von
BARRACK RIMA
Cover / Die Höllenfahrt
LUIGI OLIVADOTI
Tollino
JULIA KLUGE
Neue Horizonte
BIRK GLAUSER
Drogenschmuggel nach Bern
ESTELLE GATTLEN
Die Kämpferinnen
Heft oder Abo bestellen:
Order magazine or subscription:
Deutschland and other countries…
Martina Clavadetscher – was will uns die Autorin eigentlich sagen?
Martina Clavadetscher will in ihrem neuen Roman Die Erfindung des Ungehorsams ziemlich viel. Soweit ich das überblicken kann, geht es um Maschinen, mechanische Frauen (Romantik pur!), eventuell auch um künstliche Intelligenz. Eine Rolle im Roman spielt Ada Lovelace, Lady und grosse Mathematikerin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Tochter von Lord Byron (Romantik!), der mit Mary Shelley, die ihrerseits berühmt wurde als Autorin des Romans Frankenstein or The Modern Prometheus (noch mehr Romantik!). Romantik meint hier selbstverständlich die Kulturepoche, nicht dieses haltlose Gefühl. Durch eine Halbschwester von Mary ist diese auch verwandt mit Ada. Ach ja, und die Mutter von Mary Shelley war die Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und ihr Vater der Anarchist William Godwin. Eine hübsche Auslegeordnung, und im Roman von Clavadetscher kommen zwei Figuren mit dem Namen Godwin und Wollstone vor. Grösstenteils aber spielt sich alles in einem anscheinend asiatischen Betrieb zur Herstellung von künstlichen Frauen ab, mit einer Halbschwester Ling als Hauptfigur. Hab ich irgendetwas übersehen?
Die Frauen sind allesamt verbunden, eben Halbschwestern, aber offensichtlich künstlich, Frankenstein or the modern Promethea. Und ständig wird vom Ungeheuerlichen und der Befreiung geredet. Das missfällt mir ein bisschen, denn die Befreiung sollte nichts Ungeheuerliches, sondern etwas Normales sein.
Jedenfalls wird Hollywood das nicht verfilmen, das ist schon mal klar. Weil der Roman einerseits schon aus mehreren Versatzstücken von Filmen
(I, Robot usw.) zusammengesetzt ist, aber vor allem, da eine Geschichte nur in Spurenelementen vorhanden ist. Weil die Autorin mit der Sprache umzugehen weiss, liest man den Roman doch gerne. Es gibt überraschende und, ja doch, verstörend schöne Bilder. Aber irgendwann wird es zu viel. Man fragt sich: Was will uns die Autorin eigentlich sagen und erzählen?
„Drei Frauen in drei Welten: Sie alle sind auf der Suche nach einer Antwort – auch dem Kern der Dinge.“ So steht es auf dem Klappentext des Buches. Darauf könnte man eventuell so replizieren: „Eine Leser*in: Sie ist auf der Suche nach einer Antwort – auch einer Geschichte und dem Kern der Dinge bzw. um was es eigentlich in diesem Roman geht.“
Flavio Steimann – der König der seltsamen Wörter
Ein bisschen viel Wortgeklingel herrscht auch im neuen Roman Krumholz von Flavio Steimann. Der ist sozusagen der König der seltsamen Wörter und der Adjektivierung. Der Titel dieses Beitrags ist übrigens ein Satz aus seinem Roman. Dessen Handlung beginnt um 1914 herum, auf dem Land: Eine Frau stirbt bei der Geburt, das Kind, eine Tochter, überlebt, ist aber stumm. Der Vater, Bauer, stürzt ins Unglück und bringt sich schliesslich um. Das Kind kommt in die „Allg. Armen- & Idioten-Anstalt St. Ottilien zum Fang“, zu Nonnen, es wird „erzogen“, das heisst gequält und geplagt. Das ist natürlich alles hochtragisch. Man mag es fast nicht lesen, auch wenn der Autor es noch so wortmächtig beschreibt. Es tut weh. Aber Agatha, so heisst die Stumme, steht alles durch. Das Unglück setzt sich jedoch fort, als sie eine junge Frau ist. Sie wird ermordet. Von einem Landstreicher oder Waldmenschen, einem gewissen Innozenz, Nomen ist nicht Omen. Von diesem Zenz handelt der zweite Teil des Romans und auch sein tragisches Schicksal wird sprachmächtig beschrieben. Und langsam taucht in einem die Frage auf, wie lange man die Lektüre noch aushalten kann. Die Vergangenheit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.
Christian Kracht, der Jammersack, schimpft sich herzerfrischend durch das Land
Ein ziemlich unausstehlicher Autor schien mir stets der „Schweizer“ Christian Kracht zu sein. Seine Aura aus Schnöseligkeit und Berechnung, seine teuren Klamotten (immer dieses Getue um Marken-Kleidung) und sein Schweizer Buchpreis 2016 für den hoffnungslos verquasten und auf Effekt geschriebenen Roman Die Toten haben mich in meiner Ablehnung immer glänzend bestätigt.
Doch nun lese ich Krachts neuen Roman mit dem Titel Eurotrash und ich muss sagen, dass ich mich dabei sehr amüsiert habe. Wahrscheinlich vor allem, weil Kracht ordentlich gegen die Schweiz und speziell Zürich vom Leder zieht.
„In Bern, aus Zürich kommend, war ich anfangs immer über die vermeintliche Grobheit in den Gesichtern der Berner erschrocken, über ihre bäuerliche Verschlagenheit und ihren urschweizerischen Abwehrinstinkt, über den leicht vorgeschobenen Unterkiefer und das Abwartende in ihren Blicken … Wobei ich sagen muss, dass mir die Berner immer tausendmal lieber gewesen waren als die Zürcher und ihre affektierte, auf rein gar nichts basierende Grossspurigkeit.“
Kracht erzählt von einer Schweizer Reise mit seiner betagten, alkohol- und tablettensüchtigen Mutter, die eigentlich nach Afrika will. Bei der alten Dame weiss man nicht, ob sie senil ist oder nur schlau. Die Reise – Geld spielt keine Rolle! – führt nach Gstaad und Genf. Kracht schimpft sich herzerfrischend durch das Land.
Selbstverständlich ist der Autor immer noch ein selbstverliebter Jammersack, aber er schreibt seinen Stiefel konzentriert herunter, ähnlich wie einst in seinem ersten Roman Faserland. Auch hier ist die Beleidigung sozusagen eine literarische Kunstform. Und es ist vielleicht ein literarischer Gegenentwurf zum Geraune von Martina Clavadetscher.
