No:142

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EDITORIAL

Die Arbeit zu dieser Ausgabe von STRAPAZIN begann bereits im Winter 2019, damals mit dem Werktitel ‹Unterwasserwelten – Dystopien und Utopien›. Dass dieses Thema im Lauf des darauffolgenden Jahres zwingender werden würde, war noch nicht absehbar; aber die Unmöglichkeit, als Binnenländer*in ans Meer zu reisen, ins Wasser zu tauchen, zwischen Felsen den Fischen, Kalmaren und Medusen hinterherzuschwimmen, zu -fliegen, den Meeresboden unter sich vorbeitreiben zu sehen, ständig Salzwasser schluckend, gab dem Thema eine ganz neue Bedeutung.
Die Schnittstellen zwischen Meer und Land zu erleben, an den Küsten, an denen sich Menschen und Meer seit Anbeginn der Zeit begegnen, das Gefühl des Tauchens, des Gleitens durchs Wasser, die überwältigenden Unterwasserpanoramen, die Träume von der Entdeckung versunkener Städte, vom Meer verschlungener Tempel, antiker Statuen und Schiffswracks – all das blieb uns coronabedingt versagt. Was blieb, war das Schwelgen in Bildern, wie zum Beispiel denen von Ernst Haeckel in Kunstformen der Natur, oder wie in Das Buch des Meeres – Tage- und Skizzenbücher grosser Seefahrer, herausgegeben von Huw Lewis-Jones. Aber nicht nur diese persönlichen Vorlieben entsprechenden, positiv konnotierten Bilder waren Teil unseres Briefings der Zeichner*innen, auch Informationen zum Raubbau an Ressourcen, zur Überfischung und Verschmutzung der Meere, zu torpedierten Kriegsschiffen oder aus Geldgier versenkten Frachtern. Und auch die vielen Frauen, Kinder und Männer, die auf ihren Schlauchbooten den Weg nach Europa nicht schafften, sollten in dieser Ausgabe von STRAPAZIN Erwähnung finden, nebst banalen alltäglichen Wassererlebnissen in öffentlichen Schwimmbädern oder in der Badewanne. Dass die Zeichner*innen neben der Faszination für Unterwasserwelten vor allem den Weg zu sehr persönlichen Fantasien gefunden haben, gründet wahrscheinlich in den tiefgreifenden Veränderungen der Geschehnisse der letzten Monate.
Sie, liebe Leserin*innen, lassen sich hoffentlich von uns in diese Welten entführen.
Roli Fischbacher und Claudio Barandun
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It’s All in the Mind!

Christian Gasser

1968 tauchten The Beatles unter. In einem gelben U-Boot. Yellow Submarine gilt heute in vielerlei Hinsicht als Klassiker und Evergreen des Animationsfilms.

Die Beatles steckten in einem Dilemma. Laut Vertrag schuldeten sie der Produktionsfirma United Artists einen dritten Film, doch verspürten sie keine grosse Lust, nach A Hard Day’s Night (1964) und Help (1965) ein weiteres Mal vor der Kamera herumzuhampeln.
Andererseits verabscheuten sie die us-­amerikanische Cartoonserie The Beatles (1965–67), so dass sie der Idee eines Animationsfilms zunächst skeptisch gegenüberstanden, zumal diese von Al Brodax, dem Produzenten eben dieser TV-Serie, ins Spiel gebracht wurde. Ein Animationsfilm hatte für John, Paul, George und Ringo freilich den unschlagbaren Vorteil, nicht selber darin auftreten zu müssen – und so gaben sie schliesslich grünes Licht.
Die Beatles stellten dem Projekt ein paar bekannte und vier unveröffentlichte Songs zur Verfügung und zogen sich nach nur zwei Besprechungen mit dem Produzenten vornehm zurück. Sie beteiligten sich weder an der Konzeption des Films noch an seinem Drehbuch, und nicht einmal ihre Stimmen sprachen sie selber ein. Das übernahmen vier Schauspieler aus Liverpool, die allerdings den Akzent, die Sprechweise, den unvergleichlichen Humor der Fab Four – ihre Wortspiele, Doppeldeutigkeiten, Sticheleien und vor allem ihre fröhliche Selbstironie – kongenial imitierten.
Im Sommer 1967 – als die Arbeit an Yellow Submarine begann – waren die Beatles ohnehin anderweitig beschäftigt: Wenige Wochen zuvor war Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band erschienen. Verständlich, dass Zeit und Interesse für die Mitwirkung an einem Zeichentrickfilm fehlten.

Umwege, Pannen und Trips
Die Story, die auf dem gleichnamigen Song basiert, ist, nicht anders als in den früheren Beatles-Streifen, denkbar schlicht und hanebüchen: Pepperland wird von den Blue Meanies angegriffen, die Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band eingekerkert. Pepperlands Bürgermeister schickt den alten Seebären Fred in einem gelben U-Boot auf die Suche nach den Beatles; diese sollen mit ihren Songs die fiesen Besatzer vertreiben. Das gelingt den Pilzköpfen denn auch nach allerhand Abenteuern, Umwegen und Pleiten unter anderem im Sea of Time, im Sea of Science, im Sea of Monsters, im Sea of Nowhere und – visuell besonders genial – im Sea of Holes.
Trotz des minimalen Engagements der Beatles verdichtet Yellow Submarine wie kein anderer Film ihren Geist, ihren erfrischend unprätentiösen Sinn für das Alberne, für Nonsense, schrägen Humor und Selbstironie. Georges oft wiederholtes Mantra «it’s all in the mind» ist der Schlüsselsatz des Films – ein Schlüsselsatz, der vordergründig für die drogengeschwängerte Entstehungszeit des Films steht, eigentlich aber aus der Goon Show stammt, einer absurden Radio-Comedy-Show der 1950er-Jahre, die auch Monty Python nachhaltig beeinflusst hat.
Ohnehin wird, dies nur als kleine Klammerbemerkung, die Bedeutung der Beatles für die britische Comedy unterschätzt. Oft wird der relativ direkte Link übersehen, der von den Beatles zu Monty Python im Allgemeinen und von Yellow Submarine zu Terry Gilliams Python-Animationen im Speziellen führt. Klammer geschlossen.

Muntere Stilbrüche von Song zu Song
Das Drehbuch, an dem mehrere Autoren arbeiteten, war bei Produktionsbeginn längst nicht vollendet; bis zum Schluss wurde an der Story gebastelt. Womöglich ist auch das ein Grund dafür, dass Yellow Submarine wirkt wie ein psychedelischer, phantasmagorischer und immer wieder in Nonsense kippender Bewusstseinsstrom. Letztlich aber ist die Story wie in den meisten Musicals nebensächlich und in erster Linie ein Vorwand, um Gassenhauer zu bebildern, in diesem Fall 18 Beatles-Songs.
Ohnehin denkt bei Yellow Submarine niemand an die Story; es ist die Bildwelt, die diesen Film zum Klassiker gemacht hat. Für Design und Look des Films waren vor allem zwei Männer verantwortlich: Der Regisseur George Dunning und der Art Director Heinz Edelmann.
Der in Toronto geborene George Dunning (1920–1979) erfuhr seine Ausbildung zum Animationsfilmer am kanadischen National Film Board bei Norman McLaren, dem bedeutendsten Avantgarde-Animationsfilmer des 20. Jahrhunderts, und hatte seit den 1940er-Jahren eine Reihe preisgekrönter Kurzfilme geschaffen.
Als eigentlicher Geniestreich entpuppte sich das Anheuern des deutschen Grafikers Heinz Edelmann (1934–2009) als Art Director. Mit ihm am Steuer des gelben U-Boots wurde aus dem Vehikel für Beatles-Songs etwas weit Unkonventionelleres und Einmaliges; statt die Musik nur zu illustrieren, verknüpfte er Bilder und Musik gleichberechtigt zu etwas Neuem.
Als entscheidend entpuppte sich auch die Idee von Charlie Jenkins (*1941), dem Verantwortlichen für die visuellen Effekte: Er schlug vor, Yellow Submarine als Sammlung von Kurzfilmen zu konzipieren, um alle paar Minuten beliebig Stil und Technik ändern zu können.

Kaleidoskop von Gegenwart und Vergangenheit
Heinz Edelmann griff neuste grafische Trends auf und verarbeitete sie zu Bildern, die die Bildsprache der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre und bis heute auch unser Bild dieser Zeit prägten und prägen.
Während heutige Betrachter*innen vor allem eine mit den späten Sechzigerjahren assoziierte Bildwelt sehen, erkannte das zeitgenössische Publikum eine doppelte Perspektive: Zum einen das visuelle Selbstverständnis seiner Zeit, zum anderen ein Heraufbeschwören der Bildwelt und der Unterhaltungskultur der vorherigen Jahrzehnte. Damit nahm der Film die leise Nostalgie für die verblichene Popkultur Grossbritanniens auf, die auch Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band durchwirkt.
Selbst das bunte, psychedelisch schrille Lucy In The Sky With Diamonds ist ein Kaleidoskop nicht nur der Gegenwart, sondern steckt voller Bezüge auf die Vergangenheit. Besonders stimmig ist das melancholische Eleanor Rigby, das die Hafenstadt Liverpool als schwarzweisse Ruine beschwört, die sich aus ihrer viktorianischen Vergangenheit zu befreien versucht. Anderswo erkennt man unschwer Verweise auf Lewis Carrolls Bilder und Reime, oder es werden die Music Halls und die schicke Mode des edwardianischen Zeitalters beschworen, anderswo das sinnes­trunkene Nachtleben der 1920er-Jahre.
Yellow Submarine bildet also nicht nur seine Zeit ab; in diesem überschäumenden Wirbel aus Farben und Formen prallen Bildwelten und kulturelle Verweise, Brüche, Widersprüche und Überraschungen aufeinander, reiben sich und verschmelzen zu einem fulminanten Feuerwerk.

Damals hip, heute klassisch
Dem Film sind Improvisation und Leidenschaft anzusehen. Das Budget (eine Million Dollar) war höchst bescheiden, die Produktionszeit von elf Monaten überaus sportlich. Damals wurden für die Produktion eines abendfüllenden Animationsfilms vier Millionen Dollar und vier Jahre budgetiert. Die rund 200 Leute, die in einer Lagerhalle im Londoner Soho am Film arbeiteten, mussten ständig Löcher stopfen, kreative (sprich billige) Lösungen finden und möglichst einfallsreich und innovativ mit den ihnen zur Verfügung stehenden Techniken (unter anderem Zeichen- und Legetrick, Rotoskopie, Collagen) spielen.
Aber auch die Freiheit, mit der Dunning, Edelmann, Jenkins und all die anderen arbeiteten, ist spürbar. Die Beatles mischten sich nicht ein, und United Artists verstand vermutlich nicht ganz, was da entstand und vertraute darauf, dass der Bandname den Film schon zum Erfolg machen würde. Nicht zuletzt ahnt man, dass das Filmteam die Beatles liebte und bewunderte und sich selber unter Druck setzte, etwas Aussergewöhnliches zu schaffen.
So entstand aus einer vertraglich bedingten Notlösung ein visuell bahnbrechendes, psychedelisches Pop-Märchen, das weit mehr ist als ein nur für seine Zeit stehendes Novelty-
Artefakt, sondern bald zum Evergreen wurde. War Yellow Submarine vor fünfzig Jahren hip, ist der Film heute ein Klassiker.

