No:144

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Nur knapp 300 km von Zürich entfernt reibt sich der Zipfel der Westschweiz am Bauch Frankreichs und hat dabei so viel Spass, dass die deutschsprachige Schweiz schamhaft den Blick abwendet. Vor allem wenn es um Kultur und im Speziellen um Comics geht.
So kam es mir jedenfalls vor, als ich mich in letzter Zeit dem Westschweizer Comic-Schaffen widmete und bemerkte, dass mir einige der jungen Talente in der Romandie absolut unbekannt waren, obwohl sie es verdient hätten, auch im deutschsprachigen Raum entdeckt zu werden. Deshalb ist dieses Heft der prosperierenden und äusserst vielseitigen Comicszene der Westschweiz gewidmet, wobei der Umstand, dass fast alle in diesem Heft publizierten Zeichner*innen ihren Lebensmittelpunkt in Rodolphe Töpffers Heimatstadt Genf haben oder zumindest dort studierten, reiner Zufall ist, da nicht der Wohnort, sondern das Werk alleiniges Kriterium bei der Auswahl war.
Bei genauerem Hinsehen wird jedoch klar, wieso die Konzentration auf Genf eben doch kein Zufall ist, bieten sich hier doch ideale Bedingungen für ein Comic-Biotop, von den Ausbildungsmöglichkeiten an Hochschulen, an denen bekannte Comic-Autor*innen unterrichten, über eine sehr kreative, vielseitige und durchlässige Kulturszene, die auch Raum für genreübergreifende Projekte lässt, bis hin zu innovativen Förderstrukturen, die explizit auch dem Comic-Nachwuchs unter die Arme greifen, dessen Strahlkraft durchaus über die Landesgrenzen hinaus reicht.
Diese Ausgabe von Strapazin versammelt ein breites Spektrum an gezeichneten Erzählungen und vermittelt einen Eindruck der unterschiedlichen künstlerischen Ausrichtungen einer weiteren Generation von Comic-Zeichner*innen, die wir hoffentlich noch oft im Strapazin zu Gast haben werden.

Anja Luginbühl
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Comics
aus
dem
wilden
Westen

von Raphaël Oesterlé

Schon seit mehr als zwanzig Jahren gilt Genf schweizweit, aber auch international als kreatives Zentrum für Comics. 1970 bis 1980 machte die erste Generation von Genfer Autoren auf sich aufmerksam, mit Vertretern wie Daniel Ceppi oder Gérald Poussin, doch gab es in ihrer Heimatstadt kaum Möglichkeiten, über eine ziemlich enge Szene hinaus bekanntzuwerden. Die Abwesenheit von publizistischen Strukturen zwang sie dazu, nach alter Tradition «nach Paris zu gehen», um dort bei Verleger*innen die Klinken zu putzen. Die wichtigsten Medien für die Veröffentlichung von Comics waren Zeitungen und Magazine, und tatsächlich wurde Ceppi in Métal Hurlant und dann in A Suivre, Poussin bei Hara-Kiri, Charlie Mensuel und in L’Echo des Savanes veröffentlicht. Regelmässig für diese prestigeträchtigen Titel arbeiten zu können, die zu jener Zeit die angesagtesten Schaufenster der Comic-Welt verkörperten, war zwar ein unbestreitbarer Erfolg, brachte aber mit sich, dass die Swissness der Autoren, die sich der redaktionellen Linie der Publikationen anpassten, verloren ging. Ihre Heimat Genf war praktisch unsichtbar.

Die
wilden
Neunziger

In den 1990er-Jahren vollzog sich ein radikaler Wandel, was die Publikation französischsprachiger Comics betrifft. Zu Beginn des Jahrzehnts blühten die kleinen Verlage auf, ihr Aushängeschild ist nach wie vor der 1990 in Frankreich gegründete Verlag L’Association. Diese Verlage, die oft von Zeichner*innen gegründet und geleitet wurden, hatten den Anspruch, Comics von Autor*innen zu produzieren, die sich den üblichen Gepflogenheiten verweigerten, das Serien- und Abenteuer-Genre ablehnten und gerne mit schwarzweissen Zeichnungen oder solchen im Stil der «couleur directe» arbeiteten, also sowohl die Outlines als auch die Farbe im selben Arbeitsgang malten. Schwerpunkte waren Autobiografien, experimentelle oder poetische Comics in überraschenden Formen – Werke, die bald als Graphic Novels bezeichnet werden sollten. Solche Ausrichtungen im Verlagswesen sind an sich nicht neu, aber vielleicht trafen sie dieses Mal auf eine breitere Leserschaft als nur auf ein Netz von Ästhet*Innen, wie das rasche Umdenken der grossen Verlage zeigt, die diesen «alternativen» Stil, der offenbar geschätzt wird, schnell nachahmten. Der Hang zur Autobiografie und später zum Nonfiction-Comic sowie die rasante Verbreitung der Graphic Novel, die auf dem Weg war, neuer redaktioneller Standard zu werden, waren unmittelbare Folgen dieser Aufbruchsbewegung der frühen 1990er-Jahre.
Auch in Genf war dieser neue Wind bald zu spüren. Der Verlag Drozophile wurde 1996 gegründet, gefolgt von B. ü. L. b comix und Atrabile im folgenden Jahr. Die Anfänge waren bescheiden, aber sie erleichterten jungen Autor*innen, die heute allen neugierigen Leser*innen bekannt sind, den Einstieg: Alex Baladi, Frederik Peeters, Isabelle Pralong, Helge Reumann, Tom Tirabosco oder Pierre Wazem, um nur die bekanntesten zu nennen, entwickelten nach und nach ihr ganz persönliches Universum. Es dünkt mich heikel, diese Autor*innen unter dem Titel einer hypothetischen «Genfer Schule» zu vereinen; was auffällt, ist weniger eine Einheitlichkeit des Stils oder der Themen als vielmehr der Reichtum der einzelnen Welten, die uns eröffnet werden.

Wie
sieht
es
heute
aus?

Die in den 1990er-Jahren erstmals publizierten Autor*innen werden noch immer in der Schweiz und in Frankreich veröffentlicht, sind von Kritiker*innen und Fachkolleg*innen, aber auch von der breiten Öffentlichkeit anerkannt, werden oft mit Preisen ausgezeichnet und sind regelmässig in der Auswahl des Festival d’Angoulême vertreten. Aber wie sieht’s mit dem Nachwuchs aus? Tatsache ist, dass sich zwischen 2000 und 2010 nur wenige Genfer Autor*innen einen Namen gemacht haben. Die Gründe für diesen nicht vollzogenen Generationenwechsel, der auch bei den französischen Comics zu beobachten ist, bleiben im Dunkeln.
Heute präsentiert sich die Situation anders; Genf ist wieder die Heimat zahlreicher Autor*innen von spannenden und persönlichen Werken. Die Ausgabe von STRAPAZIN, die Sie gerade in den Händen halten, bietet einen beispielhaften Überblick ohne Anspruch auf Vollständigkeit, er ist auch nicht repräsentativ für eine Szene, die viel zu frei ist, um sich nach irgendwelchen Prinzipien einordnen zu lassen. Dieses Heft ist vielmehr ein Spaziergang, bei dem die Leser*innen einen Einblick in die Welt der heutigen Genfer Comic-Zeichner*innen erhalten. Dass einige von ihnen weniger bekannt sind als ihre Vorgänger*innen, liegt vielleicht daran, dass diese Autor*innen es vorziehen, sich eher am Rand der Szene zu bewegen, um dort schwer zugängliche, aber durchaus beeindruckende Universen zu entwickeln.

Genf
als
Zentrum
der
Kreativität

Wie ist die Ausnahmesituation Genf zu erklären? In der Westschweiz gibt es keine andere Stadt mit einer vergleichbaren Kreativität. Mehr als nur um unbestritten grossartige Einzeltalente geht es um eine Kombination von Gegebenheiten. Tatsache ist zum Beispiel, dass viele Verlage in den 1990er-Jahren auftauchten, einer Epoche, die von einer alternativen Szene im Umbruch geprägt waren, deren Energie bis heute ungebrochen ist; Beweise dafür sind die Aktivitäten von Buchhandlungen wie Cumulus und Papiers Gras, die seit den 1980er-Jahren alle Arten von Publikationen anbieten, vom verschwörerischen Fanzine bis zu Sammelbänden. Papiers Gras ist auch eine Galerie mit einer wachsenden Anzahl von Ausstellungen, fast jeder Künstler und jede Künstlerin hat dort schon einmal ausgestellt – die Wirkung von Vernissagen und Vorträgen ist nicht zu unterschätzen, wenn man als Künstler*in reüssieren will. Und auch Kanton und Stadt Genf tragen durch die Vergabe von Preisen, Stipendien oder finanzieller Unterstützung für Autor*innen und Verleger*innen ihren Teil zum heimischen Comic-Schaffen bei. Eine wichtige Rolle spielen zudem die zwei Hochschulen: Die École supérieure de bande dessinée et d’illustration ESBDI und die Haute école d’art et de design HEAD bieten Fachausbildungen an. Viele der Lehrer*innen gehören der erwähnten «ersten Generation» an, die Vermittlung ihrer Erfahrungen ist unverzichtbar. Die Bedingungen für ein gutes Gedeihen des Mediums Comic sind in Genf also durchaus gegeben.

Familiengeschichten

Was kann man dem in diesem Heft präsentierten Überblick über das zeitgenössische Schaffen in der Westschweiz sonst noch entnehmen? Abgesehen von ihren individuellen Eigenheiten lassen sich die in diesem Heft enthaltenen Autor*innen verschiedenen «Familien» zuordnen, die ihrerseits wiederum Verbindungen aufweisen. So sind Aude Barrio, Yannis la Macchia und Barbara Meuli Mitglieder des Kollektivs Hécatombe, das seit mehr als 15 Jahren mit den Grenzen des Comics spielt. Buster Yañez ist seit den 2010er-Jahren in der alternativen Szene aktiv, produziert Poster und Fanzines und organisiert Konzerte. Die Kombination der beiden Szenen führte zur Gründung des Labels Kakakids Records, zusammen mit seinem Kollegen Willy Tenia. Pierre Schilling befindet sich an der Peripherie dieser Konstellation, Schritt für Schritt baut er ein Werk auf, das von einem herrlich absurden Humor geprägt ist.
Vamille, Hugo Baud, Jehan Khodl und Melchior Best repräsentieren eine eher zeitgenössisch geprägte Richtung. Die drei Letzteren sind noch in ihren Zwanzigern und haben bereits einzigartige und vollendete Ansätze für Comics entwickelt.
Bemerkenswert ist, wie zurückhaltend gewisse dieser Autor*innen sind, die selbst belesenen französischsprachigen Comic-Fans unbekannt sind. Nur Yannis la Macchia, Pierre Schilling und Vamille haben Werke ausserhalb des Bereichs der Kleinstverlage veröffentlicht. Es wäre jedoch falsch, dies mangelndem Ehrgeiz oder gar der Unfähigkeit anzulasten, das Interesse grösserer Verlage zu wecken. Vielmehr tritt hier der Wunsch zutage, sich in Freiheit entwickeln zu können. Diese Freiheit ist in erster Linie gleichbedeutend mit kreativer Freiheit, aber sie ist auch eine Freiheit von wirtschaftlichen Zwängen. Mikroverlage entziehen sich dem System der französischen Buch-industrie, das die Buchhandlungen mit relativ grossen Quantitäten von Neuerscheinungen ausstattet, die später remittiert werden können, was schon vielen kleineren Verlagen das Genick gebrochen hat. 2015 veröffentlichte das Kollektiv Hécatombe eine Begleitpublikation zur DVD von UnderGronde, einem Dokumentarfilm von Francis Vadillo, der ein Panorama dieser Comic-Szene zeigt und eine Art Glaubensbekenntnis darstellt.

