LUKAS WEIDINGER
ANTOINE MARCHALOT
SIBYLLE VOGEL
Tiefknie im Knöchelschlamm
TOM GAULD
ANNA HAIFISCH
NADINE REDLICH
ANOUK RICARD
DIANE OBOMSAWIN
L`Histoire de Mathhilde
JAN SOEKEN
Donzo und Edgar
MIX & REMIX
MAX BAITINGER
CHRISTOPH ABBREDERIS
Der grösste Österreicher, den ich kenne, ist Nicolas Mahler. Er misst wohl an die zwei Meter, ist aber sonst eher ein Strich in der Landschaft. Gross und artistisch sind seine Witzzeichnungen und literarischen Adaptionen. Damit steht er in einer ruhmreichen Reihe von österreichischen Allzweckgenies der Wortkunst.
Die Grossen der österreichischen Literatur jedoch sind nicht nur gross, sondern meist auch übellaunig, verdriesslich, brummig, unwirsch, kurz: grantig. Selbstverständlich ist das auch bei den grossen Österreicherinnen des geschriebenen Wortes so.
Franz Grillparzer, der eigentliche Nationaldichter Austrias, war ein recht verbitterter Herr. Erstens, weil er stets an sich selbst zweifelte, und zweitens, weil sein Ruhm erst spät aufloderte. Als man ihn mit Preisen und Ehrungen überschüttete, war er schon alt und grantig. Oft erinnerte er sich dann an einen anderen grossen Raunzer und Soziopathen, nämlich Ludwig van Beethoven. Einst hatte Grillparzer auf Wunsch des musikalischen Titanen ein Libretto für eine romantische Oper in drei Akten mit dem Titel Melusina geschrieben. Man kann sich vorstellen, wie der hoffnungsfrohe Dramatiker an den schon sehr harthörigen Beethoven hinredet und ihm die tragische Geschichte der Wasserfee mit dem Schlangenleib darlegt. Der berühmte Komponist wiegt nur sein Löwenhaupt, beisst in sein Milchbrötchen und brabbelt dann, Brosamen speiend: «Ja, was meinen S› denn mit Limousine, Grillparzer?»
«Ach, lecken S› mich doch am Arsch, Sie narrischer alter Sack!» Das konnte der Schreiber dem Musiker auch laut sagen, der hörte praktisch keinen Pieps mehr.
Schliesslich verstaubte das Libretto bei Beethoven, tauchte in seinem Nachlass wieder auf und wurde erst später von einem bedeutend weniger bekannten Komponisten vertont. Und da soll man nicht sauer auf die Welt und die Menschheit werden.
Auch Arthur Schnitzler war kein eigentliches Gfrastsackl, also kein bösartiger Mensch. Die Contenance verlor er erst ganz spät, nach dem Skandal um sein 1920 uraufgeführtes Stück Reigen. Das hielten die damals gerade entstandenen völkischen und protofaschistischen Vereine und Banden für pornographisch sowie zersetzend und störten dementsprechend die Theateraufführungen im deutschsprachigen Raum. Dies verdross Schnitzler dermassen, dass er kurzerhand verbot, sein Stück je wieder aufzuführen. Dieses Tabu wurde dann immerhin über 60 Jahre respektiert.
Sonst war Arthur Schnitzler ein kommoder und honetter Herr, der auch viel Post von jüngeren Kollegen erhielt. Da quoll es dann täglich aus dem Briefkasten: «Ihre ausserordentliche Geduld, sehr geehrter Herr Doktor, hoffe ich nicht auf eine allzu harte Probe gestellt zu haben, wenn ich höflichst bitte, meine etwas dilettantische Übertragung des euripidischen Librettos einiger Lektüre zu unterziehen.» Dann schnaufte Schnitzler in den ersten Stock hoch, zurück an den Frühstückstisch und liess ein bisschen Dampf bei den Hausangestellten ab. Schliesslich beruhigte er sich wieder und brummte nur noch: «Ja, was meint denn die Bagasch, was ich den ganzen Tag tue. Ihr Zeugsel da lesen vielleicht? Da geh weiter! Zenzl, bring mir Pfeife und Toback und die Tarockkarten.»