Womit wir hier das Romanthema „Familiengeschichten“ abgeschlossen und hinter uns gelassen haben. Denn über die Familie schreiben normalerweise nur Absolvent*innen der Literaturschule Biel, die in ihren noch unbelasteten Gehirnen keinen Inhalt haben, der über das familiäre Problem hinausgeht, sie besitzen wenig anderweitiges Erleben und keine dementsprechenden Geschichten. Erst ab einem gewissen Alter, sagen wir mal ab 50 Jahren, sollte man Familiengeschichten schreiben dürfen.
Julia Kohli über die Minen und Bomben der Belästigung
Ein dritter Weg zwischen Wörtergeklingel und literarischer Sippenhaftung ist vielleicht das gute alte Psychogramm. Julia Kohli, Journalistin und Verfasserin des preisgekrönten Romans Böse Delphine, arbeitet daran, mit sieben Short Stories in ihrem neuen Buch mit dem Titel Menschen wie Dirk. Besagter Dirk ist ein Heavy-Metal-Fan, der in Mexiko wegen einer entzündeten Tätowierung ein Bein verliert. Aber da ist auch Samantha, die Flugbegleiterin, die einen Fluggast entmannt. Und der Ex-Punk Kurt, der an der Kunsthochschule unterrichtet und mit seinen Methoden bei den jungen Studentinnen nicht ganz so gut ankommt, wie er selber glaubt. Na ja, lauter so Sachen halt vom Kampfgelände, wo die Minen und Bomben der Zumutung und der Belästigung bloss so herumliegen. Dass alle Menschen so reflexiv sind, wie sie Julia Kohli beschreibt, nehme ich ihr zwar nicht ab. Dass die Männer eher schwanz- statt kopflastig und mit einem verqueren Ehrgefühl ausgestattet sind, das glaube ich der Autorin jedoch aufs Wort. Wenn ich mir das jetzt so überlege, ist das doch alles recht raffiniert, psychogrammatisch, ja, es sind exemplarische Erzählungen, die einen zur Reflexion bringen.
Raphael Zehnders dicker Krimi über das Fussballmilieu
Zur Ehrenrettung des Schweizer Kriminalromans noch schnell ein unterhaltsames Werk aus der Feder von Raphael Zehnder mit dem Titel Müller und die Schützenmatte. Zehnders umtriebiger Kommissär Müller Benedikt ermittelt diesmal im Fussballmilieu. Der Trainer des SC Basel ist verschwunden, nachdem er wegen Erfolglosigkeit ziemlich böse angegangen wurde. Der SC Basel ist fiktiv, auf der Schützenmatte spielt heute der unterklassige BSC Old Boys Basel, aus dem immerhin einst Eren Derdiyok, Timm Klose und Marin Aeschbach hervorgegangen sind. Aber sonst stimmt alles in diesem Krimi.
Auch ein Toter wird im Flusskraftwerk Kembs aus dem Wasser geholt. Es ist nicht der verschwundene Trainer, aber Müller und sein Team arbeiten mit Hochdruck an der Aufklärung des Falls. Dabei verzaubert die Liebe zu einer Mitarbeiterin die Tage des Kommissärs. Der Autor erzählt diese schöne Geschichte recht knackig, oft sehr lustig und umfangreich, denn deutsche Krimiverlage wollen immer dicke Romane, da ist es mit 108 gesäuselten Prosaseiten nicht getan. Work, don’t cry!
Martina Clavadetscher: „Die Erfindung des Ungehorsams“.
Unionsverlag, Zürich 2021,
288 Seiten, 31.90 / EUR 22
Flavio Steimann: „Krumholz“.
Edition Nautilus, Hamburg 2021,
200 Seiten, CHF 31.90 / EUR 22
Christian Kracht: „Eurotrash“.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021,
224 Seiten, CHF 31.90 / EUR 22
Julia Kohli: „Menschen wie Dirk“. Lenos Verlag,
Basel 2021, 160 Seiten, CHF 28.90 / EUR 22
Raphael Zehnder: „Müller und die Schützenmatte“.
Emons Verlag, Köln 2021.
256 Seiten, CHF 19.90 / EUR 12
.
.
Der britische Comic-Zeichner und Illustrator Andi Watson erzählt in The Book Tour eine kafkaeske Geschichte um einen erfolglosen Romanautor, der in einen rätselhaften Kriminalfall hineingezogen wird. Dieser Autor, G. H. Fretwell, tritt eine Lesereise an, um seinen neuen Roman «Without K» zu bewerben – aber dabei läuft nichts wie geplant. Schon auf den ersten vier (stummen) Seiten des Comics entfaltet Watson eine rätselhafte, beklemmende Atmosphäre, die sich durch das ganze Buch zieht: Schwarz sind der Himmel und der Fluss, über den eine gemauerte Brücke führt, einsam liegen die verwinkelten Gassen der menschenleeren Kleinstadt da, die Fenster der Altbauten blind und dunkel, allein die Strassenlaternen spenden etwas Licht. Eine schemenhafte Gestalt läuft über das Kopfsteinpflaster, stellt an einem Tor einen Koffer ab und entfernt sich rasch.
Ein Koffer, gepackt mit signierten Exemplaren seines Romans, wird dem Protagonisten Fretwell bei der Ankunft an seiner ersten Station gestohlen. Schon das Erstatten der Anzeige gerät zu einem seltsamen Vorgang. Der Polizeibeamte versucht, Fretwell mit dem Hinweis abzuwimmeln, man habe derzeit sehr viel zu tun – nur um sich ganz plötzlich brennend für den vermissten Koffer zu interessieren. Im Verlauf der Geschichte wird Fretwells Situation immer absurder: Das Publikum interessiert sich nicht die Bohne für das Buch und den Autor, der Verleger ist nicht zu erreichen, erweitert aber den Reiseplan ständig um weitere Stationen.
In schwarzweissen Zeichnungen – sparsam bei den Figuren und den pointierten Dialogen, voller Details bei Architektur, den vollgestopften Regalen der Buchläden oder den im Lauf der Tour immer schäbigeren Hotelzimmern – treibt Watson die fesselnde Geschichte voran, geradewegs auf den Gipfel des Absurden zu, denn während Fretwell auf Lesetour ist, treibt ein Frauenmörder sein Unwesen, der stets einen Koffer am Tatort hinterlässt …
Barbara Buchholz
Andi Watson: «The Book Tour».