Expeditionen
in
unbekannte
Welten

Die offensichtliche Zurückhaltung der Autor*innen geht einher mit einer Abkehr von dem, was in den 90er-Jahren angesagt war – keine umfangreichen Graphic Novels mehr, keine Autobiografien oder Reportagen. Was heute dominiert, ist die eher kleine Form, sind kurze, rätselhafte Geschichten, deren Botschaft sich mehr durch die Zeichnung als durch eine klassische Narration mitteilt. Die Autor*innen definieren sich nicht durch ein Hauptwerk, sondern durch die Summe all der kleinen Dinge, die ein Universum bilden.
Ein letzter Punkt, den ich hervorheben möchte und für den die Geschichten in dieser Ausgabe ein gutes Beispiel sind, ist die Weigerung, eindeutig zu sein. Es ist in der Tat sehr schwierig, diesen Geschichten eine explizite Bedeutung zu geben, mit Ausnahme derjenigen, die zum Lachen anregen sollen und daher keine Zweideutigkeit dulden. Die meisten der Stories beharren auf einer Art Undurchsichtigkeit, sie bevorzugen grosse Panels und halten die Leser*innen auf Distanz, was eine Identifikation mit den Figuren vereitelt, auch die Nahaufnahmen erlauben keinen Zugang zum Innenleben der Charaktere. Ihre Gesichter sagen wenig aus, sie sind da, aber sie widerstehen der Inspektion und werden nur als das gesehen, was sie auch sind, reine Materie. Die Motive der Figuren bleiben unklar, die Leser*innen werden zu Zeug*innen von Handlungen oder Ereignissen, deren Logik unentzifferbar bleibt.
Dieses Vorgehen unterscheidet sich von der der klassischen Erzählung, die normalerweise als ein geschlossenes und geordnetes Universum daherkommt, dessen Funktion eine Neukonfiguration der Welt ist. Diese fiktive Welt soll ein Gegenstück zu unserer chaotischen Welt sein, und die Erzählung erhält einen exemplarischen Wert. Sie lässt uns etwas von unserem Zustand sehen und fühlen, das in der Realität oft verschwommen bleibt. Nichts dergleichen ist hier der Fall. Die Lektüre bietet uns nur einen partiellen Einblick in eine rätselhafte Welt. So gesehen, erzeugen diese Geschichten Beklemmung, lassen uns aber auch staunen. Es geht hier, so erhält man den Eindruck, nicht so sehr darum, einen Comic zu lesen, als ihn zu betrachten. Während wir uns oft vom Text, dem Szenario oder dem Zweck eines Comics leiten lassen, ist die hier vorgeschlagene Leseerfahrung eine andere. Sie verlangt von uns, dass wir unsere Lesegewohnheiten hinter uns lassen. Der Preis, den wir zu bezahlen haben, ist eine gewisse Verunsicherung, die jedoch unendliche Räume eröffnet, die es zu erkunden gilt.
Noch sind Comics jung und haben nicht aufgehört, sich neu zu erfinden!

DAS
GESCHRIEBENE
WORT

Von Wolfgang Bortlik

ROMAN NOIR
UND
POLAR
STATT
KRIMI

Kriminalromane
aus der
französischen
Schweiz

Polar, Roman Noir, diese Bezeichnungen für ein Genre klingen um einiges besser als das doch recht abgedroschene deutsche Wort Krimi, bei dessen Erwähnung alle gleich das Wallander-Fieber, den Tatort-Wahnsinn oder eine ähnlich geartete Krankheit kriegen. Das Publikum ist allzu leicht verführbar. In Buchform erscheint so leider oft der allerletzte Mist, der auch noch geführt werden muss. Doch wir wollen hier nicht über die Qualität streiten, denn genauso wie es schlechte Kriminalromane gibt, wird ständig auch schlechte Hochliteratur auf den Markt geworfen. Schlecht im Sinne von langweilig, langatmig, langsam, verquast und verjammert, voll falscher Wendungen und Bilder, bei Vorbildern abgeschrieben, voraussehbar, unpolitisch, reine Zeilenschinderei und so weiter und so fort. Es wird eh viel zu viel geschrieben und zu wenig gelesen und verstanden.
Lange hat es jedenfalls nur eine kleine Zahl von Westschweizer Romanen mit kriminellem Inhalt gegeben, die ins deutsche Sprachgebiet gefunden haben. Umgekehrt ist der Weg übrigens noch viel steiniger. Kulturvermittlung oder Kulturaustausch klappen da nicht so recht. Den hochnäsigen Hüter*innen der hohen Literatur ist dieses Literaturgenre für die Vermittlung und Finanzierung wohl zu trivial, trotz der glänzenden Vorbilder der Klassiker wie Ramuz, Glauser und Dürrenmatt. Immerhin ist in letzter Zeit der eine oder andere Roman Noir oder Polar aus der Westschweiz ins Deutsche übersetzt worden, darunter wahre Schmuckstücke des Genres. Über ein paar dieser Bücher wird dieses Geschriebene Wort berichten.

Nur ganz kurz zur Vorgeschichte: Der Schweizer Kriminalroman fängt trotz aller möglichen und unmöglichen Vorläufer erst zu Beginn der 1930er-Jahre zu blühen an. Friedrich Glauser schreibt gerade am Roman Der Tee der drei alten Damen, wenig später wird er den knorrigen Wachtmeister Studer erfinden. C.A. Loosli hat in Die Schattmattbauern über eine besonders raffinierte Tötung geschrieben. In der Romandie erscheint nicht nur Farinet ou la fausse monnaie von Charles Ferdinand Ramuz, die durchaus kriminelle Lebensgeschichte eines Walliser Rebellen, sondern auch der höchstwahrscheinlich allererste Krimi einer Frau in der Schweiz: La Drame de la Belle Escale von Berthe Vulliemin, die auch als Übersetzerin aus dem Amerikanischen tätig war. Der Roman spielt an der nordfranzösischen Küste und kopiert bekannte Muster der damals sehr beliebten Geschichten über Sherlock Holmes und Dr. Watson.
Das weiss ich aus Paul Otts umfangreicher, fundierter und hochinteressanter Geschichte des Schweizer Kriminalromans mit dem Titel Mord im Alpenglühen. Wer sich für den helvetischen Krimi und seine literarische wie auch gesellschaftliche Relevanz interessiert, ist gut damit beraten, sich dieses Werk sofort zu besorgen. Da erfährt man beispielsweise auch, dass Georges Simenon einen Drittel seiner literarischen Arbeit, etwa die 25 letzten Maigret-Krimis, in der Schweiz geleistet hat, nachdem er 1957 seinen Wohnsitz ins Waadtland verlegt hatte.
Es bleibt jedenfalls der begründete Verdacht, dass man im Roman Noir oder im Krimi oftmals mehr von der Verfassung und den Verwerfungen der Schweiz und ihrer Menschen erfährt als in anderen literarischen Genres.

Bleiben wir noch schnell bei Farinet: Der wird von der Obrigkeit als Falschmünzer verfolgt, doch der Witz ist, dass sein Geld wirklich aus Gold und eigentlich viel wertvoller als die staatlich geprägten Münzen ist. Er ist also ein Richtigmünzer, der das Edelmetall heimlich aus dem Berg holt. Dennoch wird er vom Staat und seinen Bütteln gnadenlos verfolgt. Farinet bricht aus dem Gefängnis aus, wird vom einfachen Volk unterstützt, scheitert dann aber an der Liebe von Joséphine, die er nicht erwidern kann. Ramuz beschreibt das alles sehr expressiv und ich kann mir gut vorstellen, dass sich den Gralshütern der Schweizer Literatur die Nackenhaare aufstellen, wenn man diesen Roman als Krimi bezeichnet.

C. F. Ramuz ist einer der Lieblingsautoren von Joseph Incardona. Der ist so eine Art Shooting Star des Roman Noir der letzten Jahre, vor allem mit seinem Buch Derrière les panneaux il ya des hommes (deutsch 2019 als Asphaltdschungel erschienen), für das er den Grand Prix de la Littérature Policière erhalten hat. Das ist so eine Art Prix Goncourt Noir und der bedeutendste Preis für Kriminalliteratur.
Ursprünglich sollte der Roman 2014 beim grossen französischen Verlag Le Seuil erscheinen, doch dann war denen der Inhalt zu brutal und sie veröffentlichten stattdessen Incardonas Fantasy-Thriller Aller simple pour Nomad Island (deutsch: One-Way-Ticket ins Paradies).
Asphaltdschungel hingegen erschien ein Jahr später bei einem kleinen Verlag und räumte dann gross ab. Der Roman wurde zu Recht umjubelt. Sein Schauplatz sind die trostlosen Raststätten entlang der französischen Autobahnen. Junge Mädchen verschwinden dort spurlos. Von Anfang an kennt man den Verbrecher, der in einer solchen Klitsche arbeitet. Dorthin kommt ein verzweifelter Vater, ein ehemaliger Gerichtsmediziner, der den Entführer seiner Tochter sucht. Und es gibt da auch einen neuen Fall: Die kleine Marie, die sich ein bisschen umgeschaut hat und nun verschwunden ist. Incardona lässt nichts aus: Strassenstrich, Brutalität, finsterste menschliche Abgründe …
One-Way-Ticket ins Paradies ist eher ein ironisch-bösartiger Psycho-Thriller. Auf der Suche nach einem geruhsamen, aber dennoch attraktiven Ferienort gelangt die recht neoliberal gesinnte Familie des Bankiers Paul auf eine einsame Insel, auf der scheinbar alle glücklich und zufrieden sind. Alle sind perfekt genormte Menschen, die wenigen Ausnahmen und Spezialfälle werden höchst effektiv beseitigt. Die beiden Romane sind im Übrigen hervorragend übersetzt von Lydia Dimitrow.