Karl Kraus, moralische Instanz und grosser Satiriker, war vor allem entnervt durch das ständige Hin und Her mit seiner grossen Liebe, der böhmischen Adeligen Sidonie Amalie Wilhelmina Karolina Julie Marie Freiin Nádherná von Borutín. Die Dame konnte oder wollte den armen Kraus wegen des Standesunterschieds nicht heiraten. Darob gereizt und fuchsteufelswild, überlegte sich der berühmte Herausgeber der Zeitschrift Fackel jeden Morgen, wen er heute wieder literarisch zerschmettern konnte. Missmutig sass er bei einer Tasse Kaffeeersatz und dachte nach. Genau, da war ein harmloser kleiner Dichterling namens Georg Kulka, der es gewagt hatte, einen Text von Jean Paul unter dem eigenen Namen zu veröffentlichen. Krawumm! Hart schlug die Krausische Faust auf den Tisch, so dass die Tasse mit dem Muckefuck hüpfte. Er war halt schon oft ein Ungustl, der Karl Kraus, ein boshafter Mensch.
Und was war mit dem verheissungsvollen expressionistischen Dichter Albert Ehrenstein, der bis anhin von Kraus doch so protegiert worden war und jetzt dem Kulka die Stange hielt. Zerschmettern! Apropos Dichter: Da gab es nämlich auch noch den verdammten Rainer Maria Rilke, den Grosspoeten, der sich auf seine pathetisch-schwiemelige Art an die Krausische Sidonie heranschmachtete. Der Typ liess sich quasi von seiner europaweiten weiblichen Fangemeinde aushalten. Kein Wunder, war Karl Kraus grantig.
Der schon erwähnte Albert Ehrenstein war von einer rührenden Menschenliebe erfüllt, die regelmässig in horrenden Menschen- und Selbsthass umschlug. «Töte dich, spricht mein Messer zu mir», solche Sachen dichtete der Mann. In seiner grandiosen Erzählung Tubutsch betrauert der Held Karl Tubutsch den Tod zweier Fliegen und beklagt seine «unglückliche Begabung, selbst bei dem geliebtesten Weibe das Skelett zu sehen, wodurch wohl die Umarmung ein oder das andere Mal schluchzender werden kann, schliesslich aber massloses Grauen mich vom Weibe scheiden musste». Schon 1932 zog er es als Jude, Pazifist und Sozialist vor, der beginnenden Hitlerei den Rücken zu kehren und emigrierte in die Schweiz. Dort war er als Ausländer ständig von der Ausweisung bedroht. Durch Asylanten wie Thomas Mann und George Grosz bekam er in den USA eine Aufenthaltsgenehmigung. Glücklich wurde er nicht in den Staaten. Während Oskar Maria Graf, breit grinsend in bayrischen Krachledernen, in New York eine Mass Bier nach der andern in sich hineinschüttete, hatte der schmale Ehrenstein erfahren, dass seine grosse Liebe, die Schauspielerin Elisabeth Bergner, mittlerweile auch in die USA emigriert war und in Hollywood lebte. «Ah geh, Albertl, vergiss die Bergnerin endlich. Die hat dich doch behandelt wie ein Stück Dreck. Da, nimm ein Schluckerl!» Grafs Angebot war kein Trost für Ehrenstein und selbst eine Rückkehr nach dem Weltkrieg nach Europa scheiterte gänzlich. Man hatte den Dichter vollständig vergessen.
Fritz von Herzmanovsky-Orlando litt an einer schmerzhaften Nierentuberkulose, suchte ständig das Okkulte und Mystische, trat offenbar 1932 in die NSDAP ein und war ein Raunzer sondergleichen. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb ist seine Erzählung Der Gaulschreck im Rosennetz eines der bizarrsten und komischsten Werke deutscher Sprache. Es ist eine Rokoko-Geschichte von einem tragischen Hofbeamten namens Jaromir Edler von Eynhuf, dessen «Privatlätitzerl» (Privatvergnügen) das Sammeln von Milchzähnen ist (das wäre ein Thema fürs letzte STRAPAZIN gewesen!). Durch ebendiese Zähne setzt der Unglückliche seinem Leben auch ein Ende. Diese skurrile Erzählung, 1928 in einem Wiener Verlag erschienen, ist aber nicht nur ein Meisterwerk abseitiger Komik, sondern vielleicht auch das bei Drucklegung am meisten veränderte Manuskript der Verlagsweltgeschichte. Sexuelle Anspielungen, blasphemische Inhalte, allzu gut erkennbare Figuren des öffentlichen Lebens als Protagonisten, kleine und grössere Beleidigungen – vieles musste aus dem Originalmanuskript weichen, weil der Verleger kein Risiko eingehen wollte. Kein Wunder, wollte der Herzmanovsky in seinem Verdruss später nach Honduras auswandern.