Eine Geburtsstunde des modernen Animationsfilms
Der Erfolg von Yellow Submarine in den Kinos und den Medien war ein schöner Lohn für den Stress der Entstehung. Die Kritiker*innen würdigten den Film als Versuch, aus dem Animationsfilm eine ernsthafte Kunstform zu machen. Yellow Submarine war in der Tat einer der ersten abendfüllenden Animationsfilme, der sich mit Erfolg nicht an Kinder und Familien richtete, sondern zunächst einmal an Erwachsene.

In einem Interview mit der BBC betonte der Pixar-Chef John Lasseter vor ein paar Jahren, Yellow Submarine sei ein revolutionäres Werk, das entscheidend dazu beigetragen habe, den Weg für die unglaublich vielfältige Welt des Animationsfilms zu bahnen, wie wir sie heute geniessen. Noch weiter ging der frühere Simpsons-Autor und -Produzent Josh Weinstein in einem Aufsatz zum 50. Geburtstag von Yellow Submarine – er sei die Geburtsstunde des modernen Animationsfilms gewesen, ohne ihn hätte es weder The Simpsons, noch South Park, Shrek oder Toy Story gegeben. Das ist natürlich zu kategorisch formuliert – aber Yellow Submarine war tatsächlich nicht zuletzt auch für das Publikum eine neuartige Erfahrung und ein Grund, die stereotype Gleichung zu hinterfragen, Animation sei Kinderkram.
Und die Beatles? Sie waren vom Film positiv überrascht und stellten sich, kurz bevor sie zum Meditieren nach Indien flogen, für den Cameo-Auftritt ganz am Schluss des Films zur Verfügung. Jeder präsentiert ein «Souvenir» aus Pepperland, Ringo etwa ein halbes Loch (aus dem Sea of Holes) und George einen Propeller des gelben U-Boots. Und schliesslich fordern die Fab Four das Publikum auf, gemeinsam All Together Now zu singen, um die angeblich vor dem Kino herumlungernden Blue Meanies endgültig zu vertreiben.
Paul McCartney soll allerdings mit einer gewissen Enttäuschung gestanden haben, er hätte eben doch eher einen Film im Stil Walt Disneys erwartet … Aber auch er würde wahrscheinlich nicht widersprechen, dass Yellow Submarine der mit Abstand beste Beatles-Film ist.
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DAS GESCHRIEBENE WORT

von Wolfgang Bortlik

Käpt’n Nemo, versunkene Städte und Freunde mit Flossen

Als erstes kommt einem beim Thema Unterwasserwelten der gute alte Jules Verne (1828–1905) in den Sinn; das Drehbuch dazu ist sein Roman Vingt mille lieues sous les mers, auf Deutsch Zwanzigtausend Meilen unter Meer. Der ist in zwei Bänden in den Jahren 1869/1870 erschienen und umfasst stattliche 800 Seiten. Als Verne ein paar Jahre später mit seinem Werk Reise um die Erde in 80 Tagen grossen Erfolg hatte und auch im deutschen Sprachraum Ruhm erlangte, wurden auch seine früheren Romane ganz schnell übersetzt und er ward fürderhin internationaler Bestseller-Autor. Insgesamt hat Jules Verne über 60 Romane geschrieben und gilt als Erfinder der Science Fiction. Heute scheint er ein bisschen in Vergessenheit geraten zu sein, denn von seinen Romanen sind ziemlich viele nicht mehr auf dem Buchmarkt erhältlich. Die gekürzten Versionen als Abenteuerbücher für die Jugend sind zumeist Mist.
Die Geschichte von den 20’000 Meilen unter Wasser ist schnell erzählt: Ein geheimnisvolles Ungeheuer macht die Weltmeere unsicher. Die Jagd eines amerikanischen Schiffs nach dem Monster endet mit Schiffbruch und das Helden-Triumvirat – der französische Naturwissenschaftler Aronnax, sein flämischer Diener Conseil und der kanadische Harpunier Ned Land – findet sich in einem U-Boot wieder. Dieses ist das vermeintliche Ungeheuer, und dessen Chef, der mysteriöse Kapitän Nemo, nimmt die drei mit auf eine Reise um die Welt unter Wasser.
Auf den gut 800 Seiten beider Bände des Romans taucht keine einzige Frau auf, sogar der Nautilus, das elektrische U-Boot, ist männlich.
So mussten in der dem Original gegenüber sehr freizügigen Hollywood-Verfilmung von 2007, die sogar 30’000 Meilen unter dem Meer spielt, immerhin zwei Frauenrollen ins Drehbuch geschrieben werden. Es gab mehrere aufwendige Kinofilme, der berühmteste ist derjenige von 1954 mit James Mason und Kirk Douglas, die allererste Disney-Produktion mit bekannten Schauspieler*innen.
Selbstverständlich gelangt der Nautilus auf seinen ruhelosen Reisen durch die Weltmeere auch nach Atlantis, der berühmten untergegangenen Stadt.
«Wie ein Blitz durchfuhr mich die Erkenntnis! Atlantis, die alte Hauptstadt von König Theopompes, das Atlantis Platos, dieser Kontinent, der geleugnet wird … In dieser versunkenen Landschaft ausserhalb Europas, Asiens, Libyens, jenseits der Säulen des Herkules, hatte das mächtige Volk der Atlantiden gelebt, gegen das das alte Griechenland seine ersten Kriege geführt hatte.»
Mit dem Nautilus wird im Weiteren auch der Südpol entdeckt, wo die schwarze Flagge des Käpt’n Nemo gehisst wird. Am Ende der abenteuerlichen Reise fliehen die drei unfreiwilligen Gäste des Nautilus, bevor das U-Boot samt Besatzung und Käpt’n Nemo von einem Malstrom in die Tiefe gerissen wird.
Bei der Wahl der Protagonisten und gewisser Motive scheint der knapp 20 Jahre früher erschienene Roman Moby-Dick von Herman Melville, der neben der überschaubaren Handlung auch ein Fachbuch für Walfang ist, eine Rolle zu spielen. Und auch Edgar Allan Poe mit seinem einzigen Roman Arthur Gordon Pym, 30 Jahre früher entstanden, wird hinsichtlich der Schrecken des Südpols und des Malstroms eine Quelle der Inspiration gewesen sein.
Jules Verne jedoch geht in seiner Geschichte meist recht wissenschaftlich vor. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt des Meeres wird ausgiebig, aber nicht unpoetisch vorgestellt, immer voll von überschäumender Phantasie: «Der Pottwal ist ein
widerwärtiges Tier, einer Kaulquappe ähnlicher als einem Fisch.» Was wohl Herman Melville bzw. der weisse Wal Moby-Dick dazu gesagt hätte?
Wissenschaft zu der Zeit, als Verne seine Romane schrieb, bedeutete vor allem wollüstige Sammelwut begüterter Privatforscher*innen: hemmungslose Aneignung von Artefakten aus der Antike oder von fremden Kulturen und sogenannten Naturmerkwürdigkeiten. Das Wissenschaftliche daran war dann die Kategorisierung und Katalogisierung dieser Zeugnisse sowie eine rein phänomenologische Interpretation, was manchmal recht abenteuerliche Erkennt­nisse ergab. Diese Sammlungen von reichen Privatgelehrten dienten zum Ende des 19. Jahrhunderts oftmals als Grundstock für viele naturwissenschaftliche Museen.
Es gibt in Zwanzigtausend Meilen unter Meer auch einen politischen Subtext. Dieser Käpt’n Nemo, der sich gänzlich von der Menschheit abgewandt hat und mit seinen Getreuen auf dem Nautilus eine Kunstsprache spricht, ist gar kein Menschenhasser, eher ein Rebell. Er unterstützt mit seinem schier unendlichen Vermögen die damaligen politischen Freiheitsbewegungen.
«Nicht neuer Kontinente bedarf es auf der Erde, sondern neuer Menschen.» Das sagt der ansonsten sehr geheimnisvolle und unzugängliche Nemo, und das ist ja durchaus ein politisches Programm, vor 150 Jahren wie auch heute.
Die Person und das weitere Schicksal des Kapitän Nemo wird erst in einem Folgeroman Vernes eNo: rklärt, in Die geheimnisvolle Insel von 1875. Mehr wird hier nicht verraten. Die Existenz von Atlantis war für Verne jedenfalls eine klare Sache.
Weitere berühmte untergegangene Städte sind etwa Rungholt in der Nordsee und Vineta in der Ostsee, wobei es diese beiden tatsächlich gegeben hat.
Vineta, nahe der Mündung der Oder, soll ums Jahr 1000 herum die grösste Stadt Europas gewesen sein, eine Handelsmetropole mit internationaler Einwohnerschaft. Doch weil dort «Wohlleben, Gottlosigkeit und Hochmut» geherrscht hätten, ging Vineta in einer Sturmflut unter. Soweit die übliche religiöse Interpretation von Naturkatastrophen. Aber das wird es intergalaktisch dann wohl auch mal heissen, wenn auf dem Planetchen Erde das Klima wirklich gekippt ist.
Die Stadt Rungholt an der Nordsee, im südlichen Bereich der nordfriesischen Inseln, ist im Jahre 1362 ebenfalls Opfer einer Sturmflut geworden. Zumindest in der wissenschaftlichen Welt hat die Diskussion darüber, wo Rungholt nun wirklich gelegen hat, vor gut 20 Jahren für Aufsehen gesorgt. Hans Peter Duerr, Enfant terrible der Ethnologie und ab 1975 ein paar Jahre Lehrbeauftragter an der Universität Zürich, war bekannt als Autor von Traumzeit, einem Bestseller, 1978 erschienen, mit dem er sozusagen das Irrationale wieder zurück in die Wissenschaft geholt hat. Er war mit Student*innen ins Nordsee-Watt geschippert und hatte dort Ausgrabungen gemacht, die auf einen anderen Standort Rungholts hinwiesen als bis anhin angenommen. Das gefiel der etablierten Archäologie überhaupt nicht. Duerr & Co. fanden dabei Tonscherben, die relativ eindeutig aus der minoischen Kultur Kretas stammten. Duerr nahm daraufhin an, dass es minoische Seefahrer*innen um 2000 vor Christus auf der Suche nach wertvollem Bernstein und Zinn mit ihren Schiffen bis in die Nordsee geschafft hatten und zog dann gleich auch noch eine Parallele zur mythologischen Argonautenfahrt.
In zwei dicken Büchern hat Duerr diese Entdeckungen und Deutungen geschildert, zusammenfassend weist er in seinem Essay-­Bändchen Gänge und Untergänge darauf hin. In der Wissenschaft sollte man selbstverständlich immer auf der Seite der Phantasie, des Abenteuers und der Wildnis stehen.
Neben all dem Menschenwerk, das in die Tiefen der See gestürzt und versunken, vom Wüten der Wellen vernichtet und ertränkt worden ist, wollen wir hier doch auch noch auf die eingeborenen Bewohner*innen der Ozeane hinweisen, die Lebewesen im Wasser, in diesem Falle die Fische.
Fische? Das sind doch diese stillen Gesellen, die kalten Blutes bunt im Aquarium hin- und herschwimmen, die Fleischfresser*innen, die sich vom Schweinekotelett verabschiedet haben, als Ausweichnahrung dienen – im Grossen und Ganzen eine etwas vernachlässigte Spezies. Aber Fische haben trotz des starren Blicks und des mangelnden Mienenspiels auch Gefühle, Fische können denken, Fische sind sozial, haben einen Sinn für Abenteuer, Fische besitzen eine Persönlichkeit, ein Gedächtnis und die Fähigkeit, einander selbst nach längerer Zeit als Individuen wieder zu erkennen. Und sie haben einen Gesellschaftsvertrag: Zackenbarsche etwa leisten Friedensarbeit und Putzerfische haben ein klares soziales Engagement. Das jedenfalls beschreibt der englische Verhaltensbiologie Jonathan Balcombe in seinem Buch Was Fische wissen sehr elegant und überzeugend.