Regelmässig ins Deutsche übertragen werden auch die Bücher des 1989 in Lausanne geborenen Quentin Mouron. Seine beiden ungewöhnlichen Krimis Trois gouttes de sang et un nuage de coke (2015) und L’Age de la héroïne (2016) erschienen 2017 respektive 2019 auf Deutsch. Protagonist in beiden Romanen ist Privatdetektiv Franck, ein dekadenter Kokainschnupfer, der gerne abgedrehte katholische Mystiker des 19. Jahrhunderts zitiert. Vorbild für ihn könnte die Romanfigur Des Esseintes aus Au rebours von Joris Karl Huysmans sein, dem Erfinder der literarischen Dekadenz.
Der Dandy-Detektiv Franck kennt keine Moral und erwartet daher immer das Schlechteste von allen Menschen, womit er meistens sogar recht hat.
Mouron konstruiert in seinen Romanen eine kriminelle Versuchsanordnung, deren Regeln er dann locker unterläuft. In Drei Tropfen Blut und eine Wolke Kokain lässt er beispielsweise den ermittelnden US-Marshal an sich und seinem Job verzweifeln, weil der Tötungsfall so einfach ist und in keiner Weise etwas mit der Fantasie des armen Marshals zu tun hat.
In Heroïne geht es um eine 17jährige Kellnerin und Gelegenheitsprostituierte, die von Franck selbstverständlich bewundert und idealisiert wird. Sie ist also die Heroine, doch auch Heroin spielt eine wichtige Rolle, Mouron hat es mit den Drogen. Sein Interesse am Roman Noir besteht sicherlich nicht darin, atemlose Spannung zu erzeugen oder die Leserschaft auf einem komplizierten Weg der Ermittlung mitzunehmen. Dafür sei dem Autor schon mal aufrichtig gedankt.

Ein eher gängiger Krimi ist Le Dragon de Muveran (deutsch: Das Licht in dir ist Dunkelheit) von Marc Voltenauer. In Gryon, einem idyllischen Dorf in den Waadtländer Alpen, werden mit allerhand Bibelsprüchen und Brimborium drei Menschen getötet. Es sieht schwer nach Ritualmord aus, begangen von einem religiösen Psychopathen auf Rachefeldzug wegen in der Jugend erlittener Erniedrigung.
Der schwule Kommissar und die taffe Kommissarin aus Lausanne könnten direkt einem dieser skandinavischen Krimis entsprungen sein. Das Motiv übrigens auch. Im Dienste des Romanumfangs wird die Polizeiarbeit ziemlich zweifelhaft, um nicht zu sagen lausig, erledigt. So dauert es lange und viele Seiten, bis Kommissar und Kommissarin mittels Ausschlussverfahren endlich auf den Mörder kommen. Schlussendlich ist der Roman eine Mischung aus Psychothriller und Heimatroman, dem Sprachlust und belletristischer Gestaltungswille eher abgehen. Vielleicht liegt der Mangel aber auch an der etwas unbeholfenen Übersetzung ins Deutsche.

Playlist:

Paul Ott:
„Mord im Alpenglühen. Der Schweizer Kriminalroman – Geschichte und Gegenwart“.

Chronos Verlag, Zürich 2020, 344 Seiten, CHF 38.-, EUR 36.40

C. F. Ramuz:
«Farinet oder das falsche Geld».

Limmat Verlag, Zürich 2015, übersetzt von Hanno Helbling,
182 Seiten, CHF 28.-, EUR 22

Joseph Incardona: «Asphaltdschungel»,
Lenos Verlag, Basel 2019, 340 Seiten, CHF 29.-, EUR 22
und
«One-Way-Ticket ins Paradies«,
Lenos Verlag, Basel 2020, 310 Seiten, CHF 28.-, EUR 22

Quentin Mouron:
«Drei Tropfen Blut und eine Wolke Kokain»,

Bilger Verlag, Zürich 2017, 220 Seiten, CHF 32.-, EUR 25
und
«Heroïne»,
Bilger Verlag, Zürich 2019, 124 Seiten, CHF 26.-, EUR 19
Beide übersetzt von Barbara Heber-Schärer und Andrea Stephani.

Marc Voltenauer:
«Das Licht in dir ist Dunkelheit»,

Emons Verlag, Köln 2021, übersetzt von Franziska Weyer,
450 Seiten, CHF 26.-, EUR 18

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Kate Beaton: «Zur Seite, Kerl!»

Radfahrerin!

Lässig thront die Frau mit aufgetürmtem Haar auf ihrem Zweirad. Sie blickt aus halbgeschlossenen Lidern, eine Zigarette zwischen den Lippen, und schwingt die Beine mit den Stiefeletten, um ihr pedalloses Gefährt, eine Draisine, vorwärtszubewegen. Unter ihrem wehenden Rock blitzen Pumphosen hervor. Schockierend!
Als die frühe Form des Fahrrads von Frauen als Fortbewegungsmittel entdeckt wurde, kam das nicht bei allen gut an. Eines der von Kate Beaton aufgestöberten und in ihrem neuen Comic-Band verwendeten Bilder zeigt, wie eine flott dahinrollende Dame mit ihrem Vorderrad dasjenige eines Herrn in karierter Hose rammt, der in hohem Bogen aus dem Sattel fliegt; der Titel lautet «The awful effects of velocipeding». Kate Beaton greift das Bild auf und dreht die Szene in ihrem Sinne weiter – der Mann liegt schimpfend zu Füssen der «schrecklichen Velocipedestrienne», die ihn an ihrer qualmenden Zigarette vorbei anraunzt: «Kerl, wenn ich angefahren komme, geh zur Seite».
Das besitzt Titelreife – Zur Seite, Kerl! heisst denn auch der neue Band der kanadischen Zeichnerin und Autorin. Wie schon beim Vorgänger Obacht! Lumpenpack sind es gesammelte Strips aus dem Webcomic Hark! A Vagrant, mit dem Beaton bekannt wurde, und den es nun auch als Buch gibt.
Die Strips sind auf den ersten Blick eher simpel gezeichnet, ein wenig grob und krakelig. Aber jeder Strich sitzt! Wie sich Münder verziehen, wie Augen schauen oder Arme fuchteln – die Zeichnungen bringen Gemütszustände und Befindlichkeiten sehr pointiert zum Ausdruck.
Kate Beaton hat Geschichte studiert, besitzt ein Faible für Literatur und verbindet beides zu geistreichen und witzigen Comics. Sie nutzt ihre Kenntnisse, um Klassiker wie Sturmhöhe zu interpretieren, aber auch um historische Persönlichkeiten zu veralbern (z.B. Frédéric Chopin, Franz Liszt oder Julius Caesar) oder zu würdigen (etwa die Ärztin Sara Josephine Baker oder die Bürger- und Frauenrechtlerin Ida. B. Wells). Und bei Beaton weist die Reporterin Lois Lane den nervenden Clark Kent, der sie von der Arbeit abhält, mit den Worten zurecht: «Du ruinierst meine Karriere», und Wonder Woman sitzt frustriert an der Bar, weil sie doch für ihre inneren Werte geliebt werden möchte.

Barbara Buchholz

Kate Beaton: «Zur Seite, Kerl!».
Übersetzt von Jan Dinter, Zwerchfell-Verlag, 168 S.,
Hardcover, farbig, CHF 30.— / EUR 24

Alison Bechdel: «The Secret to Superhuman Strenght»

Zeichnerische
Superkräfte

Man sehe es ihr vielleicht nicht an, sagt das Alter Ego von Alison Bechdel im Comic, und spielt damit auf die grossen runden Brillengläser an, die eher auf einen Bücherwurm hindeuten, «but I‘m a bit of an exercise freak». In Sporthose, T-Shirt und Sneakers turnt, kickt, hantelt die kurzhaarige Figur über die ersten Seiten von The Secret to Superhuman Strenght, dem neuen Comic der Autorin und Zeichnerin Alison Bechdel (Fun Home, Wer ist hier die Mutter?), um dann eine autobiografische Reise durch sechs Jahrzehnte zu unternehmen.
Bechdel hat sich mit Augenzwinkern und philosophischer Tiefe vorgenommen, das Geheimnis von Superkräften zu ergründen. The Secret to Superhuman Strength ist einerseits Bechdels Faszination für Fitness und physische Herausforderungen gewidmet: Karate, Yoga, Radfahren, Laufen, Hometrainer, Slack Line, Gewichte – kaum ein sportlicher Trend, den Bechdel im Lauf der Jahre ausgelassen hat. Andererseits spielt der Titel auch auf Bereiche jenseits «normaler» menschlicher Sinneswahrnehmung an. Aus körperlichen Erfahrungen leitet Bechdel mentale ab und setzt sie auch mit ihrem extremen Arbeitsleben als viel beschäftigte Cartoonistin in Verbindung.
Nicht zuletzt dank der Kolorierung von Bechdels Partnerin Holly Rae Taylor besitzt der Comic trotz des Tiefgangs eine erstaunliche Leichtigkeit. Zusammen mit den detaillierten und treffenden Zeichnungen sind wunderschöne Seiten entstanden, mal weite Panoramen amerikanischer Landschaften, mal kleinteilige Szenen.
Bechdel schafft wie schon in Fun Home literarische Bezüge, indem sie zum Beispiel Leben und Ideen von Schriftsteller*innen wie William und Dorothy Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge, Ralph Waldo Emerson, Margaret Fuller, Jack Kerouac und Adrienne Rich in ihren Comic einflicht. Sie nimmt zudem Bezug auf ihre früheren Bücher, deren Lektüre ist aber nicht Voraussetzung, um The Secret to Superhuman Strength mit Gewinn zu lesen, mit grossem Genuss gar, bis hin zum versöhnlichen Ende, das sich vielleicht als altersweise bezeichnen liesse, wirkte Bechdel in ihren Zeichnungen wie auch auf ihrem Autorinnenfoto nicht so alterslos.