Als uneheliches Kind einer Haushaltshilfe kam Thomas Bernhard mit zehn Jahren in ein nationalsozialistisches Erziehungsheim, was ihm äusserst traumatische Erfahrungen bescherte. Schwer krank war er sowieso schon immer. Neben dem latenten Nazitum betrachtete Bernhard vor allem den Katholizismus als das grosse Übel. So wird man natürlich schnell mit dem Ehrentitel Nestbeschmutzer versehen, ein nicht nur in Österreich häufiger Vorgang. Übellaunig setzt der Grossmeister des Schachtelsatzes aber auch dem Journalismus, deutschen Städten, dem Wiener Burgtheater, Kulturämtern und ähnlichem nach. In all seinen Übertreibungen und Wiederholungen hatte er literarischen Verve und einen bärbeissigen Humor: «Man ist ja selbst Ursache allen Übels» meinte er und: «I schreib ja ned für Depperte!»
Peter Handke bekämpft seinen Verdruss glücklicherweise beim Schwammerlsuchen, und dem enragierten Trio Marie von Ebner-Eschenbach, Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek möchte man wohl eher nicht im Dunkeln begegnen. Batsch, wird man zerschmettert! Und das war’s dann.
Arthur Schnitzler: «Reigen. Zehn Dialoge».
Reclams Universalbibliothek, 148 S., Softcover,
EUR 4 / CHF 5.90
Karl Kraus: «Heine und die Folgen. Schriften zur Literatur».
Wallstein Verlag, 464 S., Hardcover,
EUR 32 / CHF 42.90
Fritz von Herzmanovsky-Orlando: «Der Gaulschreck im Rosennetz.
Eine Wiener Schnurre aus dem modernen Barock».
Residenz Verlag, 184 S., Hardcover,
EUR 19,90 / CHF 27.90
Albert Ehrenstein: «Tubutsch».
Gabs mal in der Edition Moderne – lang, lang ist’s her!
Thomas Bernhard: «Holzfällen. Eine Erregung».
Suhrkamp Verlag, 320 S., Softcover,
EUR 10 / CHF 14.90
«Aaach?! Es gibt also kein Entkommen aus Backwards Rock?!», triumphiert ein Knast-Ausbrecher, und brüllt: «So Alter, jetzt fängt für dich ein neues Leben an, ja!!» Er flieht ins Dunkel der Nacht, das sich als Schwarzes Loch herausstellt, das ihn immer wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkatapultiert, ohne Erinnerung an seinen Ausbruch. «Aaach?! Es gibt also kein Entkommen aus Backwards Rock?!», wird er in alle Ewigkeit ausrufen, gefangen in der unendlichen Wiederholung. André Franquin, der Zeichner dieses Comics, hat in der Stripsammlung Schwarze Gedanken den düsteren Spiegel seiner bunten und lustigen Comic-Welten aus Spirou & Fantasio oder Gaston geschaffen. Mord und Totschlag, verkannte Genies und Ekel, Exzentriker und Choleriker finden Einzug in die schwarzweissen Kurz-Stories, schwarze Gedanken eben – ein Ausgleich für das Hamsterrad, in dem sich auch Comic-Zeichner wie Franquin als Gag-Lieferanten befinden. Die ewige Wiederholung der gleichen Tätigkeiten, der tägliche Sprung ins Schwarze Loch, so muss es Franquin oftmals empfunden haben.