Random House N.Y., 272 S.,
Softcover, s/w,
CHF 24.90 / EUR 19,99
„Ich habe aus Notwehr gehandelt, die Regierung aber, verantwortungslos und wahnsinnig wie sie ist, war im Unrecht“, sagt Louis Riel in Chester Browns Comic-Biografie beim Schlussplädoyer eines gegen ihn angestrebten Prozesses wegen Hochverrats im kanadischen Regina. „Schuldig“, lautet das Urteil. Den einen seiner Zeitgenossen galt er als Freiheitskämpfer, den anderen als Verräter, heute ist die Bedeutung von Louis Riel für die kanadische Geschichte unumstritten. Chester Brown hat dem 1885 hingerichteten Riel mit seiner 2003 erschienenen Biografie (zwischen 1999 und 2003 zunächst in zehn Einzelbänden publiziert) ein Denkmal gesetzt, die erste Graphic Novel in der kanadischen Bestseller-Liste für Non-Fiction. Das ist erstaunlich, bekennt Brown doch in seinem Vorwort (das leider in der mit fast 20 Jahren Verspätung erscheinenden deutschsprachigen Ausgabe fehlt), er habe eher eine Interpretation als die getreue Wiedergabe historischer Fakten abgeliefert.
Doch letztlich ist alle Geschichtsschreibung Interpretation, und so wirkt auch Browns grosszügige Auslegung der Fakten erfrischend, offenbart er doch die Ambivalenz Louis Riels zwischen Freiheitskampf, tiefer Religiosität und psychischen Zusammenbrüchen. Riel war als Angehöriger der Métis, Nachfahren europäischer Siedler*innen und indigenen Einwohner*innen Kanadas, in seine Rolle als Freiheitskämpfer mehr oder weniger hineingestolpert, als er gegen den Landraub durch anglo-kanadische Siedler*innen in seiner Heimat protestierte, die sogenannte Red-River-Rebellion organisierte und eine provisorische Regierung in der Provinz Manitoba einrichtete. Seinen später legal erlangten Sitz im kanadischen Unterhaus konnte er nicht wahrnehmen, da ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt war. Riel war ein religiöser Mensch und hatte darüber hinaus 1875 eine mystische Erfahrung, als er glaubte, der Geist Gottes sei in ihn eingezogen, um ihm in seinem Kampf beizustehen – später wurde er dafür in einer psychiatrischen Klinik behandelt.
Chester Brown nimmt sich in seinem schwarzweissen Comic viel Zeit, Riels verbale, politische und kriegerische Schlachten gegen die Staatsmacht zu beleuchten, zeigt die vielen Facetten der Ereignisse und macht keinen Hehl aus der Sympathie für seinen Protagonisten, trotz aller Widersprüche, die Louis Riel in sich trug.
Jonas Engelmann
Chester Brown: «Louis Riel».
Bahoe Books, 280 S.,
Hardcover, s/w,
CHF 37.90 / EUR 24
„Ich glaube nicht an das Ende der Geschichte“, sagt die eine Nachtgestalt zur anderen. „Das musst du nicht. Wir sind schon da“, antwortet die andere. „Und deshalb: eine Party. Oder ein Bier. Lass uns noch ein Bier trinken.“ Die beiden Freunde kehren in eine weitere Prager Kneipe ein, es wird nicht ihre letzte sein, ebenso wenig wie das letzte philosophische Gespräch, das im Alkohol endet.
Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler ergänzen sich in ihrer gemeinsamen Arbeit Nachtgestalten meisterhaft. Die kargen Dialoge von Rudiš verschmelzen mit Mahlers auf das Notwendigste reduzierten Zeichnungen in Schwarz, Weiss und Nachtblau. Gemeinsam schildern sie die Kneipentour zweier unterschiedlicher Freunde, in der Witz und Ernst, Melancholie und Albernheit einander die Waage halten. Sie sind sich einig: „Nur die Menschen, die keine Fantasie haben, gehen in die Berge wandern. Mir reichen die Stadt, die Bücher, das Bier.“
Es geht – wie in so vielen Kneipengesprächen – um unglückliche Liebe, Beziehungen, Beruf, Familie, Freundschaft. „Hast du eigentlich mit Hana geschlafen?“, fragt zu Beginn der grössere, gesprächigere der beiden Protagonisten und gibt damit einen der roten Fäden vor, an denen sich die Freunde entlanghangeln. Hana, so viel sei verraten, spielt eine zentrale Rolle im Leben der einen Nachtgestalt, er selbst in Hanas Leben aber wohl nur eine Nebenrolle. Das persönliche Leiden wird in seitenlangem Schweigen und Trinken am Kneipentisch ausgebreitet, ohnehin ist Nachtgestalten ein Comic, in dem das Schweigen ebenso vielsagend ist wie das Gespräch. Das Bier wird im Stillen konsumiert, gesprochen wird unterwegs, auf dem Weg zur nächsten Kneipe „Die Geschichte macht mich fertig“, sagt irgendwann der Grössere und führt ein neues Thema ein, die Deportation der Grosseltern nach Theresienstadt. „Die Nazis haben sie umgebracht, aber der Hund hat alles überlebt.“ Er könne nicht mehr nüchtern mit dem Zug die Strecke fahren, die damals die Züge nach Theresienstadt nahmen, erklärt er.
Man sieht, auch schwierige Themen werden von Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler angeschnitten, ohne ihnen den Ernst zu nehmen.
Jonas Engelmann
Jaroslav Rudiš/Nicolas Mahler: «Nachtgestalten».
Luchterhand Literaturverlag, 144 S.,
Hardcover, zweifarbig,
CHF 27.90 / EUR 18
Wenn der Verlag im Klappentext andeutet, eine «mehrfache Lektüre» von Prisma lohne sich, um «über das Staunen ob des ästhetischen Wunders … hinauszugelangen», verheisst das wohl nichts anderes als einen eher hermetischen Comic und eine zumindest anspruchsvolle Lektüre. Das trifft auf Joe Kesslers Debüt tatsächlich zu: Prisma ist alles andere als einfach. Aber auch das Versprechen des «ästhetischen Wunders» wird eingelöst. In Prisma versammelt der 34-jährige Brite fünf unterschiedlich lange Erzählungen. Sie wirken schnell und einfach gezeichnet, mit Filzstiften und in bunten, primären Farben. Die Szenerien und die Figuren, aber auch der Zeichenstil sind stets in Bewegung, immer kurz vor der Auflösung.
In der ersten Geschichte spielen ein Mädchen und ein Junge Fussball; der Ball fliegt in den verwilderten Nachbargarten, die Kinder klettern über die Mauer, durch die Fenster des Nachbarhauses sehen sie Kriegsszenen auf einer Leinwand. Sie gehen nach Hause, essen, legen sich zusammen auf einem schmalen Bett schlafen. Ende. Ende? Aber: Warum haben die Kinder nicht je ein Bett? Gibt es einen Zusammenhang mit dem zerbombten Haus, das wir am Anfang der Geschichte aus dem Busfenster erblicken? Ich habe keine Ahnung. Doch so erzählt Kessler, so arbeitet er mit visuellen Signalen, so schafft er Verknüpfungen, so löst er Assoziationen aus.