Und ganz zum Schluss noch eine kleine Anmerkung: Eine der ergreifendsten Schilderungen des Todes im Wasser ist von Gottfried Keller, ganz am Ende seiner Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe, einer schicksalhaften Erzählung, die auf einer wahren Begebenheit und auf William Shakespeare beruht. Die einander von Herzen zugetanen Kinder der verfeindeten Bauernfamilien Manz und Marti, Sali und Vrenchen, gehen nach einem letzten Tanzabend ins Wasser. Aber wie! Und der letzte Satz der Novelle treibt einen dazu, wieder vermehrt Gottfried Keller zu lesen.
Und nein, lieber M., Richard Brautigans Roman Forellenfischen in Amerika passt definitiv nicht hierher. Trotzdem sei eine unbedingte Empfehlung dieses wunderbaren Buchs gestattet.

BOOKLIST

Jules Verne:
«Zwanzigtausend Meilen unter Meer»,
2 Bände, Diogenes Taschenbuch,
zusammen 800 Seiten,
je CHF 16.— / € 12

Hans Peter Duerr:
«Gänge und Untergänge»,
Suhrkamp Taschenbuch, 120 Seiten,
CHF 12.— / € 9

Jonathan Balcombe:
«Was Fische wissen. Wie sie lieben, spielen, planen: unsere Verwandten unter Wassser»,
Mare Verlag, 336 Seiten,
CHF 28.90 / € 18

Gottfried Keller:
«Romeo und Julia auf dem Dorfe»,
Reclam Universalbibliothek, 88 Seiten,
CHF 3.50 / € 2.40

Richard Brautigan:
«Forellenfischen in Amerika»,
Kein & Aber Taschenbuch, 192 Seiten,
CHF 18.— / € 12
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PFLICHT LEKTüRE


Rutu Modan: «Tunnel»

Auf der Suche nach der Bundeslade

Die israelische Comic-Künstlerin Rutu Modan ist in ihrer Heimat eine Pionierin. Sie war in den 1990er-Jahren Mitherausgeberin der israelischen Ausgabe des MAD-­Magazins und gründete das Comic-­Kollektiv mit dem Verlag Actus Tragicus. In Deutschland wurde sie bekannt mit den Comics Blutspuren und Das Erbe. Jetzt ist ihr neues Werk Tunnel auf Deutsch erschienen, von dem die Autorin sagt, es sei ihr bislang politischstes und komischstes Buch.
Das Setting passt schon mal zu dieser Aussage: Eine eigenwillige Konstellation, gewürzt mit viel trockener Situationskomik. Die israelische Archäologin Nili sucht die sagenumwobene Bundeslade, in der die zehn Gebote verwahrt sein sollen. Im Schlepptau hat sie ihren kleinen Sohn, ihr Auftraggeber ist ein Sammler, der unter anderem Geschäfte mit dem IS macht, und zu ihrem Team gehören ein israelischer Siedler samt jugendlichem Gefolge. Nili und ihr Team graben einen illegalen Tunnel unter der Mauer zum Westjordanland – und treffen dabei auf den Palästinenser Mahdi und seinen Bruder, die sich in entgegengesetzter Richtung unter der Sperranlage durchgraben wollen. Um ihre jeweilige Mission nicht zu gefährden, versuchen Nili und Mahdi sich zu arrangieren, doch der Plan fliegt ihnen bald um die Ohren.
Wie in Rutu Modans vorherigen Comics Blutspuren und Das Erbe spielt auch in Tunnel wieder eine Frau die Hauptrolle. Zwar ist die alleinerziehende, resolute und etwas verschrobene Nili ein ganz anderer Charakter als die junge Soldatin Numi in Blutspuren oder Mika, die in Das Erbe ihre Grossmutter nach Warschau begleitet. Alle drei verbindet aber die Verstrickung in ein Familiengeheimnis, die Auseinandersetzung mit einem Vermächtnis – und ein starker Wille.
Rutu Modan ist eine erklärte Anhängerin der von Hergé geprägten Ligne claire, der klaren Linie. Das ist unschwer am Strich ihrer Zeichnungen und den hellen, meist pastelligen Farben ohne Schattierungen zu erkennen. Aber die klare Linie meint nicht unbedingt nur die Zeichnungen, sondern auch eine Klarheit in der Erzählung, im Aufbau, wie der Blick durch die Anordnung von Panels und Sprech­blasen über die Seiten und durch die Geschichte geführt wird. Auf diese Weise lässt sich auch einer verwickelten Story wie dieser gut folgen – die trotz ernster Untertöne und dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts tatsächlich komisch ist.
Barbara Buchholz

Rutu Modan: «Tunnel».
Übersetzt von Markus Lemke,
Carlsen Verlag,
280 S., Hardcover, farbig,
CHF 39.90 / € 28

Mikaël Ross: «Goldjunge»

Faszinierende Farbtöne

Weil der Zeichner Mikaël Ross zunächst im französischen Sprachraum veröffentlicht hat, könnte man übersehen, dass er aus München stammt. Beim Studium in Brüssel hatte er Nicolas Wouters kennengelernt, mit dem er die Alben Lauter leben! und Totem veröffentlichte. Während es in seinem Debüt um eine Jugendfreundschaft geht, hat er mit Totem und dem nachfolgenden, von ihm gezeichneten und geschriebenen Der Umfall bereits bewiesen, dass er sich sehr empathisch auf eine kindliche, fantasievolle Welt einlassen kann. Das zeigt sich auch in seiner neuen Biografie über Ludwig van Beethoven. In fünf Kapiteln begleitet der Goldjunge Beethovens frühe Jahre von 1778 bis 1795, von seinem siebten bis zu seinem 25. Lebensjahr. Mit den an Joann Sfar und vor allem Christophe Blain erinnernden dynamischen Farbzeichnungen zwischen figürlicher Überzeichnung und akkurater Kulisse führt er den Leser schnell in die Lebenswirklichkeit des jungen, alsbald als Wunderkind gehandelten Ludwig. Aber nicht weniger Platz nimmt dessen Gedanken- und Vorstellungswelt in dem Comic ein. Ludwigs soziales Gefüge besteht aus einem aggressiven, alkoholsüchtigen Vater, der liebevollen, aber überforderten Mutter, zwei kleineren Brüdern und der immerwährenden Geldnot. Da ist aber auch Ludwigs Talent und sein Gefühl für Musik. Letzteres vermag Ross in grossartige, ausufernde Bildwelten zu fassen, mit geschwungenen, sich auftürmenden und wieder herabstürzenden Farbstrichen, die wie ein stürmisches Meer über die Protagonisten hereinstürzen.
Dramaturgisch hat Ross die biografische Perspektive stets gut im Griff. Nie hat man, wie so oft in Comic-Biografien – zuletzt beispielsweise bei der Charlie-Chaplin-Biografie von Bruno Bazile und Bernard Swysen – das Gefühl, dass wichtige Ereignisse nacheinander schlicht abgehakt werden, als befinde man sich in einem bebilderten Wikipedia-Artikel. Zwar orientiert sich natürlich auch Ross an den bekannten biografischen Daten, doch vermag er diese so schlüssig zu straffen, mithilfe von Ellipsen zu erfassen oder ineinander zu verweben, dass daraus tatsächlich eine ergreifende und lebendige Geschichte statt einer pflichterfüllenden Faktenaufzählung wird. Nicht zuletzt gelingt ihm das durch eine nachvollziehbare Figurenzeichnung, eine gute Balance aus Ernsthaftigkeit und Witz und einer immer wieder wunderbaren Visualisierung von Beethovens Erfahrungswelt – seien es seine Wahrnehmung der Musik, die Liebe zu Frauen, oder die körperlichen Leiden von der Kolik bis hin zu seinem Hörschaden, der ihn schon früh in seiner Arbeit einschränkte.
Christian Meyer-Pröpstl

Mikaël Ross: «Goldjunge».
Avant Verlag,
189 S., Hardcover, farbig,
CHF 38.90 / € 25

Henning Wagenbreth: «Rückwärtsland»