Barbara Buchholz

Alison Bechdel: «The Secret to Superhuman Strenght».
Houghton Mifflin Harcourt, Boston/New York 2021, 240 S.,
Hardcover, farbig, CHF 22.— / EUR 20

Lee Lai: «Steinfrucht»

Heimtückische Steinfrüchte

Ein erster Konflikt in der neuen Beziehung – da Ray Nektarinen nicht kennt, kauft ihr Bron welche, vergisst jedoch, ihrer neuen Freundin zu sagen, dass es eine Steinfrucht ist, was Ray einen abgebrochenen Zahn beschert. Nicht zufällig beginnt Lee Lais Comic-Debüt mit diesem Vorfall zu Beginn der Beziehung zwischen Ray und der trans*Person Bron, der bereits alles weitere in sich trägt; die psychischen Blessuren, die sich die beiden gegenseitig zufügen, die Fragilität von Beziehungen, das Verletzende, das unter der Oberfläche lauert.
Bron leidet unter Depressionen, auch weil sie mit ihrer christlichen Familie gebrochen hat, die mit Brons sexueller Identität nicht zurechtkam: „Alle haben sich echt angestrengt, sie davon zu überzeugen, dass sie gar nicht trans* sei und nur Jesus um Vergebung bitten sollte.“ Im Laufe des Comics wird Bron Ray verlassen und zu ihrer Familie zurückkehren, um anzufangen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Ray dagegen leidet unter der Beziehung zu ihrer Schwester Amanda, die von Sprachlosigkeit geprägt ist. Ray ist sicher, dass sie sich daher zu Bron hingezogen fühlte: „Anfangs verband Bron und mich das Gefühl, einsam zu sein. Das Verhältnis zu meiner Mum war hinüber, mein Dad tot und Amanda lebte mit Nessie und dieser Flachzange Dave.“ Die „Flachzange Dave“ hat Amanda und die gemeinsame Tochter Nessie mittlerweile verlassen, Ray und Bron unterstützen die alleinerziehende Mutter nach der Trennung, indem sie ihr zwei Nachmittage pro Woche die sechsjährige Nichte abnehmen. In ihrem Umgang mit dem Kind, so zeigt der Comic, schaffen es die beiden, ihre Verletzungen, unter denen sie im Alltag leiden, zu vergessen und über sich selbst hinauszuwachsen: Alle verwandeln sich in verspielte Tiere, während sie im Park herumtoben, sie grinsen, lachen und spielen im Schlamm.
Steinfrucht ist durchzogen von einer Traurigkeit, die sich sowohl in den Dialogen wiederfindet als auch in den schwarzweissen Zeichnungen, denen lediglich ein verwaschenes Blaugrau als Farbe zugefügt ist, das den Hintergründen zusätzlich eine melancholische Note gibt. Alle Personen sehnen sich nach einer Klärung der Beziehungen untereinander, finden aber selten die richtigen Worte. In der süssen weichen Frucht liegt ein harter Kern verborgen, der verletzen kann.

Jonas Engelmann

Lee Lai: «Steinfrucht».
avant-verlag 2021, 232 S.,
Hardcover, farbig, CHF 39.90 / EUR 28

Guy Delisle: «Lehrjahre»

Delisle in der
Papierfabrik

„Ich verschlang Tardi, Moebius, Comès, Rochette, Lauzier, Gotlib und viele andere“, erinnert sich Guy Delisle fast 40 Jahre später an seine Besuche in der Comic-Abteilung einer neu eröffneten Bibliothek in Québec, „das sollte auf Jahre das Fundament meines Kunstempfindens bilden.“ Nächtelang sitzt der jugendliche Delisle im Keller seines Elternhauses und zeichnet, imitiert Stile, übt Perspektiven und Panel-Aufteilung. Stilistisch hat der 1966 geborene kanadische Comic-Zeichner zwar mittlerweile eine sehr eigene Form von detaillierten Architektur- und Landschaftszeichnungen und
cartoonistischen Figuren gefunden, seine „Lehrjahre“ Anfang der Achtziger waren für den Pubertierenden jedoch so zentral, dass er ihnen seine aktuelle autobiografische Arbeit gewidmet hat. Die Entdeckung der Welt des Comics spielt darin allerdings nur eine – wenn auch nicht unbedeutende – Nebenrolle. Zentraler sind seine ersten Berührungen mit der Arbeitswelt in Form eines Aushilfsjobs in einer Papierfabrik, in der er drei Sommer verbringt. Wie eng für ihn diese beiden neuen Erfahrungen – Comic und Arbeitswelt – dabei zusammenhängen, zeigt Delisle, wenn er innerhalb weniger Seiten seine Entdeckungen in der Comic-Bibliothek, die Zulassung zu einem Animationsfilmstudium in Toronto, die Schönheit der Architektur der Papierfabrik und den Lärm in den dortigen Hallen beschreibt. Die Fabrik eröffnete eine neue Welt für den Jugendlichen, der sich von seiner Familie, seinen Freunden und auch sich selbst entfremdet fühlte, eine Welt, in der er nicht über sein Verhältnis zu seiner Umwelt nachdenken, sondern lediglich funktionieren musste.
Wie bereits Delisles frühere Comic-Reportagen ist Lehrjahre geprägt vom offenen, leicht naiven Blick des Zeichners, der sich auf eine neue Umgebung einlässt und versucht, sie durch Bilder zu erschliessen. Die Fabrik ist eine Welt ohne Frauen, voller Schweiss und sexistischer Witze, aber auch eine Welt, die geprägt ist von Klassensolidarität und gewerkschaftlicher Organisation. Man lernt mit Delisle die Handgriffe zum Beherrschen der Maschinen, die Gefahren der tonnenschweren Walzen und Rollen und die kleinen Fluchten der Arbeiter kennen, die sich zur Erholung in schalldichte Kabinen zurückziehen können, in denen die ganze Nacht ein Fernseher läuft. Subtile Veränderungen deuten sich bereits damals an: Ein Holzstapel, der die hohe Mauer einst überragt hatte, schrumpft von Jahr zu Jahr, vorbei ist die Ära der Flösser; erste Computerprogramme werden Teil des Arbeitsalltags. Die starke und fest verwurzelte Gewerkschaft, die Anfang der Achtziger noch die Arbeitsbedingungen zugunsten der Arbeiter aushandeln konnte, existiert nicht mehr. Der oft auch romantische Blick von Guy Delisle auf die Fabrikkultur würde heute wohl noch ernüchternder ausfallen.

Jonas Engelmann

Guy Delisle: «Lehrjahre».
Reprodukt 2021, 144 S.,
Softcover, farbig, CHF 28.- / EUR 20


Gou Tanabe: «H.P. Lovecrafts ....»

Der Horror aus den
Tiefen des Kosmos


H.P. Lovecraft ist ein Klassiker des literarischen Grauens, viele Comic-Zeichner liessen sich schon von ihm inspirieren, von Alberto Breccia über Reinhard Kleist bis Erik Kriek, obwohl sein metaphysisches Entsetzen nur schwer in Bilder zu fassen ist. Dieser Herausforderung stellt sich auch der Japaner Gou Tanabe, seit 2007 legt er zahlreiche Lovecraft-Adaptionen vor, die nun nach und nach auf Deutsch erscheinen.
Zu Lebzeiten war Howard Philips Lovecraft (1890-1937) höchstens als Autor für Pulpmagazine geduldet, doch nach seinem Tod entwickelte sich ein wahrer Kult um seinen Kosmos des Schreckens. Der phantastische Horror, der seine Stories tränkt, ist mit nichts zu vergleichen, er ist metaphysisch. Monster und Special Effects des Genres, aber auch Psychologie scherten Lovecraft nur wenig, ihn reizte das, was er selber als «cosmic horror» bezeichnete – der Mensch lebt in einem ihm gegenüber absolut gleichgültigen Universum, das von uralten Mächten aus den Tiefen des Weltalls beherrscht wird. Damit schuf er eine regelrechte Mythologie rund um Ctulhu und die „Grossen Alten“. Der Mensch, der auf der Suche nach seiner Rolle und Verortung im Kosmos das Unglück hat, einen Blick auf diese Wesen – oder auch nur ihre Spuren – zu erhaschen, verfällt unweigerlich dem Wahnsinn.
In seinen Adaptionen – etwa im magistralen Berge des Wahnsinns, in Der Schatten aus der Zeit oder Ctulhus Ruf – bleibt Gou Tanabe nahe an den Vorlagen. Zeichnerisch unterläuft er indes viele Erwartungen, die man an Horror-Comics haben mag. Seine Zeichnungen sind realistisch und detailreich, kühl und analytisch. Er geht von einer Realität aus, die die Protagonisten – Wissenschaftler oder Forscher in den USA, der Antarktis oder der australischen Wüste – Schritt um Schritt verlassen, um in das Unerklärliche einzutauchen. Die eigentliche Handlung ist sekundär (deshalb an dieser Stelle keine Zusammenfassungen) – es geht um die Erfahrung des Geschehens und darum, wie die Protagonisten, im vergeblichen Versuch, das Unerklärliche zu erfassen, Stufe um Stufe tiefer in Schrecken und Wahnsinn stolpern. Das spiegelt sich bei Tanabe in der Körpersprache, in der Gestik, in der Mimik. Deshalb sind seine Adaptionen dort am stärksten, wo er in diesen – zumeist in der ersten Person erzählten – Stories weitgehend auf Text verzichtet und seinen Blick konsequent auf den Protagonisten richtet. So vermittelt Tanabe einen stimmigen Eindruck von der klaustrophobischen Atmosphäre und dem eisigen Schweigen in Lovecrafts Kosmos. Wie in allen Horrorgeschichten ist es die Leserschaft selbst, die sich in Angst und Schrecken versetzt. Lovecraft war der wahre Meister dieser Kunst, Tanabe sein begabter Schüler.