Franquin hat einmal gesagt, er habe in Gaston vor allem sich selbst gesehen, und in der Tat gibt es viele Parallelen, von den Berichten über skurrile Erfindungen des Zeichners bis hin zu seinem eigenen Stress beim Arbeiten in der Redaktion des Magazins Spirou. Terminstress und Chaos im Büro, der Druck, permanent etwas leisten zu müssen, all das findet seinen Spiegel bereits in den Gaston-Comics, aber auch die Angst, von anderen begutachtet und bewertet zu werden, die eigene Produktivität nicht mehr im Griff zu haben. Franquin hatte Zeit seines Lebens mit Depressionen zu kämpfen, bis er im Dezember 1961 einen Zusammenbruch erlitt und erst 1963 mit der Arbeit am unterbrochenen Spirou und Fantasio-Band QRN ruft Bretzelburg fortfahren konnte, 1968 gab er die Serie komplett ab. Gaston betreute er auch in diesen düsteren Phasen seines Lebens und mit diesem Wissen im Hinterkopf lesen sich einige der Episoden deprimierender als die vordergründigen Gags um Arbeitsmoral und Verweigerung vermuten lassen. Parallel zur Arbeit an Gaston begann Franquin 1977 mit jener Comic-Reihe, die seiner depressiven Stimmung noch stärker Ausdruck verleihen konnte: Schwarze Gedanken, geprägt von einem düsteren Humor, Ängsten und Zweifeln. Und während in Spirou & Fantasio die Ordnung am Ende jeden Bandes wieder hergestellt ist, und das von Gaston angerichtete Chaos zumindest annähernd behoben, bleiben die Schwarzen Gedanken in all ihrer Schwere bestehen. Dort gibt es keine Auflösung, keine Katharsis, kein befreiendes Lachen. «Scheisse! War nur ein Traum… Der Albtraum fängt erst beim Aufwachen an…», denkt eine der Figuren im letzten Panel einer Story. Der Albtraum ist die Realität, die schwarze Gedanken produziert.
Jonas Engelmann
André Franquin: «Schwarze Gedanken».
Carlsen, 72 S., Hardcover, s/w,
EUR 14,99 / CHF 19.90
Nicolas de Crécys jüngstes Werk Un monde flottant. Yôkai & Haïkus ist ein zweiseitig bedrucktes Leporello. Auf der einen Seite wandelt eine bleiche Dame mit Knochenschmuck im Haar und aus dem Kragen eines prächtigen Kimonos schlingerndem Hals vor grünem Wald und bunten Blüten. Auf der anderen schreitet ein anthropomorpher Fuchs in orangefarbenem Gewand eine schneebedeckte Allee entlang.
Es folgen jeweils Doppelseiten auf starkem Papier, auf denen de Crécy spirituelle Wesen aus der japanischen Folklore, Yôkai genannt, ihr Unwesen treiben lässt: fratzenziehende Katzen, eine durchscheinende Dame mit Schlangenleib oder ein roter Oger mit irrem Blick und flammendem Schwert – allesamt in wunderschön ausgearbeiteten Landschaften oder Stadtansichten. Unter jedem Bild steht ein dreizeiliger Haiku aus de Crécys Feder. Da hockt etwa ein weisses rundliches Monster verwirrt in einem kleinteilig mit Tusche gestrichelten Wirrwarr aus Wolkenkratzern, Baukränen, geschwungenen Ziegeldächern, Schildern und vereinzelten Baumkronen: «Des gares, des trains / Autant de villages / C’est Tokyo». Die schönsten Seiten dieses Bilderbogens sind jene, die de Crécys besonderen Strich zeigen – feine Linien in Tusche oder Kohle, die fast zittrig wirken, aber sehr präzise sind, mit Aquarell zum Leben erweckt.
Der Titel des Buches Un monde flottant bezieht sich auf den Begriff «ukiyo-e», japanisch etwa für «Bilder der fliessenden Welt», der ein Genre der japanischen Malerei und Druckgrafik bezeichnet. Darunter eingeprägt sind zwei Kanji, die für «haiga» stehen, eine Kombination aus Malerei und Haiku-Dichtung, wie de Crécy in seinem Vorwort schreibt.
Der 1966 in Lyon geborene Nicolas de Crécy, der seit mehr als 25 Jahren Comics veröffentlicht, verbrachte 2008 einige Monate als Stipendiat in der Villa Kujoyama in Kyoto, einer Dépendance des Institut Français in Japan. Der Aufenthalt war fruchtbar: So realisierte de Crécy 2012 eine Ausstellung und veröffentlichte ein Buch mit seinen Eindrücken (Carnets de Kyoto). Später publizierte er zusammen mit dem Mangaka Matsumoto Taiyo ein Art Book und schuf die vom Manga beeinflusste Serie La République du catch für ein japanisches Magazin, bevor sie 2015 als Buch in Japan und Frankreich herauskam.
Mehrere von de Crécys Büchern sind in Japan erschienen, auf Deutsch bisher leider nur zwei: die opulente Tragikomödie Foligatto (bei Ehapa), 1993 mit dem Max-und-Moritz-Preis ausgezeichnet, und die stumme Groteske Prosopopus (bei Reprodukt).
Barbara Buchholz
Nicolas de Crécy: «Un monde flottant. Yôkai & Haïkus».