Noisnezer

Empfohlen wird Rückwärtsland für Leser*innen ab acht Jahren. Sicher zu Recht, doch in einem dem Autor dieser Besprechung bestens bekannten Haushalt findet der Papa das Buch sehr viel lustiger als der zehnjährige Sohn («Ariol ist besser»). Darüber soll hier nicht gestritten werden, doch ist mit Henning Wagenbreths Büchern die Frage nach dem Zielpublikum immer sehr heikel, und Rückwärtsland macht da keine Ausnahme.
Das Konzept ist so simpel wie bestechend. Wagenbreth erzählt kleine und grosse Geschichten rückwärts, beginnt mit dem Ende und hört mit dem Anfang auf. Ein Hcahcs-Spiel beginnt mit der ausweglosen Situation eines Königs und endet mit dem Handschlag der zwei Spieler, nachdem sie nach langem Ringen sämtliche Figuren auf die richtigen Felder des Schachbretts gestellt haben. Die Kirbaf-­Arbeiter zahlen Eintritt, um das Fabrikgelände betreten und arbeiten zu dürfen. Das Gulaschfleisch wird nach dem Nessegattim zurück in die Metzgerei gebracht, wo es zu einem Schwein zusammengebaut und mit einem Stromstoss zum Leben erweckt wird. In Llafnu wird ein schwerverletzter Mann zu einer vielbefahrenen Strasse gebracht und unter ein Auto geworfen, das seine Verletzungen heilt. Ein Land liegt in Schutt und Asche, doch zum Glück gibt›s Geirk, der das Land auf geradezu mirakulöse Weise mittels Kanonenschüssen aufbaut und schliesslich befriedet. In anderen Geschichten geht es um einen Buarknab, ein Otua, um die Brikettproduktion dank einem Nefoelhok, einen Eirettol-Schein. Und so weiter und so fort. Das ist lustig, aber auch schlau und maliziös: Die Logik alltäglicher Prozesse wird auf den Kopf gestellt, Ereignisse mit dramatischem oder tragischem Ausgang werden neutralisiert, Destruktives wird konstruktiv, aus Tod wird Leben oder, in den Worten Wagenbreths: «Liesse sich doch nur die Zeit/einfach noch mal rückwärts drehen/so als wäre nichts geschehen./Und du könntest all die Sachen/noch einmal und besser machen!»
Rückwärtsland ist eine wunderbare Lektüre; im wagenbrethschen Duktus (das heisst: streckenweise charmant-holprig) gedichtet und gereimt, und natürlich mit Zeichnungen im wagenbrethschen Stil (das heisst: wunderbar, beglückend, gross­artig) illustriert.
Die Tatsache, dass der dem Rotua dieser Noisnezer bestens bekannte Apap Rückwärtsland mehr liebt als sein Nhos, gibt jenem zu denken. Könnte es sein, dass er sich in seinem Nebel auch auf einer Rückwärtsbahn befindet und sich deshalb den literarischen Kinderfreuden annähert? Und bestenfalls die Ecnahc erhält? Also: «all die Sachen/noch einmal und besser machen». Wäre ja nicht thcelhcs …
Christian Gasser

Henning Wagenbreth: «Rückwärtsland».
Peter-Hammer-Verlag,
40 S., Hardcover, farbig,
CHF 34.90 / € 25

Fil: «Always Ultra»

Absurde Verrenkungen und Verästelungen

Fil oder Phil, wie er sich in den frühen Neunzigern nannte, ist – das hat er zuletzt oft genug auf der Bühne betont – mit seinen 53 Jahren schon im hohen Alter angekommen. Da lohnt sich eine Art Werkverzeichnis, eine Gesamtausgabe, und er scheint die Aufgabe ernst zu nehmen. Ein opulenter, drei Hardcover-Bände umfassender Schuber des Berliner Verlags Reprodukt versammelt die von 1997 bis 2015 regelmässig im Berliner Stadtmagazin Zitty publizierten Geschichten um die beiden philosophischen Prolls Didi & Stulle, sicherlich sein Hauptwerk. Seine in Jungle World erschienenen Strips Mädchenworld wurden in einem kleinen Sammelband beim Zitty-Verlag veröffentlicht, und zuletzt kam bei Reprodukt ein kleines Büchlein mit den gesammelten Geschichten von Stups & Krümel heraus. Nun erscheint mit Always Ultra abermals bei Reprodukt eine Sammlung der drei Always Ultra-­Hefte aus den 90er-Jahren. Darin versammelt sich so allerlei, vom Cartoon über den One-Pager bis zu Kurzgeschichten und Auszügen aus Pawel Tropotkin, einer nie vollendeten, auf 500 Seiten angelegten Graphic Novel. In Always Ultra findet man unzählige Arbeiten für die Zitty, u.a. den Strip Frau Henkel und Frau Schmuhl, für den seinerzeit böse Leserbriefe eingingen, die Gleichstellungsbeauftragte nahm den Strip zum Anlass, Fil 1991 zum «Chauvi des Jahres» zu küren. In dem Band macht man Bekanntschaft mit Emma Peel oder Playmo, und auch ein dickes verpickeltes Schwein namens Stinko, das offensichtlich Didi vorwegnimmt, hat einen kurzen Auftritt. Das Uferlose in Fils Kunst – sei es nun als Zeichner oder als Komiker auf der Bühne – findet man schon hier auf jeder einzelnen der punkig-krakelig gezeichneten Seiten – absurde Kombinationen unterschiedlichster Welten, abstruse Verästelungen und Verrenkungen der Stories, und hinter jedem Panel blitzt boshafte Ironie auf.
Christian Meyer-Pröpstl

Fil: «Always Ultra».
Reprodukt,
114 S., Softcover, s/w,
CHF 12.90 / € 10


Joonas Sildre: «Zwischen zwei Tönen. Aus dem Leben des Arvo Pärt»

Alles ist Klang

Als der estnische Komponist Arvo Pärt mit seiner Familie 1980 die Sowjetunion verlassen muss, verwandelt sich die Bahnhofshalle an der Grenze in einen Konzertsaal. Die Grenzbeamten spielen die von Pärt mitgeführten Tonbänder ab, da verschwindet die Welt um sie herum und alles wird zu Klang. So endet Zwischen zwei Tönen, eine Graphic Novel von Joonas Sildre über das Leben des heute wieder in Estland lebenden Komponisten: Töne werden sichtbar, bilden grosse Spiralen, die über die Zwischenräume der Panels hinausweisen, Grenzen überschreiten, wie auch Pärt mit seiner Familie auf das Überschreiten einer Landesgrenze wartet.
Joonas Sildre interessiert sich in Zwischen zwei Tönen vor allem für die Jahre im Leben von Pärt, in denen dieser sich auf der Suche nach jenem Zwischenraum befindet, einer «neuen Welt» des Klangs, wie es im Comic einmal heisst: «Der von Arvo entdeckte ‹Zweiklang› zwischen Melodie und Dreiklang ist in seinem Schaffen wie ein grosser Knall. Durch die Spannung zwischen diesen zwei Stimmen entsteht dieses Etwas, das die Werke zum Leben erweckt.» Zwischen zwei Tönen, die erste Graphic Novel in estnischer Sprache, tastet sich vorsichtig an dieses «Etwas» heran, sucht nach Bildern, in denen die Spannung von Pärts Musik zum Ausdruck kommen kann. In Bilder übersetzte Töne begleiten die Leser daher von Beginn an, der 1935 geborene Pärt saugt bereits als Kind alle Töne in sich auf, sei es das Ticken der Uhr, klassische Musik aus dem Radio, oder die Sirene beim Bombenangriff auf Tallin im Zweiten Weltkrieg. All diese Töne prägen ihn und gehen in seine Kompositionen ein, sehr zum Missfallen der Machthaber. «Das Stück dieses Schuljungen war weder sozialistisch im Inhalt noch national in der Form», kritisiert etwa 1953 ein Juror bei einem Wettbewerb den Beitrag von Pärt. In das enge Korsett des Sozialistischen Realismus will sich Pärt Zeit seines Lebens nicht zwängen, was zu immer grösseren Spannungen und schliesslich seiner Ausweisung führt.
Die inneren und äusseren Konflikte nehmen insbesondere zu, als Pärt die orthodoxe Kirche für sich entdeckt, sowohl als Glaubensgemeinschaft wie auch als Klangreservoir. So werden gregorianische Gesänge zu einer wichtigen Inspirationsquelle seiner Musik, die ansonsten von der Reduktion lebt, von der Konzentration auf das Wesentliche, eben das Zwischen zwei Tönen. «Der Mensch ist nicht Schöpfer, sondern Vermittler der Töne», davon ist Pärt überzeugt. Zum Vermittler ist auch Joonas Sildre geworden, der die Musik von Arvo Pärt einem neuen Publikum präsentiert und dabei beeindruckende Bilder geschaffen hat, die deutlich machen: Alles ist Klang.
Jonas Engelmann

Joonas Sildre: «Zwischen zwei Tönen.
Aus dem Leben des Arvo Pärt».
Voland & Quist 2021,
224 S., Hardcover,s/w,
CHF 35.— / € 28

gg: «Wie Dinge sind»

Leben heisst eine andere sein

«Ich möchte nur festhalten, wie Dinge sind,» antwortet die junge Protagonistin, als sie von einem Gemüsehändler auf der Strasse gefragt wird, ob sie Fotografin sei. Sie verbringt ihren Tag in Einsamkeit und Stille, mit Fotografieren oder Bücherlesen. Das sind kurze Pausen in ihrem jungen Leben, in dem sie sich um ihre verbitterte, kranke Mutter kümmern muss. Diese ist vor Jahren ins Land (Kanada?) eingewandert, was sie heute bereut. Wenn die junge Frau morgens in den Spiegel schaut, wenn sie liest oder mit ihrer Kamera nach einem neuen Sujet Ausschau hält, immer scheint sie auf der Suche nach einem eigenen Weg im Leben zu sein. Als sie eines Tages ein Mädchen fotografiert, das ihr ähnlich sieht, landet sie durch eine Verwechslung in deren Wohnung und erfährt, wie ein unbekümmerteres Leben sein könnte. Sie betrachtet den Reisepass mit den vielen Stempeln, ein Schnappschuss in Paris, auf dem Anrufbeantworter beklagt sich die Mutter ihrer Doppelgängerin, sie würde sich nie melden. Für einen kurzen Moment lebt die junge Frau ein eigenes Leben und übernachtet in der fremden Wohnung. In der Nacht träumt sie von Schlüsselmomenten ihrer Kindheit und ihrer Angst, von ihrer Mutter vergessen zu werden.
Wie Dinge sind der kanadischen Autorin gg ist ein Comic, der aus episodenhaften Bildsequenzen und einer monologisierenden Stimme zusammengebaut ist. Zentrales Thema ist die Angst, unbemerkt zu bleiben an einem Ort, den die Frau als Einwandererkind nicht als den ihren erkennt. Sowohl die innere Unruhe und der Drang, mit der Kamera Dinge festzuhalten, als auch ggs Stilmittel symbolisieren den Wunsch der Protagonistin, einen festen Platz in dieser Welt einzunehmen und nicht einfach zu verblassen, wie die Zeichnungen, die sich gegen Ende im Nichts auflösen.
Giovanni Peduto

gg: «Wie Dinge sind».
Avant-Verlag,
104 S., Softcover, s/w,
CHF 19.— / € 14

Ram V, Anand RK, John Pearson, Aditya Bidikar, Tom Muller. «Blue in Green»