Christian Gasser

Gou Tanabe: «H.P. Lovecrafts Ctulhus Ruf».
Aus dem Japanischen von Jens Ossa,
Carlsen Verlag, 280 S., Softcover, s/w,
CHF 25.90 / EUR 18

Gou Tanabe: «H.P. Lovecrafts Berge des Wahnsinns».
Aus dem Japanischen von Jens Ossa, zwei Bände,
Carlsen Verlag, je 320 S., Softcover, s/w,
CHF 25.90 / EUR 18

Gou Tanabe: «H.P. Lovecrafts Der Schatten aus der Zeit».
Aus dem Japanischen von Jens Ossa,
Carlsen Verlag, 368 S., Softcover, s/w,
CHF 30.90 / EUR 22

Frederik Peeters: «Oleg»

Attraktive
Schaffenskrise

Stecken Autor*innen in einer Schaffenskrise, verarbeiten sie diese in ihrem nächsten Werk. Das ist legitim, für das Publikum indes oft uninteressant. Frederik Peeters Oleg könnte diesem Genre zugerechnet werden, wäre es nicht so brillant, vielschichtig und ebenso gekonnt erzählt wie virtuos gezeichnet.
Zwanzig Jahre nach Blaue Pillen legt Frederik Peeters – in Frankreich ein Star, hierzulande immer noch ein Geheimtipp – eine zweite autobiografische Graphic Novel vor. Oleg ist ganz offensichtlich Peeters Double, sieht er doch aus wie Peeters und ist wie dieser ein Genfer Comic-Zeichner.
Auf der Suche nach einem neuen Projekt trudelt Oleg nach dem überwältigenden Erfolg seines letzten Comics in eine Krise, Ideen hat er zwar zuhauf, aber keine überzeugt ihn und vor allem seine kritische Frau so richtig, und nach wenigen Seiten zweifelt er, bricht ab und ist wieder so weit als je zuvor.
Die Schaffenskrise ist indes nur eine Ebene von Oleg. Peeters schildert auch den Alltag und die Routine des allein in seinem Atelier arbeitenden Comic-Autors, seinen Umgang mit Kolleg*innen, Leser*innen und seinem ungeduldigen Verleger. Ausserdem erlaubt ihm das Spiel mit den vielen unausgegorenen Ideen und Entwürfen Olegs immer wieder die Perspektiven zu wechseln, von der Realität in imaginäre Welten und wieder zurück zu kippen und damit mit Genres und Zeichenstilen zu spielen. In diesen Story-Fragmenten spiegelt sich auch Olegs Auseinandersetzung mit der Welt; er beklagt die Diskrepanz zwischen modernen Kommunikationsmitteln und den reaktionären Ideen, die sie verbreiten, belächelt von seiner Tochter ereifert er sich über die angebliche Oberflächlichkeit der Jugend und ihren paradoxen Kult des Authentischen. Er skizziert ein düsteres Bild unserer Orientierungslosigkeit angesichts der titanischen Herausforderungen, die vor uns stehen …

Dabei wird klar, dass Olegs Krise nicht nur künstlerisch ist. Er wird älter, die Welt bewegt sich rascher als er, er wird immer mehr zum Griesgram, der alles Moderne ablehnt – und den Alltag ohne die Unterstützung seiner Tochter und seiner Frau kaum mehr bewältigen könnte.

Das erzählt Frederik Peeters mit viel Witz, Selbstironie und Melancholie, mit etwas Bitterkeit und satirischer Boshaftigkeit. Oleg ist ein von lauter Ideen, Einfällen, klugen Gedanken und interessanten Verknüpfungen überbordendes, und auch visuell eindrückliches Buch.

Christian Gasser

Frederik Peeters: «Oleg».
Edition Atrabile, Genf, 184 S.,
Softcover, s/w, CHF 23.– / EUR 18

Sybille Titeux de la Croix, Amazing Ameziane: «1984. Nach George Orwell»
Jean-Christophe Derrien, Rémi Torregrossa: «1984. Nach George Orwell»


Forever
Big Brother

1984 – längst ist die Jahreszahl zur Chiffre geworden, die für die Macht des totalitären Staates steht. «Big Brother is watching you», die Schlüsselparole aus George Orwells dystopischem Roman, wird immer gerne zitiert, wenn Politiker*innen die vorsorgliche Überwachung der Bürger*innen vorantreiben oder kommerzielle Datensammler sich in die Privatsphäre einmischen. Orwells Roman vermittelt gültige Einsichten, wie die totale Kontrolle über Wahrheit, Vergangenheit und Verhalten zu einer trostlosen Welt ohne Würde und Entfaltung führt. Was übrigbleibt, ist eine Welt, in der die Wahrheit nicht den Fakten entspricht, sondern einer Fiktion. In diesem Jahr ist ein halbes Dutzend Neuübersetzungen ins Deutsche erschienen, dazu eine vom deutschen Comic-Zeichner Reinhard Kleist illustrierte Ausgabe sowie zwei Comic-Adaptionen: Knesebeck publiziert die Interpretation von Jean-Christophe Derrien (Szenario) und Rémi Torregrossa (Zeichnung), Splitter hat die Version von Sybille Titeux de la Croix (Szenario) und Amazing Ameziane (Zeichnung) aufgelegt. Anders als die Vor- und Nachworte der Romanausgaben verzichten beide Comics darauf, Bezüge zur Gegenwart herzustellen. Beide Adaptionen spielen in Welten, deren Mode, Architektur und Technologie an die 1940er-Jahre erinnert und die zugleich zeitlos erscheinen. Bei Titeux de la Croix und Amazing Ameziane trägt der Grosse Bruder deutlich Züge des kommunistischen Diktators Josef Stalin.
Wo Rémi Torregrossa in der Tradition der franko-belgischen bande dessinée verweilt, lässt Amazing Ameziane den Einfluss amerikanischer Zeichner wie Frank Miller oder Bill Sienkiewicz erkennen. Während Titeux de la Croix nahe an der Romanvorlage bleibt, und ihr Text recht viel Platz einnimmt, drücken Derrien und Torregrossa Orwells Schlüsselbotschaften primär visuell aus. Ihre Adaption überzeugt durch kluge Farbgebung – wo Hoffnung und Liebe keimen statt Zwang und Hass, werden die Panels farbig, sonst bleibt das Album grau, schwarz und weiss. Zwischen Grossaufnahmen der Masse gibt es Panels, die einzelne Charaktere isolieren und andeuten, wie individuelles Denken erdrückt wird. Bei Amazing Ameziane zoomt die fiktive Kamera direkt auf die Gesichter, zeigt Innenräume aus der Vogelperspektive und macht klar, dass sich nichts dem Blick des Grossen Bruders entziehen kann. Beide Adaptionen erzeugen eine beklemmend-trostlose Stimmung, in der jegliche Individualität zugunsten der Pseudo-Erlösung unter dem Schirm des Grossen Bruders verschwindet – und doch können beide nicht verleugnen, dass man sie vor allem darum liest, weil Orwells Roman weltbekannt ist.

Florian Meyer

Sybille Titeux de la Croix, Amazing Ameziane: «1984. Nach George Orwell».
Splitter, 232 S., Hardcover, farbig,
CHF 39.90 / EUR 29,80

Jean-Christophe Derrien, Rémi Torregrossa: «1984. Nach George Orwell».
Knesebeck, 128 S., Hardcover, farbig,
CHF 31.90 / EUR 22


Hélène Aldeguer: «Ce qui nous sépare»

Expats und
Immigrant*innen

Bilal ist Tunesier. Dank eines Stipendiums studiert er in Paris, schreibt an seiner Doktorarbeit, und ist im Alltag gut eingebunden. Bilal sieht die Möglichkeiten, die sich in Europa bieten, und er weiss, welche Chancen ihm seine Ausbildung eröffnet. Andererseits erlebt er fast täglich die Gräben und Grenzen, die sich zwischen den Menschen je nach Herkunft auftun, und er spürt, dass er als Nordafrikaner in Frankreich kein vollständig akzeptiertes Mitglied der Gesellschaft ist. Das wird zum Beispiel dann offensichtlich, wenn er stunden- bis tagelang anstehen muss, um sein Visum zu erneuern. Oft sind es kleine, unbedachte Bemerkungen, die ihn spüren lassen, wie gross die Distanz zwischen Europäern und Nordafrikanern ist. Weshalb sind Franzosen, die in Dubai arbeiten, Expats, Tunesier jedoch, die in Paris arbeiten, Immigrant*innen? «Für euch bedeutet eine Grenze ein neues Foto auf Instagram, für uns jedoch ist sie ein neues Leben», sagt Bilal zu seinen französischen Mitstudierenden, und erinnert sie daran, dass für Menschen wie ihn – mit seinen beschränkten finanziellen Möglichkeiten und seinem Aufenthaltsstatus – das Reisen keine garantierte Freiheit ist.
Seiner Schwester Amira ist es nicht vergönnt, in Frankreich zu studieren. Mit Sorge beobachtet Bilal, wie die Unruhen in seiner Heimat zunehmen. Als sein bester Freund bei der Überfahrt nach Europa im Mittelmeer umkommt und ihn seine französische Freundin Léa nicht ihren Eltern vorstellen will, droht er an der Situation zu zerbrechen. Bilal ist der Protagonist in Hélène Aldeguers Graphic Novel Ce qui nous sépare (Was uns trennt). Aldeguer ist eine Comic- Zeichnerin, die gerne politische und soziale Themen aufgreift, schon in ihrem vorherigen Album hat sie sich mit der Desillusionierung junger Tunesier*innen nach dem Arabischen Frühling auseinandergesetzt. Im aktuellen Album verzichtet sie auf Exkurse über französische Migrationspolitik, islamistischen Terror oder die Europäische Flüchtlingskrise. Sie zeigt vielmehr, wie die «grosse Politik» das Leben einzelner Menschen beeinflusst. Anhand paradigmatischer Situationen schält sie die feinen Unterschiede heraus, die eine Verständigung zwischen Menschen aus Nordafrika und Europa erschweren. Aldeguer beschönigt nichts und spitzt nichts zu, es sind die Feinheiten und Nuancen der Dialoge, die Ce qui nous sépare lesenswert machen. Ihre reduzierten, dezent kolorierten Zeichnungen verzichten auf jegliche Schnörkel und unterstützen die aufs Wesentliche konzentrierte Erzählweise sehr gut. Ce qui nous sépare ist ein nachdenkliches und versöhnliches Album, das einlädt, genauer hinzuschauen und achtsam zu bleiben.