Editions Soleil, 62 S., farbig, Hardcover, Leporello,
EUR 18,95
Die französische Comic-Legende Jacques Tardi hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmend den Gräueln der Weltkriege gewidmet. Aber auch Romanadaptionen – gerne Krimis – gehören zu seinem Spätwerk. Mitunter arbeitet er aber auch exklusiv mit Autoren zusammen, um eine neue Geschichte zu erzählen. Ein frühes Beispiel für eine solche Zusammenarbeit ist Hier selbst aus dem Jahr 1979, das zum 35-jährigen Jubiläum des Verlags Edition Moderne nach 27(!) Jahren in einer zweiten Auflage erscheint und somit nun endlich wieder lieferbar ist. Es wurde Zeit: Das mit 200 Seiten opulente, grossformatige Werk – ursprünglich in der Tradition des Fortsetzungsromans in einzelnen Kapiteln erschienen – besticht durch die surreale Kapitalismuskritik von Jean-Claude Forest und Tardis wunderbar eigenwillige Schwarzweiss-Zeichnungen, die ihn schon hier unverwechselbar machen. Absurder Humor entfaltet sich ganz von selbst in dem grotesken Szenario um den ehemaligen Grossgrundbesitzer Arthur Selbst: Diesem sind nämlich nur noch die Mauern zwischen den durch einen Erbschaftsstreit entstandenen Kleinparzellen geblieben. Auf diesen Mauern wohnt er nun und wandert tagein, tagaus zwischen den Toren hin und her, die er jeweils nur gegen Wegzoll öffnet. Seit Jahren führt er gegen seine Nachbarn einen Rechtsstreit, um den alten Familienbesitz wiederzuerlangen. Die Situation macht ihn nicht nur zum nerdigen Aussenseiter, den alle Nachbarn hassen – so wie er sie; sie macht Arthur Selbst, der jenseits dieser absurden Wohnsituation nichts mehr kennt, auch ein wenig paranoid. Oder ist seine Angst berechtigt, und die Nachbarn wollen ihm tatsächlich an den Kragen? Zwischen ihm und Julie, der jüngst nach langer Abwesenheit zurückgekehrten Adoptivtochter eines Nachbarn, entwickelt sich eine Freundschaft, die dank der Direktheit der freizügigen Julie auch schnell eine erotische Komponente erhält. Dass die Landschaft wegen eines historischen Kuriosums politisch gar nicht zu Frankreich gehört, löst bei einer innenpolitischen Krise der Grande Nation noch mal ganz andere Konsequenzen von weitreichender Tragweite aus.
Tardis grobe Schwarzweiss-Zeichnungen tauchen den Leser in eine absurde Welt – vage angesiedelt in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts, inmitten politischer Ungewissheiten. Und so verdichtet sich die Geschichte zunehmend von einem tragikomischen Gedankenspiel zu einer politischen Parabel, ohne beim Balanceakt zwischen Tragik und Komik abzustürzen.
Christian Meyer-Pröpstl
Jacques Tardi & Jean-Claude Forest: «Hier selbst».
Edition Moderne, 200 S., Hardcover, s/w,
EUR 29 / CHF 35.–
Am 7. Januar 2015 massakrierten islamistische Terroristen die Redaktion der französischen Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo. Weltweites Entsetzen und intensive Diskussionen waren die Folge – im deutschen Sprachraum wurde dabei vor allem deutlich, wie unterentwickelt das Verständnis für die Karikatur ist. Dem will Andreas Platthaus mit Das geht ins Auge. Geschichten der Karikatur abhelfen.
Die älteste Karikatur in Platthaus› Buch ist die in eine römische Mauer gekratzte Zeichnung aus dem dritten Jahrhundert: «Alexamenos verehrt Gott» lautet die Inschrift, und man sieht einen Mann, der vor einem gekreuzigten Menschen mit Eselskopf steht. Dass dieses frühe Beispiel eines Spottbilds eine Gotteslästerung war, ist kein Zufall – Religions- bzw. Kirchenkritik war immer
ein attraktives Thema für die Karikaturisten: Die Religion bot viele Angriffsflächen – ihre Vertreter konnten aber auch hart zurückschlagen.