Der halbe Schritt des suchenden Träumers


Der Erfolgsdruck in unserer Gesellschaft kann beflügeln oder belasten. Erik Dieter jedenfalls, der Protagonist der Graphic Novel Blue in Green von Autor Ram V und Zeichner Anand RK, spürt einen immensen inneren Druck. Seine Karriere als Jazz-­Musiker stockt, und er droht an seinen Erwartungen zu scheitern. Finanziell plagt ihn zwar keine Not, da er sein Geld als Saxophonlehrer an einer Musikhochschule verdient. Den Traum vom Jazz-Musiker gibt er jedoch nicht auf, obwohl ihm die Zeit davonläuft. Was also hemmt und hindert ihn an der grossen Musiker-Karriere? Als seine Mutter stirbt, weckt ihr Tod schlummernde Erinnerungen. Weshalb reagierte sie damals so heftig, als er als Kind anfing, Musik zu spielen?
Im Ort seiner Mutter begibt sich Erik Dieter auf Spurensuche, um in der Familiengeschichte die Ursachen seiner Ängste zu finden. Tief dringt er dabei in jene «unbequemen Räume» vor, die in seiner Familie «dem Schweigen vorbehalten waren». Dabei entdeckt er, dass seine Mutter ihren Vater erst sehr spät kennenlernte; nach seinem Tod änderte sie ihren Namen. Darüber sprach sie nie. Sein Grossvater war ebenfalls ein hochbegabter Jazz-Musiker. In seiner Art glich er Erik: «Er war ein schüchterner Bursche, der die ganze Zeit nur einen halben Schritt weit in der gleichen Welt war wie der Rest von uns». Erik erkennt den Grund des Erschreckens seiner Mutter, als auch er selbst Musiker werden wollte. Erleichtert gibt Erik Dieter eine Reihe gut besuchter Konzerte – doch das Glück währt nicht lange, sein Leben endet tragisch.
Eindringlich schildern die Autoren Dieters inneren Zwist, seine Zweifel und sein selbstquälerisches Hinterfragen. Messerscharf arbeiten sie heraus, wie brüchig der Pfad ins Rampenlicht sein kann und wie viel es braucht, um sich als Musiker durchzusetzen. Das macht Blue in Green zu einem intensiven Leseerlebnis. Eine beissende Satire, wie sie Noah Van Sciver unlängst auf den Literaturbetrieb verfasst hat, ist das Buch jedoch nicht. Auch bleiben die Frauen um Erik (Mutter, Schwester, Freundin) sehr skizzenhaft. Über sie erfährt man nur gerade so viel wie nötig ist, um Eriks Scheitern zu verstehen. Beeindruckend ist das Artwork von Zeichner Anand RK, Kolorist John J. Pearson und Designer Tom Muller, das an Neil Gaimans und Dave Mc Keans Signal to Noise von 1992 anschliesst und an das Design des Plattenlabels Blue Note Records erinnert.
Florian Meyer

Ram V, Anand RK, John Pearson, Aditya
Bidikar, Tom Muller. «Blue in Green».
Image Comics,
144 S., Softcover, farbig,
CHF 24.90 / € 17.99

Tillie Walden: «Auf einem Sonnenstrahl»

Direkt ins Herz

In ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Comic Pirouetten erzählte die Texanerin Tillie Walden mit sparsamem, lockerem Strich, zartem Aquarell, kräftigen Farbakzenten und luftigem Weissraum von ihrer Kindheit und Jugend, ihrem Coming-Out, ihrer Emanzipation. Walden – heute Mitte 20 – erhielt dafür 2018 einen Eisner-Award – und für ihren jüngsten Comic West, West Texas 2020 den nächsten. Nun erscheint mit Auf einem Sonnenstrahl ein früheres Werk von Walden. Ursprünglich als Webcomic veröffentlicht, war der wunderschöne Science-Fiction-Webcomic 2017 immerhin für den Eisner nominiert.
Von aussen wirkt Auf einem Sonnenstrahl geradezu kühl: Auf dem Cover blinken winzige türkisfarbene und weisse Sterne im schwarzen Weltall, ein blasses, schwarzhaariges Mädchen schaut traurig aus dem Fenster eines mit Ornamenten verzierten Raumschiffs. Doch auf den Seiten des Buchs entfaltet sich bald eine packende, emotionsgeladene Science-Fiction-Abenteuer- und Liebesgeschichte in düsteren, aber kraftvollen Farben, die direkt ins Herz trifft. Der Strich ist weich und locker, Lichteinfall und Kontraste schaffen besondere Stimmungen und die Figuren – allesamt weiblich oder queer – sind sehr feinfühlig wiedergegeben.
Mia, frisch gebackene Absolventin eines Mädcheninternats, kommt neu an Bord eines Raumschiffs namens Aktis, dessen Crew zerfallene Weltraumarchitektur restauriert und von Auftrag zu Auftrag durchs All reist. Die schüchterne Kapitänin Charlotte und ihre zupackende Frau Alma, die vorlaute Jugendliche Jules und die schweigende nonbinäre Person Elliot werden zu Mias Wahlfamilie.
Doch Mia kann ihre grosse Liebe Grace nicht vergessen, die sie im ersten Internatsjahr gefunden und abrupt verloren hat. Tillie Walden erzählt diese zurückliegende Geschichte in Zeitsprüngen und legt nach und nach offen, wie sie verknüpft ist mit dem Schicksal der gesamten Crew an Bord der Aktis (altgriechisch für «Sonnenstrahl»). Mias Suche nach Grace führt das Team schliesslich auf eine gefährliche Mission in einen fernen Teil der Galaxie, auf der jedes Mitglied mit Geistern der Vergangenheit konfrontiert wird.
Auf einem Sonnenstrahl ist nicht nur eine spannende Geschichte über das Heranwachsen und eine abenteuerliche Reise, der Comic lädt ausserdem ein, sich in immer neuen Panel-Aufteilungen, üppigen Splashpages und pointierten Dialogen in bizarren Fantasiewelten zu verlieren.
Barbara Buchholz

Tillie Walden: «Auf einem Sonnenstrahl».
Übersetzt von Barbara König,
Reprodukt,
544 S., Softcover, farbig,
CHF 42.50 / € 29

Lewis Trondheim: «Die neuen Abenteuer von Herrn Hase 2: Das verrückte Unkraut»

Fantastische Parallelwelten

Anfang der 90er-Jahre begann Lewis Trondheims Karriere, zur selben Zeit gründete er mit Gleichgesinnten wie Killoffer, David B. oder Jean-Christophe Menu den Verlag L’Association und brachte damit eine neue Generation von Zeichner*innen auf den Plan, die in den folgenden Jahrzehnten und bis heute enorm einflussreich war und ist. Trondheims Lapinot war von Anfang an dabei; bereits mit Lapinot et les carottes de Patagonie, einem 500-seitigen schwarzweissen Fantasy-Opus, das nie auf Deutsch erschienen ist, wird klar, dass Grenzen für ihn nicht gelten. Die Abenteuer von Herrn Hase – so der deutsche Titel der Reihe – beginnt 1993 mit Slaloms und endet zehn Jahre später in Wie das Leben so spielt mit dem Tod des Protagonisten. Zwischen Alltagsszenarien, die an französisches Dialogkino erinnern und die Beziehungen von Hases Clique und sein Liebesleben beleuchten, gibt es immer wieder Genre-­Ausreisser in komplett andere Szenerien – in einen Western, ein romantisches Drama im viktorianischen England, eine Fin de Siècle-­Schauergeschichte oder in magische Fantasy. Nach dem zutiefst tragischen und berührenden Ende von Herrn Hase gab es unter dem Titel Die Abenteuer von Herrn Hase einige Bände mit Nebenfiguren der Hase-Reihe. Jetzt, dreizehn Jahre später, lässt Trondheim Lapinot wiederauferstehen.
Eine Verzweiflungstat, weil Ideen fehlen? Der Versuch, an einen alten Erfolg anzuknüpfen? Weit gefehlt! Bereits im ersten Band Eine etwas bessere Welt ist der alte Esprit da – zwischen grosser Tragik und tollem Humor erzählt Trondheim von einer Parallelwelt, in der Hase noch lebt. Im Anschluss werden gleich mehrere Regeln gebrochen: 2018 hat Trondheim täglich ein Panel ohne Worte gezeichnet, zusammen ergibt das nun den zweiten Band Das verrückte Unkraut, in dem die Idee einer Parallelwelt weitergesponnen wird. Hier schlendert Hase mal wieder durch Paris, wird aber immer wieder in einen postapokalyptischen Dschungel gezogen – Gras wächst rasend schnell auf dem Bürgersteig, Menschen verschwinden, Monster erscheinen. Mal kann Hase Kontakt zu seinem Kumpel Richard herstellen und er ist im Hier und Jetzt, aber sofort überwuchert die Natur wieder die Stadt und er steht mitten zwischen Lianen auf überwucherten Plätzen. Bis Hase den Ursprung des Spuks aufdecken kann, muss er einige fantastische und turbulente Abenteuer überstehen. Dass die Geschichte nicht als Album, sondern als kleinformatiges, dickes Büchlein mit nur einem Panel pro Seite erscheint, passt zur Erstveröffentlichung im Web, wird aber pingelige Comicsammler*innen mit Formatfixierung ebenso nervös machen wie die Werke von Chris Ware.
Christian Meyer-Pröpstl

Lewis Trondheim: «Die neuen Abenteuer
von Herrn Hase 2: Das verrückte Unkraut».
Reprodukt,
368 S., Hardcover, farbig,
CHF 38.90 / € 20


N.Simsolo, D.Hé: «Alfred Hitchcock. Band 1: Der Mann aus London»