Joe Kessler sagt, er zeichne möglichst schnell, damit seine Leser*innen seine Comics möglichst schnell läsen. So schafft er auf 272 Seiten einen eindringlichen Bildersog, ein buntes Flimmern, einen Film auf Papier, den er mittels überraschender Stilbrüche zusätzlich intensiviert. Vordergründig haben seine Geschichten weder Anfang noch Ende, sie haben keinen Titel, sie können bei erster Lektüre durchaus banal wirken. Sie leben stark vom atmosphärischen Rauschen der Bilder, von dem man sich mitreissen lassen soll, wohin auch immer es einen treibt. Doch wächst bei der Lektüre die Vermutung, dass es nicht allein um ein Spektakel entfesselter Bilder geht: Kessler durchsetzt seine Erzählungen und Bilder mit vielen Hinweisen, so dass es tatsächlich sinnvoll ist – auch wenn es schwerfällt – hin und wieder aus diesem ästhetischen Rausch auszusteigen und nach Elementen und Indizien Ausschau zu halten, die womöglich eine Erklärung für das bunte Treiben liefern. Aber ganz sicher ist das nicht, und letztlich hängt viel von der Imagination der Leser*innen ab.
Am Comic-Festival von Angoulême wurde Prisma 2020 als bestes Debüt ausgezeichnet; dieser Preis löste eine Polemik über die Qualitäten des Buchs aus. Letztlich ist diese Polemik vermutlich das schönste Kompliment an Prisma.
Christian Gasser
Joe Kessler: «Prisma».
Aus dem Englischen von Christoph Schuler,
Edition Moderne, 272 S.,
Softcover mit Schutzumschlag, farbig,
CHF 29.80 / EUR 24
Nach Tekkonkinkreet (Cross Cult) und Sunny (Carlsen) erscheint mit GoGo Monster ein weiteres Meisterwerk aus der Feder von Taiyo Matsumoto. Auch diese rund 450 Seiten lange Geschichte umkreist die Kindheit – und auch hier geht es um Kinder und ihren Platz in der Welt. Die beiden Protagonisten Yuki und Mokoto stecken in der Phase, in der sie nicht länger Kinder, aber auch noch keine richtigen Jugendlichen – geschweige denn Erwachsene – sind. In dieser Phase des Übergangs tasten sich die beiden Aussenseiter auf dem schmalen Grat zwischen Wirklichkeit, Imagination und Wahnsinn vorwärts.
Yuki sieht im Schulgebäude Monster. Behauptet er jedenfalls. Ob diese Monster real sind oder nur Ausgeburten einer überreizten Fantasie, wissen auch wir Leser*innen nicht; wir sehen sie höchstens in Form von Zeichnungen, die Yuki auf sein Pult kritzelt. Aber der alte Hauswart schenkt Yuki Glauben, und auch der frisch zugezogene Mokoto, Yukis einziger Freund, ist überzeugt, dass Merkwürdiges vor sich geht – die geheimnisvolle Dimension des dritten Stockwerks etwa, in der angeblich immer wieder Schüler*innen verschwinden.
Kraft ihrer Imagination schaffen Yuki und Mokoto eine eigene Welt, die Matsumoto auf assoziative Weise einfängt, in geradezu rauschhaften Bildfolgen, die die Grenzen zwischen den Wahrnehmungsebenen in alle Richtungen unterlaufen und überwinden. Die Geschichte ist vielschichtig und verwirrend, doch Matsumoto, ein gewiefter Erzähler, führt seine Leser*innen umsichtig und behutsam in diese Welt ein und lässt ihnen genügend Zeit, um sich in diesem Schulgebäude – das er übrigens kein einziges Mal verlässt – zu akklimatisieren. Zeichnerisch schöpft Matsumoto aus dem Vollen – seine Fusion klassischer Manga-Elemente mit europäischen Einflüssen kommt in GoGo Monster prächtig zur Geltung.
Die Monster sehen wir zwar nie, aber Yukis andere Halluzinationen sehen wir sehr wohl: Hunde rufen ihn, Lehrpersonen kritzeln nur für ihn sichtbare Botschaften auf Wandtafeln, sein Gesicht spiegelt sich hundertfach in Regentropfen, die Köpfe von Mitschüler*innen verwandeln sich in Blumensträusse … Damit schafft Matsumoto eine Welt, in der sich Realität und Poesie, Aussenseitertum und surreale Fluchtwelten, Glücksgefühle und Bedrohungen auf berückende Weise die Waage halten – eine Metapher für diese sehr spezielle Übergangsphase im Leben, wie sie schöner und eindringlicher kaum geschildert werden könnte.
Christian Gasser
Taiyo Matsumoto: «GoGo Monster».
Aus dem Japanischen von Daniel Büchner,
Reprodukt, 458 S.,
Hardcover, s/w,
CHF 42.90 / EUR 29
Charakteristischerweise führt ein Klang zu einem sinnlichen Hörerlebnis, das vielleicht auch Bilder im Kopf evoziert und eine persönliche Beziehung zum Gehörten und Gesehenen auslöst. In diesem Sinn ist Kokoro – der verborgene Klang der Dinge ein äusserst persönliches Buch. Es schildert, wie sich der italienische Comic-Autor Igort in der japanischen Kultur, Denkweise und Arbeitswelt vorantastet und allmählich zurechtfindet. Man begleitet Igort fasziniert auf seinen Ausflügen durch eine fremde Welt künstlich anmutender Landschaften, unbekannter Mythen und eigenwilliger Moden und staunt, wie feinsinnig er den Dingen, denen er begegnet, auf den Grund fühlt.
In Japan glaubt man, dass die Dinge, die wir täglich benutzen, durch den Kontakt mit uns eine Seele bekommen. Genau darum geht es in Igorts neustem Album, es ist ein Zeugnis seiner Einfühlung in die japanische Kultur: «Ich suchte die in den Formen verborgene Melodie», sagt Igort, der in den 1990er-Jahren einer der ersten Europäer war, der in Japan lebte und für japanische Verlage zeichnete.
Das, wonach wir suchten, liege direkt vor unseren Augen, zitiert er an einer Stelle den Arzt, Samurai und Philosophen Kaibara Ekiken. Um es zu finden, müsse man in die Stille eintauchen und im Dunkeln sehen lernen. Auf diesem Weg leite uns ein einfacherer Klang aus drei Silben: Ko-ko-ro. In der japanischen Kultur bedeutet «Kokoro» so viel wie das «Herz der Dinge» oder das Herz in einem reinen, geistigen Sinn. Dieser Sinn erschliesst sich Igort über tägliche Beobachtungen, Notizen und Skizzen.