Florian Meyer

Hélène Aldeguer: «Ce qui nous sépare».
Futuropolis, 104 S., Hardcover, farbig,
CHF 30.80 / EUR 18

Barry Windsor-Smith: «Monsters»

Deformierter
Körper,
beschädigter Geist

Monsters, Barry Windsor-Smiths neue, extrem umfangreiche Graphic Novel im Riesenformat, handelt nur vordergründig von Genmanipulationen am Menschen – ein Standard-Thema in Superhelden-Comics, wurden doch Spider-Man, die Fantastischen Vier, die X-Men und viele andere Charaktere durch unerwartete (und oft ungewollte) Eingriffe in ihre vormals normalen menschlichen Körper zu «Wunderwesen» gemacht. Als Ausgangspunkt verwendet Smith die ebenfalls bekannte Formel von Regierungsexperimenten an menschlichen Subjekten, trotzdem ist Monsters alles andere als ein Standard-Superhelden-Comic. Ich will nicht zu viel verraten, denn Monsters ist voller Überraschungen; wer aber auf der Suche nach einer typischen Action-Helden-Fantasie ist, wird mit diesem Fantagraphics-Buch schlecht bedient werden.
Obwohl die Hauptfigur des Buches, Bobby Bailey, tatsächlich eine monströse Mutation ist, gilt Smiths Hauptinteresse nicht der körperlichen Verwandlung. Baileys deformierter Körper bleibt meist ein Randthema der Erzählung, während sein beschädigter Geist im Mittelpunkt steht. Bailey ist also nicht das Haupt-monster in dieser Geschichte: Der Plural des Buchtitels, Monsters, gibt uns einen Hinweis darauf, wohin Smith zielt. Die Story erstreckt sich über drei Jahrzehnte, von den 1940er- bis zu den 1960er-Jahren, und zeigt, wie Lebensumstände und die Art, wie wir miteinander umgehen, uns innerlich dramatisch verändern können, unabhängig von unserer äusserlichen Erscheinung. Die anderen Hauptfiguren des Buches (Bobbys Mutter und Vater, ein deutscher Wissenschaftler und zwei gewöhnliche Soldaten, deren Leben sich mit dem von Bailey kreuzen) machen allesamt tiefgreifende psychologische Veränderungen durch, mit tragischen Konsequenzen für sich selbst und die anderen.
Trotz seiner Wurzeln in Superhelden-Klischees ist Smiths Erzählung subtil und raffiniert, erforscht Psychologie, Politik, Familiendrama, die Zerbrechlichkeit und Wandelbarkeit unserer Körper und Seelen und auch Konzepte des Lebens nach dem Tod. Die Geschichte springt in der Zeit hin und her, ein grosser Teil wird durch Tagebücher und Briefe erzählt. Die Tatsache, dass die Geschichte des Buches in den 1960er-Jahren endet, gerade als Marvel die Superhelden-Comics in einer Weise neu erfand (was die zeitgenössische Populärkultur heute als selbstverständlich ansieht), ist vielleicht Smiths clevere Einladung an uns, mit ihm zusammen das Genre, dem er sein Lebenswerk gewidmet hat, zu dekonstruieren, .
Auch die DNS des Buches selbst ist eine seltsame Mutation. Smith entwickelte das Konzept in den 1980er-Jahren und schlug Marvel das Projekt als Hulk-Geschichte vor. Marvel lehnte ab (was man durchaus nachvollziehen kann), obwohl einige Schlüsselideen eindeutig Weapon X, Smiths einflussreiche Nacherzählung von Wolverines Ursprungsgeschichte in den 1990er-Jahren, beeinflussten. Zum Glück konnte Smith während all dieser Jahrzehnte nicht von Monsters lassen, und die Veröffentlichung des vollständigen Buches ist ein Geschenk, auf das ich lange gewartet habe.
Bleibt noch zu sagen, dass die Tuschearbeiten in diesem Buch atemberaubend schön sind. Selbst wer das Buch nicht lesen mag, sollte es durchblättern, nur um Smiths Meisterhand in Layout, Komposition und Schraffur zu sehen. Der Zeichner hat einen weiten Weg zurückgelegt von seinen frühen unbeholfenen, Jack Kirby imitierenden Superhelden-Comics und seinen präraffaelitischen Adaptionen der Conan-Geschichten (so schön diese «Studio»-Arbeiten auch bleiben).
Smith ist jetzt weit über 70 und in seinem fünften Jahrzehnt als Comic-Zeichner; ob dieses Album Smiths letztes Comic-Werk sein wird? Monsters ist das Werk eines reifen Künstlers, der tiefgründig über das Medium Comic und seine eigene Geschichte innerhalb und ausserhalb des Comic-Mainstreams nachdenkt – zu gern würden wir sehen, was Smith sonst noch alles auf Lager hat!

Mark David Nevins

Barry Windsor-Smith: «Monsters».
Fantagraphics Books 2021, 380 S.,
Hardcover, s/w, $ 39,99

Gilbert Shelton: «Freak Brothers Gesamtausgabe # 1»

Sheltons
Exzesse

Als Gilbert Shelton 1968 wie so viele dem Ruf nach San Francisco folgte, feierte er schon kleine Erfolge mit der in den frühen 60er-Jahren gestarteten Superhelden-Persiflage Wonder Wart-Hog. In San Francisco gründete er mit anderen Zeichnern den Verlag Rip Off Press, kurz nachdem der drei Jahre jüngere Robert Crumb, den es schon ein Jahr zuvor an die Westküste verschlagen hatte, sein Magazin Zap Comix gestartet hatte. Crumb und Shelton wurden schnell zu den grössten Stars der Underground Comix der Gegenkultur. Weil sich die junge Szene unabhängig von den grossen Verlagen und Vertrieben gebildet hatte, konnten sie in Bezug auf Sex, Gewalt und Drogen ohne Rücksicht auf den Comics Code, der seit 1954 die Selbstzensur der Grossverlage zur Folge hatte, ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Mit den unter dem Ladentisch explizit an ein erwachsenes Publikum verkauften Heften brach sich die aufgestaute Kreativität Bahn. Während Crumb hochneurotisch und immer etwas distanziert zur Hippiekultur seine Sex-, Gewalt- und Drogenexzesse entfesselte, porträtierte Gilbert Shelton mit seinen Fabulous Furry Freak Brothers die Szene selbstironisch und mit sehr viel Sympathie. Von 1969 bis 1974 entstanden zahlreiche Strips und Einseiter rund um die drei WG-Bewohner Fat Freddy (und seine Katze, die später ein Spin-off erhielt), Freewheelin› Franklin und Phineas Phreak. 1975 erschien dann die erste längere Geschichte über einen selbstverständlich chaotischen Trip nach Mexico. Es folgten Seitenhiebe auf das Fifties-Revival, das sich Mitte der 70er-Jahre – angefeuert von Filmen wie American Graffiti – breit machte und die 60er-Jahre endgültig verdrängte; Geschichten über einen aus dem Ruder laufenden Trip zu einer ländlichen Kommune, den Kauf eines unbrauchbaren Stückchens Land, und in den Achtzigern dann – in Farbe – der hundertseitige Irrsinn Chaoten auf Achse. Darin widmet sich Shelton grösseren Themen als Hippie-Wohngemeinschaften und parodiert Kapitalismus, Militarismus und religiösen Fanatismus. Der erste von zwei jeweils rund 320 Seiten umfassenden Bänden lässt die Entwicklung schlüssig Revue passieren und zeigt, dass der unterdessen 81-jährige, in Frankreich lebende Shelton, der übrigens auch oft mit dem deutschen Zeichner Gerhard Seyfried zusammenarbeitete, auch heute noch etwas zur gesellschaftlichen Lage zu sagen hat.

Christian Meyer-Pröpstl

Gilbert Shelton: «Freak Brothers Gesamtausgabe # 1».
Avant-Verlag, 320 S., Hardcover, Farbe & s/w,
CHF 51.90 / EUR 39

Darwyn Cooke: «Parker - Martini Edition»

Qualitäts-Schund

«Sein Gesicht war ein Brocken Beton mit Augen aus staubigem Onyx. Sein Mund ein flüchtiger, blutleerer Strich. Seine Hände sahen aus, als hätte ein Bildhauer […] sie aus braunem Lehm geformt». Beschrieben wird hier Parker, ein abgebrühter Berufskrimineller, der seine Probleme am liebsten mit seinen blossen Händen aus der Welt schafft. Der Antiheld stammt aus der Feder des amerikanischen Krimiautors Richard Stark (eigentlich Donald Westlake). Parker ist ein Mann, der – so Westlake – aussieht wie Jack Palance in Panic in the Streets; Lee Marvin verkörperte Parker 1967 in Point Blank auf höchst eindrückliche Art.
Westlake schuf unter seinem Pseudonym zwischen 1962 und 1974 insgesamt 24 Parker-Romane, in denen es um ausgeklügelte Banküberfälle, Verrat und Rache geht. Westlake gab für unzählige Verfilmungen die Rechte her (Mis à sec, The Outfit, The Slayground, etc.), aber nie für eine Comic-Adaption, bis Darwyn Cooke sich der Figur annahm. Der inzwischen verstorbene Künstler hat sich in den 90ern einen Namen gemacht als Animator von Batman- und Superman-Zeichentrickserien und später als Zeichner und Autor für Marvel und DC. Sein stilistisches Flair für die Eleganz der 50er- und 60er-Jahre fängt das Setting von Parkers Abenteuern perfekt ein – New Yorks Häuserschluchten mit seinen Leuchtreklamen, Männer in eng geschnittenen Anzügen, schmalen Krawatten und Fedoras; Frauen, die aussehen wie Marilyn Monroe oder Grace Kelly. Im krassen Gegensatz dazu der hartgesottene Ganove Parker mit seinem kantigen Gesicht, eine grobe Version Don Drapers aus Mad Men.
Cooke adaptierte Kurzgeschichten und Romane originalgetreu, mit Tipps von Westlake. Die deutsche Ausgabe enthält Cookes Erstling The Hunter, The Man with the Getaway Face, The Outfit und The Seventh. Der Band ist aufwändig und qualitativ hochstehend produziert, doch wünschte man sich die Pulp-Stories fast lieber im billigen Taschenbuchformat.

Giovanni Peduto

Darwyn Cooke: «Parker – Martini Edition».
Schreiber & Leser, 364 S., Hardcover, farbig,
CHF 68.90 / EUR 49,80


Frederik Peeters, Pierre Oscar Lévy: «Sandburg»

Sandburgen
des Schreckens


Vielleicht haben Szenarist und Filmemacher Pierre Oscar Lévy und der Schweizer Comic-Autor Frederik Peeters (Blaue Pillen, Lupus) an den Song Castle Made of Sand gedacht, als sie an ihrem gemeinsamen Werk arbeiteten. Jimi Hendrix› musikalische Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins, und das Vergehen der Zeit überhaupt bilden die Hauptthemen des Comics Sandburg. Eine Gruppe von Menschen unterschiedlichster Herkunft treffen an einem idyllischen Strand aufeinander und freuen sich auf fröhliches Planschen im Sonnenschein. Doch die bezaubernde Bucht birgt nicht nur eine Leiche, plötzlich beginnen die Badegäste, mit rasender Geschwindigkeit zu altern. Gefangen in einem Kampf zwischen Leben und Tod können sie weder dem Strand noch den ausweglosen zwischenmenschlichen Beziehungen entkommen, die sich in diesem huis clos gebildet haben …
In der ergreifenden Geschichte über die eigene Endlichkeit bleiben die rätselhaften Geschehnisse bis ans Ende unaufgeklärt, was für einige unbefriedigend, für andere um so spannender sein kann. Hollywood-Regisseur M. Night Shyamalan (The Sixth Sense) fiel der Comic vor einiger Zeit in die Hände und diente als Vorlage für seinen neuen Film Old, in dem seine Interpretation der Story mitsamt Auflösung präsentiert wird. Der renommierte Genfer Comic-Autor Peeters nimmt es gelassen, eine schlechte Adaption werde dem Comic nicht schaden, meint er. Doch sollte der Film ein Erfolg werden, um so besser. Der Reprodukt-Verlag nimmt das Erscheinen des Films zum Anlass für eine Neuausgabe des 2010 erschienenen Buches und holt den lesenswerten Comic aus der Vergessenheit. Unterdessen arbeitet Peeters erneut mit einem Szenaristen an seiner nächsten Geschichte, einer Art europäischem Twin Peaks.