Master of Suspense

Comic-Biografien schiessen aktuell wie Pilze aus dem Boden, vor allem über Künstler*innen und Kreative, die einen starken visuellen Einfluss auf Comic-­Zeichner*innen haben. Besonders interessant ist es, wenn bei diesen Publikationen auch das Medium Comic in seiner besonderen Erzählform der «Schriftbildlichkeit» genutzt wird. So ist es eigentlich verwunderlich, dass erst jetzt eine Comic-Biografie über den Meister des Suspense erscheint, über den einmaligen Regisseur Alfred Hitchcock. Schliesslich hat er mit seiner ikonografischen Bildsprache eine solch prägende visuelle Kraft entwickelt, wie man sie leider viel zu selten im aktuellen Filmschaffen findet. Oder, wie Noel Simsolo – Regisseur, Hitchcock-­Kenner und Autor von Alfred Hitchcock. Band 1: Der Mann aus London – treffend über den englischen Regisseur sagt: «Er fängt nicht einfach nur Bilder ein, um eine Geschichte zu erzählen. Er erschafft Bilder, um eine Geschichte zu erzählen.» Gemeinsam mit dem Zeichner Dominique Hé erzählt Simsolo in zwei Bänden Hitchcocks englische bzw. amerikanische Filmperiode. Simsolo hat sein fundiertes Wissen über Hitchcock eloquent in das Szenario eingearbeitet, vor allem die zahlreichen Anekdoten über den skurrilen britischen Humor des Regisseurs, der sich in seinen Streichen widerspiegelt. Oder die ständige Auseinandersetzung mit seinem Produzenten in England, dessen Vorschläge er meist nur widerwillig umsetzte. Selbst Hitchcock-Kenner*innen werden hier noch fündig. Enttäuschend dagegen sind die Bilder von Hé. Regelrecht blass sind sie im Vergleich mit dem Szenario und konterkarieren so Hitchcocks geniale Fähigkeit, Bilder zu erschaffen, um Geschichten zu erzählen. Denn Hitchcock bediente sich nie standartisierter Bilder, die zwar auch eine Geschichte erzählen können, denen aber die Tiefe fehlt. Es ist schade, dass der Comic auf der visuellen Ebene nicht mit dem Szenario mithalten kann.
Matthias Schneider

Noel Simsolo, Dominique Hé: «Alfred Hitchcock.
Band 1: Der Mann aus London».
Splitter Verlag, 1
60 S., Hardcover, s/w,
CHF 34.90 / € 24

Andrea Serio: «Rhapsodie in Blau»

Verwurzelt in der Fremde

Italien macht sich in letzter Zeit wieder als Comic-Land bemerkbar mit Autor*innen, die aufzeigen wollen, was die Gesellschaft bewegt: Der türkisch-syrische Krieg (Zerocalcare: Kobane Calling), LGBTQ (Leo Ortolani: Cinzia) oder Antiziganismus (Davide Reviati: Dreimal Spucken). So erzählt auch der 1973 geborene Andrea Serio in Rhapsodie in Blau, einer freien Adaption von Silvia Cuttins Roman Ci sarebbe bastato, die (reale) Geschichte des jungen Andrea Goldstein. Wie er einen letzten, unbekümmerten Sommer am Meer verbringt, kurz bevor Mussolini am 18. September 1938 die Rassengesetze ankündigt und Andrea zwingt – zusammen mit vielen anderen Juden – seine geliebte Heimat zu verlassen. Er überquert den Atlantik und lässt sich im aufregenden, wilden New York der 1940er-Jahre (das New York von George Gershwins berühmter Rhapsodie) nieder, lernt sein neues Zuhause zu lieben und nennt sich nun Andrew. Doch tief in seiner alten Heimat verwurzelt, kehrt er 1944 als Soldat im Zweiten Weltkrieg zurück, um Italien vom Faschismus zu befreien.
Er sei allem voran ein Illustrator und erst an zweiter Stelle ein Comic-Autor, sagt Serio von sich selbst. Das merkt man seinen Bildern an: Ganzseitige Bilder kommen über weite Strecken mit sehr wenig Text aus. Genau genommen, ist Serio ein Landschaftsmaler, der mit Farb-, Pastell- und Wachsstiften die Emotionen seiner Figuren mittels Landschaften oder Gebäuden darstellt. Eindrücklich wird geschildert, wie Andrea sich am Tag der Verkündung der Rassengesetze von der hypnotisierten Masse entfernt und ein letztes Mal durch ein menschenleeres Triest spaziert, während Mussolinis Rede bedrohlich über den Bildern schwebt, Wort für Wort wiedergegeben. Das Meer ist unter Serios Hand zugleich sonnenerleuchtetes Ferienparadies als auch düster-­bedrohliche Kulisse bei seinen beiden
Atlantik-Überfahrten. Die Stille der Schneelandschaften, Wälder, Strassenschluchten drücken die Einsamkeit und den Kummer des Protagonisten aus. Eine Einsamkeit, die man auch aus Lorenzo Mattottis oder Edward Hoppers Werken kennt, welche Serio als Vorbilder dienen.
Der Duce fand sein verdientes grausliches Ende, doch Rhapsodie in Blau ist nicht nur die Geschichte von vergangenem Faschismus und Antisemitismus. Noch heute werden die Taten des Diktators in Andrea Serios Heimat schöngeredet. Darum war es ihm wichtig, diese Geschichte nachzuerzählen.
Giovanni Peduto

Andrea Serio: «Rhapsodie in Blau».
Schreiber & Leser,
128 S., Hardcover, farbig,
CHF 42.90 / € 27,80

Thomas Cadène, Benjamin Adam: «Soon»

Vom Leben nach der Pandemie und dem Klimawandel

Inhaltlich wie grafisch ist Soon, die Graphic Novel, die in Frankreich 2019 herauskam, ein grosser Wurf. Die Autoren Thomas Cadène und Benjamin Adam zeigen uns, wie gute Science-Fiction gleichsam wie ein Spiegel die aktuelle Lage der Welt reflektieren kann.
2151 haben elf Klimakatastrophen, eine Viruspandemie und Kriege die Menschheit dezimiert und zu einer Neuordnung der Welt geführt. Die Menschen leben in
sieben hermetisch abgesicherten, urbanen Zonen, ausserhalb derer das Land verseucht, verwüstet und verwildert ist.
Masken und Schutzanzüge gehören zur gewohnten Kleidung und intelligente Armbänder lotsen und tracken die Menschen durch den Alltag. Die freie Natur ist Sperrzone. Die Städte kennen weder Leuch­treklamen noch Verkehrsstaus, die Verschwendung von Energie und Ressourcen ist genauso verpönt wie egoistisches Handeln. Die Jahre vor 2020 gelten als Epoche der Verdrängung und der nachhaltigen Schädigung des Planeten.
In dieser Welt träumt Juri Jones davon auszubrechen, zumal er Menschen kennenlernt, die ausserhalb der Sicherheitszonen frei von Masken, Schutzanzügen und reguliertem Verhalten leben. Eigentlich ist Juri privilegiert. Seine Mutter, Simone Jones, leitet die gigantische Raumfahrtmission Soon2. Diese wird zum Exoplaneten Proxima Centauri b aufbrechen, um ihn zu besiedeln. Von dieser Reise wird Simone nie zurückkehren, während Juri auf der Erde bleibt. Darum begehrt er auf.
Soon schildert einen doppelten Abschied – zum einen jenen von Simone und Juri, zum anderen verabschieden die Autoren jene Welt, die wir aus den vergangenen 70 Jahren kennen, indem sie einen Blick auf eine Zukunft werfen, in der Ressourcenknappheit, Pandemien und Umweltkatastrophen normal sind.
Soon ist zwar kein «Corona-Comic», doch sind just die Passagen von beklemmender Aktualität, in denen die weltweite Ausbreitung eines gefährlichen Grippevirus zu Grenzschliessungen und einem Verteilkampf um Impfstoffe führt. Brillant erzählt sind die historischen Hintergründe: Panels und Sprechblasen stehen hier gleichwertig nebeneinander und schweben wie Bilder einer Ausstellung in den Weiten des Weltalls.
Die ganze Klasse von Cadène und Adam zeigt sich darin, dass Soon bei aller Bedrohlichkeit keine Schreckensvision vorstellt, sondern ein plausibles Bild eines Alltags zeichnet, in dem die Menschen trotz allem immer noch lachen, lieben und leben.
Florian Meyer

Thomas Cadène, Benjamin Adam: «Soon».
Carlsen Graphic Novel,
240 S., Hardcover, farbig,
CHF 40.90 / € 29

Sabine Rufener: «Der Wal im Garten»

Gestrandet

Sie sind die grössten Säugetiere der Welt, gleichzeitig sind sie sehr verletzlich. Wahrscheinlich hat es die Menschheit deshalb schon immer irritiert, dass diese mächtigen Tiere gar nicht aggressiv und kaum gefährlich sind. Die Rede ist natürlich von Walen. Und vielleicht ist Moby Dick auch deshalb so berühmt, weil Melvilles Kapitän Ahab den Wal zur Bedrohung hochstilisiert. Der tierische Protagonist im Bilderbuch Der Wal im Garten hingegen ist nur ein grummeliger Gast, der vor dem Fenster der kleinen Lille gestrandet ist. Von seiner Grösse lässt sie sich nicht beeindrucken, aber sie ist ziemlich sauer auf den Wal, weil er ihr Fahrrad unter sich eingeklemmt hat, so dass sie jetzt zu Fuss zur Schule gehen muss. Trotzdem freunden sich die beiden an – Lille erzählt von der Schule, der Wal von der Tiefsee und Riesenkalmaren. Richtig lustig haben es die zwei ungleichen Freunde, als es einmal mitten in der Nacht anfängt zu regnen, sie im Garten den Regenschauer geniessen und der Wal sich dabei an das Meer erinnert. Doch als er plötzlich zu schrumpfen beginnt, wird Lille wehmütig. Gleichzeitig wird der Wal immer übellauniger, denn seine Sehnsucht nach dem Meer wächst und wächst. Lille erträgt den Wal nicht mehr, und als er auf Eimergrösse geschrumpft ist, macht sie sich mit ihm auf dem Fahrrad auf den Weg an die See. Die Schweizer Illustratorin Sabine Rufener hat mit ihrem Bilderbuchdebüt eine phantastische und einfühlsame Geschichte über Freundschaft und Sehnsucht geschaffen. Für die grafische Gestaltung hat sie mit unterschiedlichen Druck- und Stempeltechniken gearbeitet und damit eine originäre Bilderwelt geschaffen. Der Wal im Garten ist ein wundervolles Bilderbuch, das den Leser, ob jung oder alt, in eine surreale Bilderwelt entführt und dabei die oft widersprüchlichen Facetten einer Freundschaft aufzeigt.
Matthias Schneider

Sabine Rufener: «Der Wal im Garten».
Kunstanstifter Verlag,
36 S., Hardcover, farbig,
CHF 31.90 / € 22


Katz und Goldt: «Ohrfeige links, Ohrfeige rechts. Flegeljahre einer Psychotherapeutin»

So! Jetzt könnse.