Ursprünglich wollte Igort einfach ein Bilderbuch im Querformat malen, das seine Aquarell-Zeichnungen in Originalgrösse zeigt, und sie mit Auszügen aus seinen Reisetagebüchern ergänzt. Herausgekommen ist ein stilles, behutsam erzähltes Notiz- und Tagebuch, das Gedanken und Begegnungen, Orte und Phänomene skizziert und sie lose miteinander verbindet, ohne sie der strengen Abfolge einer bewusst geordneten Handlungslogik zu unterwerfen. Igorts Aquarelle verbinden japanische und europäische Einflüsse auf höchst bezaubernde Weise, gerne folgt man ihm auf seinem Weg und geniesst die kleinen, feinen Meisterstücke der Hingabe, der Achtsamkeit und der Gelassenheit. Ganz nebenbei erfährt man zudem, wie in japanischen Comic-Verlagen gearbeitet wird. Ein absolut lesenswertes Werk!
Florian Meyer
Igort: «Kokoro – Der verborgene Klang der Dinge».
Reprodukt, 128 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 36.90 / EUR 24
Nach den überformatigen Bänden über Winsor McCays Little Nemo in Slumberland und George Herrimans Krazy Kat, beide im Taschen Verlag erschienen, legt der mit dem Eisner-Award ausgezeichnete Autor Alexander Braun folgerichtig mit Will Eisner – Graphic Novel Godfather einen weiteren schwergewichtigen Sekundärband zur Comic-Forschung vor. Der Band erscheint als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Dortmunder Schauraum – Comic und Cartoon, die aufgrund der Pandemie auch als digitaler 360-Grad-Rundgang im Internet zu sehen ist. Auf knapp 400 reich bebilderten, grossformatigen Seiten lässt der Autor Eisners Leben und Karriere Revue passieren, von der ärmlichen Kindheit in der Bronx als Sohn jüdisch-österreichischer Migranten über die ersten Zeichenversuche als Schüler bis hin zur ersten Firmengründung mit 19 Jahren. Wie immer bettet Alexander Braun die biografischen Aspekte in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext ein, schildert die Zeit der Grossen Depression im Allgemeinen und die Situation der Comicstrips im Speziellen. Comic-Hefte entstehen, zu denen Eisner die Serie The Spirit beisteuert, in der er, haarscharf am damaligen Superhelden-Trend vorbei, seinen Helden im Stil des Film noir die Gangster durch die Grossstadtschluchten jagen lässt. Schon hier erkennt man Eisners Interesse für gesellschaftliche Themen und Alltagsszenen sowie seinen Drang zu stilistischen und formellen Neuerungen, wenn er mit der Typografie, dem Seitenaufbau und selbstreflexiven Elementen spielt.
Nach einer zwanzigjährigen Pause, in der er im Auftrag der U.S.-Armee unter anderem Gebrauchsanweisungen für Waffen zeichnete, weckt die Gegenkultur der späten 60er-Jahre, die ihn als wegweisenden Comic-Künstler wiederentdeckt, sein Interesse an einer freien, künstlerischen Autorenschaft. Die neue Generation um Robert Crumb oder Gilbert Shelton kümmert sich in ihrem eigenen Netzwerk aus Autor*innen, Verlagen und Vertrieben nicht um die Grenzen des Darstellbaren. Das geht Eisner in Bezug auf Sex- und Gewaltdarstellungen zwar oft zu weit, es befeuert aber seine nächste Idee, den Comic im Langformat zu denken. 1978 erscheint mit Ein Vertrag mit Gott seine erste Graphic Novel, und genau dieser heute fast schon inflationär für Comics verwendete Begriff prangt auch erstmals auf dem Cover. Bis zu Eisners Tod im Jahr 2005 folgen zahlreiche Alben, in denen er abermals die Formensprache erweitert: Panelrahmen fallen häufig weg, die Texte fügen sich ungerahmt in die Bilder, und auch inhaltlich geht er neue Wege, erzählt vom Alltag in den Grossstädten, von jüdischem Leben, Faschismus und Antisemitismus.
Alexander Braun bettet seinen autobiografischen Erzählstrang faktenkundig in einen grösseren Kontext ein. Der Band ist zudem mit zahlreichen Abbildungen ausgestattet (mit Comic-Umschlägen, Einzelseiten, Fotos), so dass man Brauns Ausführungen gut folgen kann, auch wenn man das Werk von Will Eisner nicht im Regal stehen hat.
Christian Meyer-Pröpstl
Alexander Braun: «Will Eisner – Graphic Novel Godfather».
Avant-Verlag, 384 S.,
Hardcover, farbig & s/w,
CHF 48.90 / EUR 39
Die Geschichte spielt im fiktiven Troumesnil, einem Badeort in der Normandie. Blauer Himmel, weisser Strand. Der Fischhändler preist lautstark seinen frischen Fisch und streitet mit dem Kollegen am Nachbarstand. Doch das idyllische Küstenstädtchen wird von einer drohenden Gefahr überschattet: Die fortschreitende Erosion der Kreidefelsen hat in den vergangenen Jahren die Küstenhäuser in die Tiefe stürzen lassen. Ganz Troumesnil zieht es deshalb vor, die Häuser zu verlassen und im Dorfzentrum zu leben. Ganz Troumesnil? Nein! Die 95-jährige Madeleine lebt noch als Letzte mit ihrem Kater Balthazar und den Erinnerungen an ihren auf See verschollenen Gatten Jules am Rande der Klippen. Sie ist von Geburt an blind und sieht die drohende Gefahr nicht, oder will sie nicht sehen. Gegenüber den Avancen des Bürgermeisters, der sie in einem Seniorinnenheim unterbringen will, gibt sich die alte Dame kämpferisch, wenn es sein muss auch mit Handgranaten.
Niemals ist eine kleine, einfache, aber ergreifende Geschichte über das Vergessen und die Vergänglichkeit. Sie verbindet die geologische Realität der Gegend (Troumesnil basiert auf der Ortschaft Quiberville, die wie viele Orte in der Gegend von der Küstenerosion bedroht ist) mit einer ganz persönlichen und bewegenden Geschichte. So wie Madeleine der Gefahr nicht ins Auge schauen will, scheint sie den Tod ihres Ehemanns nie ganz überwunden zu haben. „Wer blind ist, kann keine Fotoalben mitnehmen…“ erklärt Madeleine eines Abends einem Fremden, der ihr helfen will. Und so bleiben ihr nur die Erinnerungen an Klänge und Düfte in ihrem Häuschen, das sie zusammen mit Jules erbaut hat und nun kurz davorsteht, zusammen mit der Küste weggespült zu werden.
Giovanni Peduto
Bruno Duhamel: «Niemals».