Giovanni Peduto

Frederik Peeters, Pierre Oscar Lévy: «Sandburg».
Reprodukt, 104 S., Softcover, s/w,
CHF 26.90 / EUR 18

Albert Mitringer: «Requiem»

Kalter Ritter

Wenn Tote reisen, kann es ganz schön aufregend werden, nämlich dann, wenn ihnen das Ticket für die Überquerung des Hades fehlt und sie wieder mitten in unserer Welt erwachen. Doch – die Welt sieht zwar fast aus wie immer, ist aber von allerlei Monstern bevölkert, und auf Lebende trifft man keine. Albert Mitringers Held ist ein Ritter, einst tatsächlich heldenhaft gefallen in der vordersten Schlachtlinie. Als nun eine Krähe auf seinen Kopf hüpft, erwacht der bereits skelettierte Haudegen und wundert sich nicht nur darüber, sondern auch über die Erinnerungsfetzen aus seinem Leben, die ihn zunehmend häufig und klar heimsuchen. Da er die Antwort auf die Frage nach seiner Herkunft bei der Krähe vermutet, setzt er ihr nach, was schwieriger ist als gedacht, weil sie erstens fliegen kann und er zweitens seit seiner Auferstehung von einem Ziegendämon verfolgt wird, der sich unbedingt mit dem toten Ritter Darin, der sich inzwischen an seinen Namen erinnern kann, duellieren will.
Man fühlt sich bei Mitringers zweitem Comic inhaltlich mitunter an Éric Liberges Unter Knochen erinnert. Opulent ausgestattet – inklusive Goldprägung auf dem Cover – und mit knapp 200 Seiten recht umfangreich, beeindrucken auch hier auf den ersten Blick die aufwändigen Zeichnungen – ausser in den Erinnerungsszenen, in Schwarzweiss und unglaublich detailreich ausgeführt, in den Kampfszenen ausserordentlich dynamisch wirkend. In ihrer Wildheit muss man als Leser*in mitunter sehr genau hingucken und stellenweise auch zweimal lesen, um nicht den Faden zu verlieren und den Fortgang der Handlung zu verstehen. Zwischen grosser Traurigkeit und saloppem Humor hangelt sich die Geschichte durch alle vier Jahreszeiten bis zum Ursprung des Helden.

Christian Meyer-Pröpstl

Albert Mitringer: «Requiem».
Zwerchfell, 190 S., Hardcover, s/w,
CHF 33.90 / EUR 25

Steven Appleby: «Dragman»

Trans-Held mit Superkräften

Steven Applebys Dragman ist der Superheld*innen-Comic unserer Zeit. Denn um seine Superkräfte zu erhalten, muss der Protagonist August Crimp in Frauenkleider schlüpfen. Dragman, der erste Trans-Superheld sorgt natürlich für Furore unter den Superheld*innen, deren Welt noch immer von Machos dominiert wird. Seine geheimen Kräfte hat Crimp entdeckt, als er in der Pubertät seinem Verlangen nachging, eine Strumpfhose seiner Mutter anzuziehen, und daraufhin plötzlich fliegen konnte. Ein Geheimnis, das ihn von nun an begleiten wird. Auch seiner Frau erzählt er nicht davon, um dem Idealbild eines Ehemanns und Vaters zu entsprechen. Als seine Frau zufällig von Crimps Parallelwelt erfährt, erlebt er erstmals die Akzeptanz seiner Trans-Identität. Crimp gelingt es, seine Selbstzweifel zu überwinden, und gestärkt kann er es nun mit den Macho-Superhelden aufnehmen, sich auf die Jagd nach einem Serienkiller machen und schliesslich die Seele vieler Menschen retten. Zu Recht erhielt Applebys Transhelden-Comic in diesem Jahr den Sonderpreis der Jury in Angoulême. Denn für Dragman nutzt der britische Cartoonist und Comic-Zeichner kongenial das Superhelden-Genre, um sich vielschichtig und unterhaltsam mit dem Thema sexuelle Identität auseinanderzusetzen. Dragman trat zum ersten Mal 2002 als Figur in einem Comic-Strip Applebys auf, den er für den Guardian zeichnete, inspiriert von Crossdressing, einem Fetisch, den Appleby selbst seit seiner Teenagerzeit verspürte und geheim gehalten hatte. Dragman wurde für Appleby eine Möglichkeit, seine eigenen Fantasien auf spassige Art auszuleben, und sie auch positiv zu sehen; hatte er sich doch jahrelang geschämt, jemandem davon zu erzählen. Auch in seinem Strip Captain Star, der unter anderem in der Beilage der Wochenzeitung Die Zeit erschien, gab es Figuren, die ein heimliches Leben führten. Menschen, die den Drang verspürten, sich als Pflanzen oder Fische zu verkleiden, Aliens, die sich als Kleiderbügel tarnten, oder als frustrierte Möbelstücke. Auch wenn Appleby nicht August Crimp ist, so steckt sehr viel von ihm in seiner Figur. Auch Appleby selbst gelang es schliesslich, Frau und Kindern sein Doppelleben zu erzählen, er kleidet sich seit 2007 ausschliesslich als Transfrau. Zwar haben sich die Zeiten geändert, doch bedarf es leider auch heutzutage noch einer Portion Superheldenmut, um einen solchen Schritt zu wagen.

Matthias Schneider

Steven Appleby: «Dragman».
Schaltzeit Verlag, 336 S., Hardcover, farbig,
CHF 42.– / EUR 29

Nury, Brüno: «Der Mann, der Chris Kyle erschoss»

Barbaren töten

Der Mann, der Chris Kyle erschoss von dem französischen Szenaristen- und Zeichner-Duo Nury und Brüno beruht auf wahren Begebenheiten, was ihn nur noch beunruhigender macht. Es ist eine bewegende und bedrückende Geschichte über den amerikanischen Scharfschützen Chris Kyle (1974-2013), der mit seinen 160 bestätigten Tötungen im Irak-Krieg – „bestätigt“ bedeutet, mit Zeugen – Tabellenerster in der blutigen Geschichte US-amerikanischer Kriege war. Nach eigenen Angaben hat er noch 95 weitere Menschen erschossen, diese aber ohne Zeugen.
In Interviews sprach Kyle nur von „Barbaren“, die er – mit Freude – getötet habe, denn um die Grausamkeit des Krieges zu überleben, hatte er sich entschieden, seine Opfer nicht als menschliche Wesen zu betrachten. Zurück in den USA wurde Kyle als Held gefeiert, seine Autobiografie American Sniper stand für mehrere Wochen auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Kyle wurde aber auch vehement kritisiert, Menschenverachtung und Sadismus wurden ihm vorgeworfen, insbesondere da er beschreibt, wie er sich am Anblick von verwundeten Feinden ergötzte, die um ihr Leben kämpften. Clint Eastwood setzte ihm mit dem gleichnamigen Film schliesslich ein Denkmal – Kyle wurde zum Inbegriff des amerikanischen Mythos. Mit 38 Jahren, verheiratet und mit zwei Kindern, wird er zum Vorzeigesoldaten, der weder mit Alkohol und Tabletten noch mit posttraumatischen Störungen Probleme hat. Er ist das Idealbild eines Elitesoldaten, der sich um Kriegsveteranen kümmert und einen privaten Sicherheitsdienst aufbaut, dessen Emblem ein Totenkopf ziert, der an den Punisher erinnert – Kyles Erklärung dazu: „Anders als deine Mami dir erzählt hat, ist Gewalt durchaus eine Lösung“. Kyle rühmte sich später, dass er in New Orleans nach dem verheerenden Wirbelsturm Katrina vom Dach des Superdomes aus 30 Plünderer erschossen habe. Und 2010 sollen zwei Männer versucht haben, seinen Pick-up zu stehlen, so dass ihm nichts anderes geblieben sei, als sie zu töten. Nach eigener Aussage soll das Pentagon interveniert und alles vertuscht haben. Nicht auszudenken, was aus Kyle während der Trump-Regierung geworden wäre, wenn er nicht 2013 dem Ex-Soldaten Eddie Ray Routh begegnet wäre. Rouths Soldatenkarriere ist im Vergleich zu Kyles überhaupt nicht glorreich. Routh gehört zu den schwer traumatisierten Soldaten, obwohl er in keine direkten Kampfhandlungen verwickelt war. Nach seinem Ausscheiden aus der Armee war es ihm nicht möglich, sich im zivilen Alltag zurechtzufinden. Rough wurde tabletten- und alkoholabhängig und war ständig zugedröhnt, weswegen seine Mutter schliesslich Kyle bat, ihm zu helfen. Zusammen mit seinem besten Freund nahm er Routh mit zu einer speziell für Veteranen gebauten Schiessanlage, wo Routh Kyle und dessen Freund erschoss, sich danach stellte und über den Ablauf der Tat für immer schwieg. Auch Nury und Brüno geben keine weiteren Erklärungen ab, sie halten sich an die Fakten, die sie in diesem fesselnden Comic dokumentieren, dessen Titel einen Link zu John Fords Westernklassiker Der Mann, der Liberty Valence erschoss herstellt. In dem Film fällt der berühmte Satz: „Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende.“

Matthias Schneider

Nury, Brüno: «Der Mann, der Chris Kyle erschoss».
Carlsen Verlag, 168 S., Hardcover, farbig,
CHF 34.50 / EUR 24

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Kurz
und
Gut

VON CHRISTIAN MEYER-PRÖPSTL



Pünktlich zum 75. Jubiläum von Lucky Luke erscheint – nach derjenigen von Mawil – eine weitere Hommage von Ralf König. Zarter Schmelz erinnert anspielungsreich (Brokeback Mountain …) daran, dass es schwule Westernhelden und Cowboys nicht in den Kanon des Westerns geschafft haben. Im Gegensatz zu seinen anderen Werken hält sich König mit expliziten Darstellungen zurück, und auch Lucky Luke bleibt asexuell. Doch im Kern des Heftes geht es um eine Liebesgeschichte zweier Cowboys, die gerade erst entdecken, dass auch Männer sich lieben können, ohne sich zu prügeln. Schon Ende letzten Jahres erschien mit Fackeln im Baumwollfeld von Achdé & Jul, den aktuellen Verwaltern von Morris‘ Erbe, der 99. Band der regulären Reihe. Und auch hier zeigt sich ein moderner Ansatz, der neue Aspekte in den alten Western-Kosmos einbringt. Hier sind es ein schwarzer Sheriff und der Ku-Klux-Klan, die neben Lucky Luke die Hauptrollen übernehmen. Keine Frage, auf welcher Seite unser ewig guter Held steht. In beiden Bänden vereinen sich Witz, Intelligenz und moralische Integrität, wie wir es von der Reihe seit 75 Jahren gewohnt sind.