Andreas Platthaus erzählt in Das kann ins Augen gehen keine «Geschichte», sondern «Geschichten der Karikatur». In 50 Essays geht er jeweils von einer (subjektiv ausgewählten) repräsentativen Zeichnung eines bedeutenden Künstlers aus. So bleibt er nahe an der Hauptsache, der Zeichnung; er analysiert ihre Aussage und Bildsprache, den Kontext ihrer Publikation, ihre Wirkung. In der Analyse der Einzelblätter schälen sich jedoch immer wieder Zusammenhänge heraus, die den Bogen spannen zur Geschichte dieser Kunstform.
Für Platthaus ist die Karikatur gleichbedeutend mit Aufklärung, mit Vernunft; er zeigt auf, wie die Karikaturisten gegen die mächtigsten Gegner ihrer Zeit antraten und antreten, gegen Kirchen, Königshäuser und andere autoritäre Regierungen, gegen Ideologien und gesellschaftliche Verwirrungen. «Zur Karikatur gehört Widerstand», schreibt Platthaus, «seitens des Karikaturisten und seitens der Karikierten.» Dass die Karikatur Grenzen überschreite, sei Teil ihres Wesens; die Karikatur müsse verletzen. Eine schonungslose und witzige Karikatur ist bis heute mächtig – mächtiger als das geschriebene Wort; das beweist nicht zuletzt der Anschlag auf Charlie Hebdo, dessen Diskussion das Buch abschliesst.
Andreas Platthaus› mit Leidenschaft, Fachwissen und Witz geschriebenen «Geschichten der Karikatur» erlauben einen aufschlussreichen (wenn auch etwas zu sehr auf Deutschland bezogenen) Einblick nicht nur in die Geschichte, sondern vor allem in das Wesen, die Rolle und die Grenzen der Karikatur.
Christian Gasser
Andreas Platthaus: «Das geht ins Auge. Geschichten der Karikatur».
AB Die Andere Bibliothek, Band 381, 480 S., Hardcover,
EUR 42 / CHF 55.–
«Wir können im besten Fall darauf hoffen, dass die Story weitergetragen wird. Und es liegt bei den Lesern, wie sie diese Story nutzen, um sich die Welt zu erschliessen», überlässt Sarah Glidden das letzte Wort in ihrem neuen Album Im Schatten des Krieges ihrer Freundin Sarah. Gemeinsam mit den beiden Journalisten Sarah und Alex hatte Glidden 2010 für mehrere Monate die Türkei, den Irak und Syrien bereist, um die vielen kleinen Stories dieser Region weiterzutragen. Ausgangspunkt für Glidden war dabei die Frage: Wie funktioniert Journalismus? Doch Sarah Glidden weist über die Beantwortung dieser Frage hinaus, ihr ist mit Im Schatten des Krieges vielmehr ein Metacomic gelungen, ein Comic darüber, wie Comic-Journalismus gelingen kann. Die Zeichnerin begleitet die Entstehungsprozesse von Stories, welche die unabhängigen Journalisten an verschiedene amerikanische Medien zu verkaufen hoffen, um die Kosten der Reise wieder einzuspielen. Den Widerspruch – einerseits unabhängigen Journalismus produzieren zu wollen und gleichzeitig Stories verkaufen zu müssen – thematisiert Glidden ebenso wie die Frage der eigenen Person, ihres subjektiven Blicks auf das Geschehen, der in einem Spannungsverhältnis zum objektiven journalistischen Anspruch steht. Sie inszeniert sich daher sehr dezent, stets am Rande des Geschehens, als Beobachterin und nicht als zentrale Figur wie in ihrem Debüt Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger. Immer wieder hinterfragt sie ihre Rolle in der Geschichte, ihre Sicht auf die Dinge, und hält eigene Fragen zurück. Denn sie will erfahren, wie Journalisten arbeiten, wie sie Informationen herauskitzeln, wie sie Stories aufziehen und mit Sackgassen umgehen. «Ist etwas informativ? Wird versucht, etwas über ein Thema, eine Zeit, eine Person zu vermitteln? Kann man es überprüfen? Kann man rausfinden, ob es stimmt? Kann man sich auf die Quellen verlassen?», beschreibt die Reporterin Sarah einige der Grundsätze ihres journalistischen Arbeitens.
Comic-Journalismus funktioniert gänzlich anders als andere Medien, auch dies zeigt Sarah Glidden, denn während Alex und Sarah ihre Stories binnen kurzer Zeit nach der Rückkehr verkaufen müssen, ist Im Schatten des Krieges erst 2016, also einige Jahre nach der Reise, erschienen. Der Arabische Frühling und der Bürgerkrieg in Syrien haben die Sicht auf die Region inzwischen verändert, viele der Eindrücke erscheinen Glidden im Nachhinein naiv und fern der Realität. Doch gerade diese Ebene der Reflexion unterstreicht die Möglichkeiten des Comics: Hier kann man sich die Zeit nehmen, die notwendigen Fragen zu stellen, die im Tagesjournalismus oftmals untergehen.