Avant-Verlag, 64 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 31.90 / EUR 20
Chris Goochs Under Earth war vielleicht nicht die beste, aber eine nahezu perfekte Graphic Novel zum Lesen während der Pandemie. Die Geschichte spielt in einer riesigen unterirdischen Gefängnisstadt, in der der einzige sichtbare Stern „… Gerüchten zufolge – ein Loch in 600 Meter Höhe und gerade gross genug ist, um einen Schimmer von Licht hereinzulassen … und keinen anderen Zweck hat, als die Bevölkerung zu quälen“. Under Earth lässt uns in Gefühle von Taubheit, Verzweiflung, Angst und sogar ein bisschen Hoffnung eintauchen, und zwar auf eine Weise, die viele unserer pandemiebedingten ambivalenten Gefühle widerspiegelt.
Mit fast 600 Seiten ist dieses Buch eine echte Graphic Novel, obwohl es sich eigentlich eher wie ein Filmdrehbuch liest, und das meine ich durchaus positiv: Ich würde gerne sehen, was Tarkowski oder Kubrick mit diesem Ausgangsmaterial angestellt hätten. Aber Under Earth funktioniert auch als Comic-Album grossartig. Hätten sich Sammy Harkham, Gary Panter und Katsuhiro Otomo zusammengesetzt, um eine dystopische Geschichte zu kreieren – sie würde wohl so ähnlich wie Under Earth aussehen. Allerdings bringt Gooch ein besonderes Mass sowohl an Empathie als auch an Hoffnungslosigkeit mit, das man bei den erwähnten Zeichnern nicht oft sieht. Der 1993 geborene Australier ist ein Talent, das man genau beobachten sollte.
Es ist eine einfache Geschichte: Zwei Diebinnnen (Ele und Zoe) und ein ungleiches Paar vom Rande der Gesellschaft (Malcolm und Reece) kämpfen ums Überleben in einem entmenschlichenden System. Die Story wird mittels einer Reihe paralleler Erzählungen und des geschickten Einsatzes von Sprüngen und Perspektivwechseln geflochten, und zwar in einem einnehmenden, mitreissenden Zeichenstil, ganz wie die besten Manga (viele westliche Zeichner*innen in ihren Zwanzigern scheinen Grammatik und Syntax von Manga ganz unbefangen verinnerlicht zu haben) und die meist monochrome Farbgebung (gelb, rot, tief lila) vermittelt kraftvoll Action, Stimmung und Emotionen.
Während die vier Hauptfiguren anfangs noch recht typisiert wirken (der mürrische Einzelgänger, der nervöse Schwächling, die zähe Jungfrau und das sentimentale, aber erstaunlich taffe Mädchen), lernen wir im Verlauf der Geschichte jeden einzelnen Charakter genauer kennen und werden manchmal überrascht von ihren Entscheidungen und Reaktionen. Ich habe Under Earth in einem Zug gelesen, am nächsten Tag gleich noch einmal, und erst beim zweiten Mal habe ich Goochs erzählerisches Geschick und seine Sensibilität bei der Darstellung der Charaktere wirklich schätzen gelernt. Ich bin gespannt auf seine nächsten Werke.
Mark David Nevins
Chris Gooch: «Under Earth». In Englisch.
Random House N.Y., 560 S.,
s/w mit drei Farben,
CHF 41.90 / EUR 27,99
Seit 37 Jahren arbeitet Isidor Louis als Forschungsbeauftragter im Zentralinstitut der Archive, Abteilung für Mythen und Sagen, einem untergeordneten Bereich des Archivs, so die allgemeine Meinung. Als wäre das nicht Strafe genug, erhält Louis den mühseligen Auftrag, eine umfangreiche Dokumentation über die Existenz geheimnisvoller Städte zu untersuchen. Durch seine Expertise soll er der wachsenden Anzahl von fanatischen Anhänger*innen dieser fantastischen Welt ihren Wahn vor Augen führen. Akribisch erforscht er die Berichte über Städte mit Namen wie Xhystos, Calvani oder Brüsel. Immer wieder ist von einer geheimnisvollen geometrischen Struktur die Rede, einem riesigen „Gitternetz“, das die Städte ins Verderben stürzt. Der Archivar versteht die Berichte zwar als Märchen, aber sie sind „so reichhaltig, so gegenwärtig wie kein anderes.“ Je mehr er sich damit befasst, desto mehr ist er von der Existenz dieser Parallelwelt überzeugt. Wenn der Archivar zum Schluss kommt, dass er zwar keinen Beweis dafür habe, aber auch „kein schlagendes Argument für die Nichtexistenz dieses Universums vorbringen“ kann, erreicht die Geschichte eine unheimlich anmutende Aktualität um Verfechter*innen von alternativen Welten (oder Fakten), wissenschaftlicher Tatsachen und Verschwörungsmythen.
Die beschriebene Wunderwelt entstand 1983, als François Schuitens und Benoît Peeters‘ erster Band der Serie „Die Geheimnisvollen Städte“ erschien. Schuiten stammt aus einer Architektenfamilie – die zahlreichen Illustrationen von retrofuturistisch anmutenden architektonischen Wunderwerken erstaunen daher nicht. Die Zukunft trifft auf das viktorianische 19. Jahrhundert, Zeppeline und stählerne Eisenbahnen auf glänzende Wolkenkratzer; Steampunk pur. Wer die Serie noch nicht kennt, tappt anfangs zusammen mit dem Archivar im Dunkeln und findet bis zum Ende zwar nicht die Erleuchtung, die Louis erlebt, der Band ist aber ein guter Einstieg in eine vielversprechende Serie.
Giovanni Peduto
François Schuiten, Benoît Peeters: «Der Archivar».