Max Goldt leidet schon seit Jahren an einer Schreibblockade. Sein Problem ist aber offenbar nicht, dass er zu wenige Einfälle hätte, sondern eher, dass er aufgrund der hohen Ansprüche an sich selbst Angst davor hat, sie zu Papier zu bringen. Zum Glück scheint sich das aber nicht auf seine Zusammenarbeit mit dem Zeichner Stephan Katz auszuwirken. So erscheinen die Comics der beiden weiterhin regelmässig in der Satirezeitschrift Titanic. Die ebendort zwischen 2018 und 2020 veröffentlichten Arbeiten sowie auch einige neue Einseiter finden sich im mittlerweile fünfzehnten gemeinsamen Band mit dem wunderbaren Titel Ohrfeige links, Ohrfeige rechts – Flegeljahre einer Psychotherapeutin.
Um es gleich vorwegzunehmen: Wer die Comics von Katz und Goldt liebt, wird auch diesen Band lieben. Alles ist wieder da: die absurden Situationen und genial geschliffenen Dialoge, die oft pointenlosen Geschichten, die häufig von der ursprünglichen Handlung abschweifen; die meist aufs Wesentliche reduzierten Zeichnungen, in denen es Katz gelingt, in seinem typischen, vordergründig naiven Stil seine Figuren mit wenigen Strichen viel ausdrücken zu lassen.
Dabei werden verschiedenste Phänomene der aktuellen Alltagskultur eingebracht, wie Quizfragen auf Infoscreens, Badezimmerspiegel-Selfies, LGBTQ-WCs, Bowls als neoliberales Gastrokonzept oder Drohnen (die hier den Gästen einer Kneipe Feuer geben). Auf die Corona-Pandemie wird ebenfalls Bezug genommen, wenn auch nur vereinzelt. So sinniert eine Figur über ihren derzeitigen Lieblingssatz, den sie beim Verlassen kleinerer Geschäfte mit Zugangsbeschränkung zur nächsten Wartenden sagt: «So! Jetzt könnse.»
Auch Donald Trump taucht auf, wobei Katz und Goldt – wie üblich – auch hier angenehmerweise nicht explizit politisch werden. Vielmehr geht es darum, dass das erste Wort eines seiner Tweets angeblich an den Titel eines Stücks der 1980er-Band Cocteau Twins erinnert. Wie Trump dazu mit wichtigtuerischer und selbstherrlicher Miene, erhobenem Zeigefinger und Smartphone in der anderen Hand auf einem böse blickenden, überdimensionierten Twitter-Vogel durchs Bild reitet, ist schlichtweg ganz grosse Klasse.
Auch der 15. Band von Katz und Goldt ist also ein grosser Spass. Dazu bekommt man hier auch eine Menge zu lesen, denn vor allem die doppelseitigen Geschichten sind durchaus textlastig. Nicht vergessen werden sollte auch die tolle Ausstattung – wie schon die letzten Bände kommt auch der neuste als schön aufgemachtes, übergrosses Hardcover-Album mit Leinenrücken – dieses Mal in knalligem Pink – daher.
Jan Westenfelder

Katz und Goldt: «Ohrfeige links, Ohrfeige rechts. Flegeljahre einer Psychotherapeutin».
Edition Moderne,
88 S., Hardcover, farbig,
CHF 29.80 / € 24

Steffen Haas: «Eines Tages hörte man im Walde ein lautes Schreien!»

Queere Splatter-Komödie. Mit Zwergen.

«Eines Tages hörte man im Walde ein lautes Schreien …» – so hebt der Grossvater an geselligen Anlässen an, doch wird er jedes Mal unterbrochen, noch bevor er erzählen kann, wer denn warum im Walde schrie. Klar, nutzen seine beiden Enkelkinder den Nachmittag aus, den sie allein mit ihrem Opa verbringen, und bitten ihn, endlich einmal die ganze Geschichte zu erzählen.
Der Opa hebt an – und hört nicht wieder auf, und die Geschichte, die er da ausspinnt, hat es in sich. Es ist ein Zwerg, der im Walde schreit, der Zwerg Runkel schreit aus Freude über einen Goldklumpen. Doch das Glück über den unverhofften Fund mutiert bald zum Drama, denn allein lässt sich der Goldklumpen nicht bewegen, und Freund Kunkel, den Runkel um Hilfe bittet, möchte den Klumpen lieber für sich allein.
Die Goldgier der Zwerge ist legendär, und der amüsant-liebliche, märchenhaft-­grimmsche Beginn mutiert zur grimmigen, blutrünstigen Splatter-Orgie, in der noch und nöcher Zwerge mit Äxten entzweigehackt werden und sich verdoppeln; und als es sich ausgesplattert hat, entwickelt sich die Geschichte zur queeren Tragikomödie. Mehr kann man von einer Zwergengeschichte wahrlich nicht erwarten!
Der Münchner Steffen Haas ist einer der grossen unbesungenen Helden der deutschen Comic-Szene und überdies ein Pionier: Mit seinen Maulwurf-Comics bzw. -Motionless-Movies war er bereits in den tiefen 1990er-Jahren live unterwegs, als einer der vermutlich ersten deutschsprachigen Comic-Zeichner*innen, der/die Bilder und Geschichten auf die Bühne brachte, und das erst noch mit umwerfendem Charme. Seine Küken, Maus und Bier-Strips (mit Gunter Hansen) sind auch aufmerksamen STRAPAZIN-Leser*innen vertraut. Dennoch hat Haas den Status des ewigen Geheimtipps unverdienterweise nie hinter sich gelassen.
Ob sein Zwergen-Thriller ihm Ruhm und Ehre und schwere Goldklumpen einbringen wird? Zu wünschen wäre es ihm, denn der Lesespass ist immens, nicht zuletzt auch der Form wegen: Eines Tages hörte man im Walde ein lautes Schreien erscheint nicht als Buch, sondern als Buchrolle im Verlag Round Not Square. Statt zu blättern, rollt (altmodisch und analog für: scrollt) man sich durch dreizehn Meter Geschichte, bis zum bittersüssen Ende. Ein Genuss.
Christian Gasser

Steffen Haas: «Eines Tages hörte man im Walde ein lautes Schreien!».
Round Not Square,
13 Meter, Buchleinen mit eingebetteten Magneten,
farbig, € 32

Joe Sacco, «Wir gehören dem Land»

Joe Sacco und der grosse Norden


Während ich an dieser Rezension arbeite, stelle ich mit Erstaunen fest, dass es fast genau zwanzig Jahre her ist, dass Joe Sacco meine alte Wohnung im West Village von New York City besuchte – eine Wohnung, die auch einigen STRAPAZIN-Zeichner*innen, -Autor*innen und Redakteur*innen bekannt ist. Während seines Aufenthalts nahmen wir ein langes Interview auf, das in Auszügen im STRAPAZIN Nr. 66 vom März 2002, veröffentlicht wurde. Saccos Bosnien war gerade unter grossem Beifall veröffentlicht worden und die Ausgabe von Palästina war in Vorbereitung. Ausgezeichnet mit vielen Preisen, darunter dem American Book Award und einem Guggenheim-Stipendium, war Sacco auf dem Weg, nicht nur dafür anerkannt zu werden, dass er die Kreativität und das Ethos des «neuen Journalismus» in die Comics einbrachte, sondern auch dafür, dass er die Messlatte für Comic-Reportagen höher gelegt hatte.
Trotz seines sofort erkennbaren Stils ist Sacco ein leiser Zeichner, vielleicht wird deshalb oft unterschätzt, wie talentiert er ist. Seine Bücher sind keine leichte Lektüre, er ist ebenso Lehrer wie Geschichtenerzähler, und die Lektüre seiner Werke erfordert Intelligenz, Aufmerksamkeit und Geduld. Sein Zeichenstil, der mit jedem Buch sicherer wird, ist nicht simpel – die komplexen Kreuzschraffuren erinnern eher an Stahlstiche als an Skizzen. Seine Bücher lohnen ein wiederholtes Lesen, um die Zeichnungen zu geniessen und um den Erfindungsreichtum seiner Layouts auf sich wirken zu lassen – die Art, wie er Textkästchen wie Haftnotizen über die Seite verstreut, so dass man oft vergisst, dass man sich mitten in einer Comic-­Reportage befindet.
Saccos neustes Buch, Paying the Land bzw. auf Deutsch Wir gehören dem Land, spielt in den verschneiten Weiten des kanadischen Nordwest-Territoriums, weit entfernt also von den Wüsten des Nahen Ostens. Das Buch ist eine komplexe und subtile Studie über die Dene, einen Stamm von Ureinwohnern, deren traditionelles Leben in, auf und mit dem Land durch die eindringende «Zivilisation», insbesondere die Erdölindustrie, völlig verändert wurde. Saccos Berichterstattung ist fern von Polemik: Er schildert das Leben dieser Menschen als einzigartige Individuen, aber auch soziale und individuelle Reaktionen auf die unaufhaltsame Modernisierung. Der Fortschritt bedroht die traditionellen Lebensweisen – ist es möglich, sich dem Fortschritt zu widersetzen, und wäre jemand anderes an Stelle dieser Menschen wirklich idealistisch oder hartnäckig genug, es zu versuchen? Wie in vielen seiner Werke erzählt Sacco seine Geschichte anhand von Interviews mit den Bewohner*innen des abgelegenen Landstrichs, die starke, wenn auch nicht immer sichere Stimmen haben. Eine der Stärken dieses Buches ist, dass der Erzähler, zusammen mit seinen Leser*innen darum kämpft, hinter Themen wie Bildung, Arbeit, Tradition, Handel, Rasse und Identität, Natur, politischen Verträgen und Drogenmissbrauch einen Sinn zu sehen, um herauszufinden, wer oder was gut oder schlecht, richtig oder falsch ist. Doch Sacco weiss sehr wohl, dass das Leben selten schwarzweiss ist, sondern eher grau, und seine durchstrukturierten monochromen Kunstwerke spiegeln diese Ambiguität wunderbar wider.
In einer Zeit, in der viele von uns – und oft zu Recht – den offenbaren Niedergang des Journalismus beklagen, erinnert uns Sacco daran, dass es viele «unbekannte» Geschichten gibt, die es wert sind, erzählt zu werden, und er zeigt uns, wie man das mit Empathie, Neugier und Liebe macht.
Mark David Nevins

Joe Sacco, «Wir gehören dem Land».
Edition Moderne,
256 S., s/w,
CHF 29.80 / € 25

Baru: «Bella Ciao (Uno)»

