsawin
Karikaturistin und Animationsfilmemacherin, lebt in Montreal. Sie veröffentlicht ihre Comics bei L’Oie de Cravan und auf Englisch bei Drawn & Quarterly. Sie hat mehrere Filme und sieben Autorenfilme in Zusammenarbeit mit dem National Film Board of Canada gedreht. Im Laufe der Jahre hat sie ihre eigene Art des Geschichtenerzählens gefunden, die von Naivität und Zurückhaltung, Humor und Menschlichkeit geprägt ist und häufig autobiografische Details einbezieht. Dies verleiht ihnen eine Qualität von urbanen Fabeln, poetisch und doch in der Realität verankert. Seit 2012 macht sie auch Installationen, was ihr erlaubt, ihre Mythen und traumartigen Visionen in Zeit und Raum zu verankern. (Nicole Gingras, Kuratorin)
Gerade ist ihr preisgekrönter Comic Ich begehre Frauen auf Deutsch bei der Edition Moderne erschienen.

Christian Quesnel
ist der Autor mehrerer Comic-Alben. Im Jahr 2008 gewann er als erster Karikaturist den Prix à la création artistique des Conseil des arts et des lettres du Québec. 2009 ist er als Artist in Residence in London. Er hat zwischen 2008 und 2019 mehrere Preise gewonnen sowie einen weiteren Aufenthalt im Oberpfälzer Künstlerhaus in Bayern im Jahr 2018. Sein Buch L’alouette en liberté (Editions de l’Homme) bekam die Auszeichnung des CALQ 2019 als Werk des Jahres. Seine Werke sind hauptsächlich von der Geschichte inspiriert und tendieren zu narrativen und zeitlichen Erkundungen bezüglich Comics. Er hat einen Master-Abschluss in zeitgenössischer Kunst (Comics) von der Université du Québec en Outaouais, wo er derzeit promoviert.

Julie Rocheleau
ist eine Karikaturistin aus Montreal. Früher freiberuflich für Zeichentrickstudios tätig, orientierte sie sich Anfang 2010 neu in Richtung Comics und arbeitet mit Schriftsteller*innen zusammen. Unter anderem war sie Mitautorin der Trilogie La colère de Fantômas (Dargaud, 2013–2015), La Petite Patrie (La Pastèque, 2015), Betty Boob (Casterman, 2017) und Traverser l’autoroute (La Pastèque, 2020), Werke, die zahlreiche Auszeichnungen in Europa und Kanada sowie mehrere Nominierungen für den Eisner Award erhielten. Sie illustriert auch Romane und macht Fanzines. Sie lebt und arbeitet im Stadtviertel Rosemont – La Petite-­Patrie in Montreal.
www.jrocheleau.com

Richard Suicide (Richard Beaulieu)
geboren 1961, ist Comic-Autor, Illustrator und Maler. Er ist den Liebhabern von Underground-­Comics bekannt aufgrund der Veröffentlichung mehrerer Fanzines und Mini-Comix seit den 90er-Jahren sowie einer Vielzahl von Veröffentlichungen in Zeitschriften und Kompilationen. Er ist manchmal als William Parano und in letzter Zeit als Richard Écrapou (für Kinderpublikationen) bekannt und war Teil der Montreal Comix Scene, einer wichtigen Comic-Bewegung im Québec der 1990er- Jahre.

Leif Tande
war noch ein Embryo, als er das norwegische Skjernøya verliess, um in nach Québec auszuwandern. Französisch lernte er, indem er Comic-Bücher schrieb. An der Variablen Quantenphilosophischen Universität legte er seine Dissertation in Form eines Comics vor, ebenso seine Bücher Der Ursprung des Lebens (Ph.D. in genetisch-genomischer Biologie) und Die Erlösung (Master in pataphysisch-­theologischer Danteskerie). Er lebt in Québec City und setzt seine Studien fort.

Henriette Valium
*1959 als Patrick Henley in Montreal. Der multidisziplinäre Künstler ist der erste grosse alternative Comic-Autor Québecs. Sein provokativer halluzinogener Stil hat ihn sowohl von den offiziellen Strukturen der Kunst als auch von der konventionellen Comic-Industrie ferngehalten.
www.henriettevalium.com

Stanley Wani
ist ein multidisziplinärer Künstler, dessen Schwerpunkt das Schreiben und Zeichnen von Graphic Novels ist, nebst dem Experimentieren mit Malerei, Feder und Tinte sowie digitaler Collage. Seine erste Graphic Novel, Agalma, gewann mehrere wichtige Auszeichnungen. Seine Werke wurden an internationalen Ausstellungen gezeigt, z.B. an einer Gruppenausstellung über Journalismus in Graphic Novels. Stanley wohnt jetzt mit seiner Partnerin und zwei Jungen in Chelsea, Québec. Er ist auch unabhängiger Comic-­Verleger, gründete Trip Comix und kürzlich Argle Bargle Books.