Schreiber & Leser, 64 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 35.90 / EUR 22,80
Es begann mit einer Ohrfeige. Als Beate Klarsfeld 1968 auf dem Parteitag der CDU Kurt Georg Kiesinger, der zwei Jahre zuvor zum Bundeskanzler gewählt worden war, vor laufenden Kameras ohrfeigte und als Nazi bezeichnete, sorgte sie damit für ein Erdbeben in der Politik und der deutschen Gesellschaft, indem sie mit aller Deutlichkeit darauf aufmerksam machte, dass ein ehemaliges NSDAP-Mitglied an der Regierungsspitze der Bundesrepublik Deutschland stand. Beate Klarsfeld, eine deutsche Protestantin, und Serge Klarsfeld, ein französischer Jude, hatten im Paris der 60er-Jahre eine schicksalhafte Begegnung, sie verliebten sich und lebten eine deutsch-französische Beziehung, wie sie damals schwierig erschien, waren doch die Wunden des Krieges noch nicht verheilt; die NS-Zeit wurde verschwiegen, statt aufgearbeitet. Beate und Serge Klarsfeld machten sich die Aufarbeitung ihrer eigenen und der Geschichte ihrer Eltern zum Ziel. In ihrem mutigen Kampf gegen die Vertuschung der Nazi-Verbrechen brachten sie Verantwortliche vor Gericht und veränderten die Wahrnehmung der Rolle der Vichy-Regierung vor allem in Frankreich, aber auch weltweit. Die Klarsfelds waren Idealisten, die gegen Nazi-Seilschaften in Regierungen und Geheimdiensten ankämpften und über die Jahre zahlreiche Unterstützer*innen um sich scharten. Trotz Brief- und Autobomben, die auch ihre Kinder gefährdeten, liessen sie sich nicht davon abbringen, NS-Verbrecher wie z.B. Klaus Lischka, Josef Mengele und Alois Brunner aufzuspüren. Ihre Hartnäckigkeit ward belohnt, als Klaus Barbie, der „Schlächter von Lyon“ endlich verhaftet und verurteilt wurde. Der spannende und rasant geschriebene Comic von Pascal Bresson und Sylvain Dorange basiert auf dem Buch Erinnerungen von Beate und Serge Klarsfeld sowie auf persönlichen Gesprächen mit dem Paar. Beate Klarsfeld war in den 60er-Jahren Journalistin und schrieb gegen die Kanzlerschaft Kiesingers an, musste damals aber enttäuscht feststellen, dass das Schweigen über die Zeit des „Dritten Reichs“ die Kriegsverbrecher*innen schützte und es ihnen ermöglichte, sich wieder gesellschaftlich zu etablieren. „Leider ist es so, dass man mit verbalen Aktionen nichts mehr erreichen kann. Um einen Skandal aufzudecken, muss man auch mit einem Skandal antworten“, sagte Beate Klarsfeld. Gerade heute, in einer Zeit, in der sich wieder vermehrt nationalistische und rassistische Tendenzen in der Gesellschaft und Politik etablieren, darf das Beispiel mutiger Menschen wie Beate und Serge Klarsfeld nicht vergessen werden.
Matthias Schneider
Pascal Bresson, Sylvain Dorange: «Beate & Serge Klarsfeld. Die Nazijäger».
Carlsen, 208 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 41.90 / EUR 28
Gewisse Kinderbücher faszinieren, weil sie das Bewusstsein der Erwachsenen für Alltägliches schärfen und die Welt durch die neugierigen Augen der Kinder sichtbar machen. Sehen von Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw aus der Ukraine ist ein solch besonderes Kinderbuch, das im wahrsten Sinne des Wortes den Leser*innen – egal, welchen Alters – die Augen öffnet. Es gibt zweierlei Arten von Texten im Buch, die eine wendet sich an Kinder im Vorlesealter, die andere enthält weiterführende und komplexere Informationen für Jugendliche und Erwachsene. Auf der grafischen Ebene wechseln sich stilisierte Zeichnungen, geprägt von der osteuropäischen Illustrationskultur, mit zum Teil wissenschaftlichen, naturgetreuen Darstellungen ab, die sich mit dem Thema Sehen in all seiner Vielfältigkeit auseinandersetzen. Die Leser*innen lernen, wie zum Beispiel Farben unsere Gefühle beeinflussen können, wie unser Gehirn Bilder schneller verarbeiten kann als Wörter und Töne, oder wie unser Sehen durch optische Täuschungen und Vexierbilder ausgetrickst werden kann. Ob allein oder mit Kindern, es ist eine Freude, das Buch zu lesen und sich mit dem so „alltäglichen“ Sehen zu befassen. Es schärft die Achtsamkeit und inspiriert uns, unsere Umgebung aus anderen Perspektiven zu betrachten, und dankbar für die Wunder des Alltäglichen zu sein.
Matthias Schneider
Romana Romanyschyn, Andrij Lessiw: «Sehen».
Gerstenberg, 56 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 29.90 / EUR 20
Jim McCarthy & Steve Parkhouse: «Sex Pistols – Die Graphic Novel».
Panini, 100 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 27.90 / EUR 19
Nach der Familiengeschichte Come Prima des Zeichners Alfred veröffentlicht der Verlag Reprodukt mit Senso eine weitere Geschichte von ihm, die anfänglich fern vom Thema Familie scheint, bis der Protagonist Germano durch Zufall in ein Hotel gerät, in dem eine Hochzeit gefeiert wird. Zunächst ist da eine lange Nacht voller merkwürdiger Geschehnisse – Liebe und Gewalt, Hitze und Gewitter – und ein wundervoller, dschungelartiger Park. Der in satten Farben gemalte Comic ist spannend und lakonisch zugleich, wechselt immer wieder das Tempo und nimmt sich Zeit für sentimentale und poetische Momente.
Alfred: «Senso».
Reprodukt, 160 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 29.90 / EUR 20
Ángel Molinos ‚erfindet‘ für einen grossen Pharmakonzern psychische Krankheiten, für die die Firma dann Medikamente herstellen kann. Ein gutes Geschäft, kann man doch viele Symptome der Gegenwartsgesellschaft pathologisieren. Als ein Kollege seine Zweifel an der moralischen Integrität der Firma anmeldet, wird auch Ángel skeptisch und beginnt mit Nachforschungen. Es ist nach Ich, der Mörder der zweite Teil von Altarribas bitterböser Reihe, die mit Ich, der Lügner ihren Abschluss finden soll. Dabei werden in extremen Schwarzweiss-Zeichnungen kompromisslos die niedersten Instinkte der Menschen erforscht. Ein wirklich böser Psychothriller!
Antonio Altarriba & Keko: «Ich, der Verrückte».
Avant-Verlag, 136 S.,
Hardcover, s/w mit Farbe,
CHF 38.90 / EUR 25
Bereits im letzten Jahr erschien die Dystopie The End von Zep. Darin erforscht Theodor mit seinen Kolleg*innen – frei nach Peter Wohlleben – das Kommunikationssystem der Bäume. Als sich deren Stoffwechsel ändert, beginnen die Tiere, sich merkwürdig zu verhalten … Zep schafft es mit grosser Spannung, in seinem Ökothriller wissenschaftliche Erkenntnisse ins Fantastische zu erweitern und damit eine hochpoetische Evolutionsgeschichte zu erzählen.
Mit Der ferne, schöne Klang veröffentlicht der Verlag nun ein weiteres Album von Zep. William beziehungsweise Bruder Marcus, wie er in seinem Kloster heisst, hat vor einem Vierteljahrhundert ein Schweigegelübde abgelegt, als er sich aus der Welt zurückzog. Und auch hier separiert er sich von seinen neun Klosterbrüdern. Doch als er wegen einer Erbschaft nach Paris reist, prallt sein asketisches auf das pralle Leben. Zep macht aus dem Szenario keine plumpe Witzorgie, sondern lässt sich in leisen Tönen auf beide Welten ein.