Jonas Engelmann
Sarah Glidden: «Im Schatten des Krieges».
Reprodukt, 304 S., Softcover, farbig,
EUR 29 / CHF 41.90
In der aktuellen Zeit, in der in Europa der Ruf nach Grenzen lauter und eine Angst vor allem Fremden heraufbeschworen wird, ist Miroslav Saseks Buch Rund um die Welt ein Lichtblick. Der studierte tschechische Architekt und Industriezeichner flieht 1948 aus seinem Heimatland vor den Kommunisten, lebt fortan in München, und geniesst die Freiheit, die Welt zu bereisen und fremde Kulturen zu entdecken. Seine Leidenschaft wird seine Berufung, als M. Sasek wird er berühmt für seine illustrierte Reisebuchserie für Kinder und Erwachsene, die sich zum Klassiker entwickelt. Der Hundertjährige Geburtstag des feinfühligen Beobachters und grossartigen Illustrators nutzt der Verlag Antje Kunstmann, um in dem Buch Rund um die Welt eine Auswahl von 16 Büchern zu präsentieren, die Sasek in einem Zeitraum von 15 Jahren geschaffen hat. Mit dabei Saseks erste Publikation This is Paris, sowie die preisgekrönten Bücher über London und New York. Seine langjährige Wahlheimat München ist natürlich auch vertreten sowie Texas, Los Angeles, Edinburgh und viele andere. Auch heute noch spürt man in Saseks Texten und Zeichnungen über Menschen und Gebäude seine Neugierde auf und Liebe für fremde Kulturen sowie länderspezifische Besonder- und Eigenheiten, die er stets mit Respekt unterhaltsam präsentiert und kommentiert. Mit seinem Zeichenstil prägte Sasek die 1970er-Jahre, ganz im Stil von Steinberg und dem frühen Ungerer strahlen sie dank ihrer Leichtigkeit auch heute noch einen unwiderstehlichen Charme aus. Sasek lädt den Betrachter ein, die Welt und das Leben seiner Bewohner zu entdecken, ihre Gepflogenheiten und kulinarischen Vorlieben und die kulturelle Vielfalt zu geniessen.
Matthias Schneider
M. Sasek: «Rund um die Welt».
Antje Kunstmann, 248 S., Hardcover, farbig,
EUR 38.00 / CHF 49.90
Dass Riad Sattouf ein Meister im Zuhören und Beobachten ist, hat er bereits in (auf Deutsch skandalöserweise noch immer nicht greifbar!) La vie secrète des jeunes (siehe STRAPAZIN 108) bewiesen. In dieser Serie für Charlie Hebdo rapportierte er Woche für Woche in der Öffentlichkeit belauschte Gespräche zwischen Jugendlichen und malte ein groteskes, geradezu erschreckendes Bild unserer Zeit.
Zuhören tut Sattouf auch in seinem neuen Langzeitprojekt. In Esthers Tagebücher wird er die im ersten Band zehnjährige Esther bis zu ihrem 18. Geburtstag begleiten, und Jahr für Jahr aufzeichnen, was sie ihm erzählt: Der erste Band umkreist die Schule, beste Freundinnen und Feindinnen, einen schwierigen älteren Bruder und andere doofe Jungs, Spielsachen, iPhones und Klamotten, Pop- und Reality-TV-Stars, Unsicherheiten, Gewalt auf dem Pausenhof, Zickenkriege und Rassismus, Neid und Eifersucht, materielle Engpässe in der Familie – das
Leben eines Teenagers im Europa des 21. Jahrhunderts. Beschönigungen? Niedlichkeiten? Nein, Riad bleibt auch in diesem Mädchenkosmos der genaue, scharfe, satirische Beobachter.