Was zählt

Wie wird man fremd? Wie wird man heimisch? Wie und woran erinnert man sich? Und wie hängt das alles zusammen? Die Fragen, denen sich Baru in seinem neuen Werk Bella Ciao annähert, dem ersten Band eines auf drei Alben angelegten autobiografischen Blicks auf seine Familiengeschichte, sind die grossen Fragen der Gesellschaft. Fragen nach dem Fremden und dem Eigenen, nach Ausgrenzung und Integration, Migration und Vertreibung und nach dem kollektiven Gedächtnis von Familie und Gesellschaft.
Baru präsentiert kurze Episoden, die verschiedene Momente in der Geschichte der Italiener*innen in Frankreich beleuchten, beginnend mit einem Massaker an italienischen Gastarbeitern im südfranzösischen Aigues-Mortes am 17. August 1893. «Tod den Italienern!» ruft eine aufgebrachte Menschenmasse, und: «Sie stehlen uns unsere Arbeit!» Am Ende des Tages werden zehn Italiener nicht mehr am Leben sein, 50 weitere sind zu schwer verletzt, um wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Auch Barus Grossvater war als italienischer Gastarbeiter in Frankreich gelandet; das ambivalente Gefühl, Teil und gleichzeitig nicht Teil der Gesellschaft zu sein, findet sich auch in vielen Comics von Baru, die stets auf die Aussenseiter blicken, auf diejenigen, die nicht dazugehören dürfen oder nicht dazugehören wollen.
Die Erzählungen seien nicht seine eigene Familiengeschichte, hält Baru in einem skizzenhaften Epilog in Bella Ciao fest: «Ich bin Geschichtenerzähler, Blanche, das weisst du doch, also ein professioneller Lügner.» Und doch versteht er sein Album als eine autobiografische Annäherung an das typische Schicksal einer Familie zwischen zwei Kulturen. Die Stile, mit denen Baru dabei arbeitet, sind so unterschiedlich wie die Erinnerungen, die verschiedene Familienmitglieder in sich tragen und die in Bella Ciao nebeneinander existieren. Mal in brutalem Schwarzweiss, wenn etwa der Hass auf das Fremde keine Zwischentöne zulassen will, dann wiederum farbig. Dokumentarisch arbeitet er, wenn der Einbürgerungsantrag seines Vaters als Faksimile Einzug in den Comic hält. Als Gegenpol zu diesen Dokumenten stellt Baru immer wieder Fragen nach der Funktion von Erinnerung, ein langes Kapitel etwa setzt sich mit dem Hintergrund des Liedes Bella Ciao auseinander, das für die Familie eine zentrale, Gemeinschaft stiftende Funktion hat. Es sei gar kein Lied der italienischen Partisanen gewesen, erklärt ein Cousin des Protagonisten, der sich wissenschaftlich mit historischem Liedgut beschäftigt, Text und Melodie seien erst lange nach Ende des Krieges miteinander verbunden worden. Ist die mit dem Lied verbundene Erinnerung aber deswegen falsch? «Mit dem ganzen Getue um die Herkunft haben wir nichts zu tun, das interessiert nur Eierköpfe wie mich… Was zählt, sind die Millionen Leute, für die Bella Ciao ein Lied des Widerstands ist und bleibt …» Ein Satz, der auch für den beeindruckenden Auftakt von Barus autobiografischer Trilogie stehen kann: Wichtig ist nicht, ob Erinnerungen «wahr» sind oder «falsch», wichtig ist, welche Bedeutung sie innerhalb der Familie haben, und welche Rolle sie bei der Beantwortung der grossen gesellschaftlichen Fragen der Gesellschaft spielen.
Jonas Engelmann

Baru: «Bella Ciao (Uno)».
Edition 52,
136 S., Hardcover, farbig,
CHF 29.90 / € 20

Biografien

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ATAK
*1967 in Frankfurt/Oder. Lebt und arbeitet als freiberuflicher Künstler, Grafiker und Illustrator in Berlin. Weltweite Einzelausstellungen und verschiedensten Buchpublikationen, Comics und Illustrationen für diverse nationale und internationale Zeitungen, Zeitschriften und Verlage. Seit 2008 ist ATAK Professor für Illustration an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle. Gerade erschien das Bilderbuch für Kinder Piraten im Garten im Kunstmann-Verlag.
fcatak.de

Martin Heynen
*1983 im schönen Aargau. 2011 Abschluss als Umweltingenieur an der ETH Zürich, 2017 Abschluss in Illustration an der Hochschule Luzern.
In einer Zeit, als es noch Kulturveranstaltungen gab, haben seine Plakate Preise gewonnen.
martinheynen.com

Lina Müller
*1981, lebt und arbeitet als freischaffende Illustratorin in Altdorf, Kanton Uri. Sie studierte in Zürich, Luzern und Krakau. Ihre Illustrationen erscheinen u.a. in Reportagen, im Süddeutsche Zeitung-Magazin und in der Zeit. Seit 2014 kollaboriert sie regelmässig mit Luca Schenardi, publiziert wurden unter anderem Solvik, Nieves Books (2019), Passing Through, Vexer Verlag (2019), Very Far Out, die kuratierte Ausgabe von 041 – Das Kulturmagazin (2021) sowie Serien für das kalifornische emergence magazine (2020).
linamueller.com

Luca Schenardi
*1978, lebt und arbeitet als selbständiger Illustrator in Altdorf, Kanton Uri. Er studierte an der Hochschule für Kunst und Design Luzern und in Bath, UK. Seine Illustrationen erscheinen u.a. im NZZ Folio, Das Wetter, Süddeusche Zeitung-Magazin und in der Zeit. Seit 2014 kollaboriert er regelmässig mit Lina Müller, publiziert wurden unter anderem Solvik, Nieves Books (2019), Passing Through, Vexer Verlag (2019), Very Far Out, die kuratierte Ausgabe von 041 – Das Kulturmagazin (2021) sowie Serien für das kalifornische emergence magazine (2020).
lucaschenardi.ch

Christian Gasser
*1963 in Bern, lebt heute in Luzern und auf der Insel Lamposaari (Finnland) als freier Schriftsteller, Journalist und Dozent an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Er ist Mitherausgeber des Comic-Magazins STRAPAZIN und mehrfach preisgekrönter Hörspiel- und Feature-Autor.

Dario Forlin
*1992 im Appenzellerland. Studium der Visuellen Kommunikation an der Hochschule der Künste Bern, arbeitet als selbstständiger Illustrator in Bern. Erhielt 2019 einen Werkbeitrag des Kantons Appenzell Ausserrhoden für seine im Selbstverlag erschienenen Hefte und Comics. Mitgründer und Verleger des monatlich erscheinenden Fanzines GAFFA.
darioforlin.com

Wolfgang Bortlik
*1952, schloss seine langjährigen Studien der Geschichte und der
Publizistik nie ab und führt nunmehr seit geraumer Zeit das abenteuerliche Leben eines Privatgelehrten in Riehen bei Basel. Ausserdem hat er zehn Romane geschrieben und sonst noch einen Haufen Zeug.
wolfgangbortlik.ch

Laura Jurt
*1979, Studium im Fachbereich Visuelle Kommunikation, Studiengang Illustration an der Hochschule Luzern und im Austauschsemester an der Belas Artes do Porto (FBAUP), Portugal. Seit 2004 als selbständige Illustratorin in Zürich tätig. Arbeitsaufenthalte in Paris und Lissabon. 2015 Werkpreis der Hans-Meid-Stiftung, 2017 Förderpreis Illustration, Internationale Bodensee Konferenz (IBK) Mitglied des Druckerkollektivs Zitropress (F+F).
laurajurt.ch

Fabienne Grossen
*1995 in Bern, wo sie heute noch lebt. Macht Grafik und illustriert.
Beobachtet gern Unscheinbares und Alltägliches, Nebensächliches. Oft auch Verlassenes und Zurückhaltendes. Betrachtet es genau und versucht, dies erlebbar, wenn vielleicht auch etwas ungenau, wiederzugeben.
fabiennegrossen.ch
instagram@fabiennnnnnne

Lawrence Grimm
*1978, ist ein Cartoonist und Künstler, der in Zürich lebt. Seine Single-­Panel-Cartoon-Sammlung Teatime for a Universe über Momente des Lebens, der Liebe und der Einsamkeit wird regelmässig in Ausstellungen gezeigt. 2020/21 erhielt er ein Stipendium von Pro Helvetia, um an einem Cartoon-Buchprojekt zu arbeiten. Heute ist Lawrence zudem Co-Verlagsleiter von STRAPAZIN.
teatimeforauniverse.com

Claudio Näf
*1993, hat Illustration Fiction in Luzern studiert und arbeitet seit 2018 als freischaffender Illustrator, Künstler und Aktivist. Er ist Mitglied des Gemeinschaftsateliers Grosse Pause und betreibt eine Siebdruckwerkstatt mit dem Kollektiv Müscle in Luzern. Geschlecht und Sexua­lität sind wiederkehrende Motive in seinem zeichnerischen Werk.
claudionaef.com

Marlen Keller
*1995 in Endingen, Kanton Aargau. Seit dem Illustrationsstudium lebt und arbeitet sie in Luzern. Sie staunt immer wieder, was man mit Alltäglichem alles machen kann, um es dann beim Zeichnen auch wieder loszulassen.
marlenkeller.ch

Maeva Rubli
*1996, schloss 2019 den Bachelor in Illustration an der Hochschule für Kunst und Design Luzern mit einem Austauschsemester an der Shenkar School of Engineering and Design Tel Aviv ab. Sie lebt und arbeitet als Illustratorin in Basel. Sie gewann mit ihrer Bachelor-Arbeit Face à face den Förderpreis Design und Kunst/Alumni Hochschule Luzern, welche im Herbst als Buch bei der Edition Moderne erscheint.
maevarubli.com

Hanna Schiesser
*1994, studierte visuelle Kommunikation an der HKB Hochschule der Künste Bern sowie an der Shenkar School of Engineering and Design Tel Aviv. 2019 schloss sie den Bachelor ab und arbeitet momentan als Grafikerin bei Howald Biberstein in Basel.
hannaschiesser.com

M.S. Bastian / Isabelle L.
(*1963, *1967). Eines von Bastians ersten Bildern war ein Schiff, die MS Bastian, benannt nach dem Familiennamen seiner Mutter. Und aus Marcel Sollberger wurde flugs MS wie Motorschiff, also fortan M.S. Bastian. Seither stach Bastian als international bekannter Comix-­Künstler immer wieder in See oder tauchte unter Wasser; das Meer hat ihn nie mehr losgelassen, Schiffs- und Himmelsmotive wurden seine Spezialität. Dann wurde die Crew um Isabelle L. erweitert, es kamen Stadt-, Paradies- und apokalyptische Motive dazu. Seit über zwanzig Jahren malen sie zusammen irritierende, manchmal verstörende, aber immer humorvolle Werke. Zurzeit entsteht Pulpokosmos – eine überbordende Installation zwischen Geisterbahn, Musée intime und innerer Reise; zu sehen ab Herbst im Kunsthaus Grenchen. Und danach auf grosser Welttournee.
ursreichlin.com/artists/
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