Zep: «The End»,
Schreiber & Leser, 96 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 31.90 / EUR 19,80
Zep: «Der ferne schöne Klang“,
Schreiber & Leser, 80 S.
Hardcover, farbig,
CH 31.90 / EUR 19,80
Jean Dufaux und Rubén Pellejero haben mit Regenwolf einen Western-Comic realisiert, dessen Protagonistinnen drei Frauen sind. Ein Rache-Epos, in dem sich vor allem die Männer die Köpfe einschlagen. Ungewöhnlich in diesem Spätwestern ist, dass es eine breite Allianz zwischen Weissen und Indigenen gibt, die aber von unbelehrbaren Rassisten torpediert wird. In eher gemalten als gezeichneten Bildern fängt der Comic die unabwendbare Entwicklung zum grossen Showdown ein.
Jean Dufaux / Rubén Pellejero: «Regenwolf».
Schreiber & Leser, 144 S.,
Hardcover, farbig,
CHF 51.90 / EUR 29,80
Mit Bekehrungswahn & lebende Tote attackiert Lewis Trondheim in seinem tollen Hase-Universum die Religion: Hase und sein Kumpel Richard helfen einem Regierungsbeamten, in Kleinstädten atheistische Tempel zu errichten, denn auch Atheisten „glauben“, so der Beamte … nämlich, dass es keinen Gott gibt. Der Beamte ist aber nicht minder selbstherrlich als die üblichen Religionsvertreter, und so eskaliert die Lage schnell. Überraschende Wendungen, doppelbödige Dialoge und ein trockener Humor machen auch den neuen, dritten Band von Die neuen Abenteuer des Herrn Hase zu einem kurzweiligen, intelligenten Spektakel.
Lewis Trondheim: «Bekehrungswahn & lebende Tote».
Reprodukt, 48 S.,
Softcover, farbig,
CHF 19.90 / EUR 13
Hexen widmet sich den kreativen Frauen, die früher oft als Musen verniedlicht oder gar als Hexen verunglimpft wurden. Malwine Strauss feiert die weibliche Kreativität mit Formen, floralen Mustern und weichen Farben. In dem kunstvollen Band spielen abstrakte und spirituelle Gedanken eine grosse Rolle – sowie lange, sich kringelnde Zöpfe …
Malwine Stauss: «Hexen».
Rotopol, 92 S.,
Softcover, farbig,
CHF 28.90 / EUR 20
.
.
.
LUIGI OLIVADOTI
Luigi Olivadoti wurde 1983 in Grabs (SG) geboren, er wuchs im Fürstentum Liechtenstein auf und studierte Kommunikationsdesign in Zürich bzw. Visuelle Kommunikation an der Hochschule Luzern. Er lebt und arbeitet als Illustrator und Künstler mit seiner Familie in Zürich. Mit seinem illustrativen Werk der letzten Jahre wurde er 2020 für den Swiss Design Award des Bundesamtes für Kultur nominiert.
www.luigiolivadoti.li
Instagram@luigiolivadoti
.
CHRISTOPH SCHULER
geboren 1954 in Zürich, Lehre als Buchhändler, diverse Jobs als Schauspieler, Filmstatist, Sekretär, Vergolder, Layouter. Mitbegründer der Untergrundzeitschrift Stilett und der Veranstaltungszeitschrift NIZZA, Redaktor beim Spielmagazin AHA!. Ab 1985 tätig als Songwriter, Comictexter, Dozent, Lektor und Übersetzer für verschiedene Verlage, Verfasser von Kinderbüchern, als freier Journalist BR für diverse Zeitungen und Zeitschriften, Redaktor beim Comic-Magazin Strapazin.
.
.
JULIA KLUGE
Julia Kluge wurde 1989 geboren und arbeitet als Illustratorin und Zeichnerin in Leipzig. Sie hat an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle Kommunikationsdesign studiert und ein Masterstudium im Fach Illustration an der Universität der Künste Berlin absolviert. Ihre Illustrationen und Comics wurden bereits in mehreren Büchern, Magazinen und Ausstellungen veröffentlicht. Im vergangenen Jahr zeichnete sie ein Comic-Tagebuch über den Hopfenanbau in der Hallertau/Bayern. Julia gibt ausserdem Workshops rund ums (Comic-)Zeichnen und begleitet Veranstaltungen mit Graphic Recordings. Die hier abgedruckte Geschichte entstand im Rahmen des Projekts Redrawing Stories from the Past und wurde erstmals im wunderbaren Magazin kuš! #34 abgedruckt.
www.kluugel.de
Instagram@ju_kluge
www.komikss.lv/books/s/
.
.
BIRK GLAUSER
Birk Glauser, *2007, wohnt in der Nähe von Bern. Die hier abgedruckte – hoffentlich total fiktionale – Geschichte entstand 2018 im Rahmen eines STRAPAZIN-Comic-Workshops und beeindruckte uns mit ihrem Witz so sehr, dass wir sie unseren Leser*innen nicht vorenthalten möchten. Birk sagt, dass er von den ersten Comics, die er zu Gesicht bekam, schwer fasziniert gewesen sei, doch habe er sie nicht wirklich verstanden. Um ihr Geheimnis zu ergründen, habe er selber zu zeichnen begonnen. Seine Hobbies sind Fussballspielen und Musik; seit fünf Jahren spielt er zusammen mit fünf Freunden in einer Band. Auf seinem YouTube-Kanal Birklowitsch veröffentlicht er eigene Musikvideos und Kurzfilme.
www.youtube.com/watch?v=CMLFAxseU14
.
.
ESTELLE GATTLEN
Estelle Gattlen, geboren in einer Region, in der sich alle kennen und man sich gerne auf ein Glas trifft, um Kühe beim Kämpfen zu bewundern, überquerte sie 2015 den sogenannten Röstigraben zwischen französisch- und deutschsprachiger Schweiz, um in Luzern Animation zu studieren. Mit ihrem Abschlussfilm Braises, den sie 2018 zusammen mit Sarah Rothenberger drehte, reiste sie von Festival zu Festival, vom slowenischen Karaoke bis zur italienischen Tafelrunde. Ein sechsmonatiges Praktikum im Animationsstudio Team Tumult brachte sie 2019 nach Zürich, wo sie seither als freiberufliche Animatorin und Illustratorin lebt und mit ihrem Kollektiv Voilà collective eine Werkstatt betreibt.
www.estellegattlen.com
Instagram@estellegattlen