Ralf König: «Lucky Luke
Hommage 5 – Zarter Schmelz».
Egmont Ehapa, 64 S,
Softcover, Farbe, CHF 16.90 / EUR 8,99

Achdé & Jul: «Lucky Luke
99 – Fackeln im Baumwollfeld».

Egmont Ehapa, 48 S.,
Softcover, Farbe, CHF 13.– / EUR 6,90
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Die bereits mehrfach ausgezeichnete Autorin Mariko Tamaki, Jahrgang 1975, erzählt zusammen mit der zwanzig Jahre jüngeren Zeichnerin Rosemary Valero-O‘Connell von der Beziehung zwischen Laura und ihrer Freundin Freddy. Laura Dean und wie sie immer wieder mit mir Schluss macht erzählt von Liebe und dem Ende der Liebe, von guten und von schlechten Zeiten, ohne dass sexuelle Orientierung oder ethnische Zugehörigkeit der Protagonist*innen besonders thematisiert werden. Hier geht es um junge Menschen und ihre Gefühlswelten, ihre Irrungen und Wirrungen, ganz dicht an den Figuren erzählt und in einem dezenten Manga-Stil gezeichnet.

Mariko Tamaki & Rosemary Valero-O‘Connell: «Laura Dean und wie sie immer wieder mit mir Schluss macht».
Reprodukt, 304 S.,
Softcover, s/w, CHF 33.90 / EUR 22
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Das Universum der Geheimnisvollen Städte der Belgier François Schuiten und Benoît Peeters gehört zu den Meilensteinen der Comic-Geschichte. Neben ihren ‚richtigen‘ Comics, die fantastische Geschichten von sozialen, politischen, technischen oder psychologischen Entgleisungen in einer Art Steampunk-Parallelwelt des Fin de Siècle erzählen, gibt es auch drei Sekundärbände. Nach Der Archivar erscheint nun mit Echo der Städte ein sehr schön im Stil alter Zeitungen aufgemachter Band (samt Werbung, Kleinanzeigen und grossformatigen Zeichnungen), der anhand von Artikeln aus der führenden Zeitung des Paralleluniversums ergänzende Hintergrundinformationen liefert. Eine Neuauflage des Reiseführers Führer durch die Geheimnisvollen Städte wäre ebenfalls wünschenswert, um die Reihe zu komplettieren.
Auch Moebius und seine surrealen Science- Fiction-Welten muss man nicht lange vorstellen. Der Splitter Verlag macht sich nun daran, in einer fünfbändigen Sammlung vor allem das frühe Werk seit Mitte der 70er-Jahre bis in die 80er wieder zugänglich zu machen. In toller Farb- und Druckqualität und grossem Format findet man im ersten Band die Geschichten um Arzach und Die hermetische Garage, leider fehlen frühe Kurzgeschichten wie Die Umleitung oder Major Fatal.

Schuiten/Peeters: «Echo der Städte».
Schreiber&Leser, 56 S.,
Softcover, farbig, CHF 35.90 / EUR 22,80

Moebius: «Moebius Collection 1».
Splitter, 160 S.,
Hardcover, Farbe & s/w, CHF 51.90 / EUR 35
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Till Lukat erzählt in Kondensstreifen im Kopf von seinem jugendlichen Protagonisten in klaren, schlichten Zeichnungen: Peter geht in einer mittleren Kleinstadt zur Schule, wird von den Assis gemobbt und verprügelt, rasselt mehrmals durch die Fahrprüfung, rennt seiner Freundin hinterher, die schon längst einen anderen hat, und vernachlässigt dafür seine beste Freundin, die im Rollstuhl sitzt. Alltag in der Ödnis der Provinz – und dann auch noch der Schlamassel mit der Pubertät. Lukat beobachtet unaufgeregt einen lethargischen, von allen Anforderungen des Alltags überforderten Jungen

Till Lukat: «Kondensstreifen im Kopf».
avant-verlag, 152 S.,
Hardcover, zweifarbig, CHF 35.90 / EUR 25
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Vasja, dein Opa erzählt vom Schicksal einer rumänischen Familie. Als sogenannte Volksfeinde werden sie nach Russland deportiert und leben fortan unter schwierigsten Bedingungen, nahe am Polarkreis. Anna Rakhmanko, Enkelin eines der Vertriebenen, liess sich die Geschichte von ihrer Tante erzählen, Mikkel Sommer setzte sie in groben Zeichnungen um, die mitunter an Holzschnitte erinnern.

Anna Rakhmanko & Mikkel Sommer: «Vasja, dein Opa».
Rotopol, 104 S.,
Softcover, zweifarbig, CHF 27.90 / EUR 18
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Im Agitprop-Stil der Siebzigerjahre erzählt Wauter Mannaerts von der elfjährigen Yasmina, die liebend gern veganes Essen kocht. Als ein böses Unternehmen ihren Lieblingsgarten platt macht, um genveränderte Kartoffeln anzubauen, beginnt sie, sich zu wehren. Yasmina und die Kartoffelkrise ist lustig, überdreht und schildert farbenprächtig den Kampf der Kleinen gegen die Bösen. Auf 150 Seiten gibt es ordentlich Action, und zum Schluss sogar noch ein paar Rezepte zum Nachkochen!

Wauter Mannaerts: «Yasmina und die Kartoffelkrise».
Reprodukt, 160 S.,
Hardcover, farbig, CHF 26.90 / EUR 20

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BIO
GRA
FIEN

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Aude Barrio
*1985 in L’Arbresle bei Lyon. Bario lebt in Genf und ist Mitglied des Genfer Künstlerkollektivs und Verlags Hécatombe, bei dem sie, zusammen mit Barbara Meuli, bis jetzt zwei Ausgaben des Fanzines Dômo-Kômo herausgegeben hat.
odobarrio.blogspot.ch
hecatombe.ch

Hugo Baud
*1994 in Genf. Der Comic-Zeichner und Illustrator erhielt 2018 den Prix Rodolphe Töpffer de la jeune bande dessinée für Swimming with sharks (Librairie la Dispersion). Weitere Publikationen sind das 2021 im Eigenverlag erschienene Dripping und We’re Two +1 (Nieves, 2021).
Instagram@hugo_baud

Yannis La Macchia
*1985 in Genf. Der Comic-Autor ist Mitbegründer und Co-Verleger des Künstlerkollektivs und Verlags Hécatombe. Yannis hat seit 2004 unzählige Comics publiziert, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und hat etliche Förderstipendien erhalten, zuletzt 2018 den Prix du dessin der Urheber*innenrechts-Gesellschaft La Scam für sein Werk Des Bâtisseurs (Atrabile, 2017).
yannislamacchia.com

Melchior Best
*1996 in Genf. Der Autor und Zeichner gewann 2020 den Prix Rodolphe Töpffer de la jeune bande dessinée für sein Werk Au creux de la paume (Édition AGPI, 2021).

Melvyn Frash
*1996 in Genf, als Melvyn Fracheboud. Er lebt und arbeitet als Autor und Illustrator in Genf.
Instagram@princecoquet
Instagram@crocs_collectif

Jehan Khodl
*1994 in Genf, wo er heute als Illustrator arbeitet. Er gewann 2017 den 3. Preis beim BDFIL-Wettbewerb in der Kategorie Neue Talente und wurde 2015 und 2018 für den Töpffer-Preis nominiert. Seine aktuellen Publikationen sind ein Buch über die Geschichte der Gemeinde von Plan les Ouates und ein Buch (mit CD) für Kinder Le petit Bal – Saska.
jehan.khodl.com

Barbara Meuli
*1988 in La Chaux-de-Fonds. Meuli arbeitet als Künstlerin und Comic-Zeichnerin in Genf und Le Pont, sie ist Mitglied des Künstlerkollektivs und Verlags Hécatombe, wo sie, u.a. zusammen mit Aude Bario, bisher zwei Ausgaben des Fanzines Dômo-Kômo herausgegeben hat. Mit dem im selben Verlag erschienenen Cligne-Musette (2016) gewann sie den Prix de la république et canton de Genève pour la jeune bande dessinée.
Instagram@meulibarbara

Raphaël Oesterlé
*1978 in Genf. Er ist Mitarbeiter der GrEBD (Groupe d’Étude sur la Bande Dessinée) und hat an mehreren Büchern zum Thema Comics mitgearbeitet, z.B. BD-US, la bande dessinée américaine vue par l’Europe und Vivement Jeudi ! Analyse des récits en bande dessinée dans les magazines pour la jeunesse (1946-1959), beide 2015 erschienen. Zudem war er Co-Kurator bei den Ausstellungen Bang! Die Entwicklung des Comics in Genf (2016) und bei It’s alive! La fabrique des monstres dans la BD in der Bibliothèque de la Cité (Genf, 2020). Seit 2018 ist er Dozent für Kulturgeschichte des Comics an der ESBDI (Ecole supérieure de bande dessinée et d’illustration de Genève).

Pierre Schilling
*1989 in Melbourne (Australien). Der Comic-Autor, Dozent und Webdesigner
erhielt 2020 den Prix Töpffer Genève für Sur La Road (Collection RVB, 2020). Weitere Publikationen sind: L’enquête de l’inspecteur McCullehan (Les Requins Marteaux, 2019) und Encore une enquête de l’inspecteur McCullehan: Du Rififi au Gougou Bar (Les Requins Marteaux, 2021),.
pierreschilling.cool

Vamille
*1991 als Camille Vallotton in Yverdon-les-Bains. Heute arbeitet sie in Fribourg als Comic-Autorin und Illustratorin sowie als Buchhändlerin in der Comic-Buchhandlung Bulle. 2016 wurde ihr der Prix Töpffer de la jeune bande dessinée für ihr Werk Speculum Mortis zuerkannt. Weitere Publikationen sind: Greta change le monde (Sarbacane, 2020) und Bonjour/Bonsoir (La Joie de lire, 2019).
vamille.com

Buster Yañez
*1989 als Antonio Veiras in Genf. Der lllustrator und Mitbetreiber des Siebdruckateliers Crache Papier veröffentlichte 2018 Usini comix (Hécatombe).
Instagram@busteryanez