Esthers Alltag vermittelt Sattouf konsequent aus der Perspektive einer Zehnjährigen. Auch darin ist er ein Meister: Ob anonyme Protagonisten aus La vie secrète des jeunes oder er selber als kleiner Junge in Der Araber von morgen, Sattouf bleibt immer in der Welt seiner Figuren. Auch in Esthers Tagebücher wird Esthers Blick nie gebrochen. Was Esther nicht begreift oder falsch einschätzt, wird nicht reflektiert, sondern möglichst unmittelbar wiedergegeben. Im Gegensatz zu seinen anderen Figuren jedoch führt er Esther, die Tochter eines befreundeten Paars, nie vor, sondern erwidert ihr Vertrauen mit Respekt und Feinfühligkeit.
Esthers Welt ist aber auch so grausam genug, und Esthers gleichermassen naiver wie kritischer Blick entlarvt viele Ungereimtheiten, Widersprüche und Absurditäten – und darin liegt ein grosses Potenzial zu haarsträubender Komik. Esther und Riad beschreiben auch mehr oder weniger dieselbe Welt, in der Emma aufwächst, meine neunjährige Tochter, und das gibt mir zu denken …
In zwanzig Jahren gehören La vie secrète des jeunes und Esthers Tagebücher zur Standardlektüre angehender Soziologen; wir hatten und haben das Privileg, diese Serien sozusagen live zu lesen – und einiges zu erfahren über unsere Zeit.
Christian Gasser
Riad Sattouf: «Esthers Tagebücher. Mein Leben als Zehnjährige».
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock,
Reprodukt, 56 S., Hardcover, farbig,
EUR 20 / CHF 28.90
Tom Hart und seine Frau Leela Corman, auch sie eine Zeichnerin, mussten das Schlimmste erleben, was Eltern zustossen kann – ihre Tochter mit dem zauberhaften Namen Rosalie Lightning starb im Schlaf, noch bevor sie zwei Jahre alt war. Trotzdem fand Hart in den folgenden drei Jahren die Kraft, darüber ein Buch zu verfassen, eines der ehrlichsten, traurigsten, aber auch schönsten Comicbücher – ein künstlerisches Meisterwerk.
Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross beschreibt in ihren Büchern fünf Sterbephasen (engl.: stages of grief = Trauerphasen), aber alle, die schon einmal einen nahestehenden Menschen verloren haben, wissen, dass die emotionale Achterbahnfahrt nicht unbedingt jenem Muster folgt. Hart erzählt mittels einer tiefempfundenen Collage der Trauer vom intellektuellen und psychischen Chaos, von der Verzweiflung, die mit einem derartigen Verlust einhergeht, und lässt dabei auch Einblicke in sein Innenleben zu. Rosalie Lightning ist nicht nur ein zutiefst persönliches Tagebuch über Liebe und Verlust, das Album ist auch eine Dokumentation über unsere Art des Trauerns; es wird keinen Leser unberührt lassen. Ich erwähnte einst einem meiner Professoren gegenüber, dass «ein guter Schriftsteller beschreiben kann, wie andere Menschen denken und fühlen.» «Ja», sagte er, «aber ein grossartiger Schriftsteller kann beschreiben, wie du denkst und fühlst.»
Es ist nicht ganz einfach, eine konventionelle Besprechung von Rosalie Lightning zu schreiben, weil sein Thema jeglichen kritischen Kommentar zunichte macht. Um seine Geschichte zu erzählen, verwebt Hart Einflüsse einer Reihe von Autoren; die Zeichner Metaphrog und Chester Brown, die Schriftsteller Barthes und Calvino, die Musikerin Laurie Anderson und die Beatles, um nur einige der Fäden zu nennen, die Hart in seinen Wandteppich der Trauer und – schlussendlich – Akzeptanz flicht. Die Einfachheit und manchmal sogar Rohheit von Harts Zeichnungen könnten darüber hinwegtäuschen, welch hervorragender Zeichner er eigentlich ist. Seit über 15 Jahren unterrichtet er Comiczeichnen, und wer das Buch mit einem speziellen Blick auf dessen Konstruktion liest, entdeckt bald, dass hier ein wahres Meisterwerk in Sachen Storytelling, Erzählstruktur und Rhythmus vorliegt, welches zudem durch einen ganz aussergewöhnlichen Einsatz von Bildsprache und Symbolen auffällt. In der Mitte des Buches – und auf seinem Umschlag – steht die gigantische magische Eiche aus Hayao Miyazakis Trickfilm Mein Nachbar Totoro, als Sinnbild für die Beziehung zu seiner Tochter, aber auch als Symbol für Hoffnung und Transzendenz. Ein anderes immer wiederkehrendes Bild, das sich unauslöschlich einprägt, ist vielleicht als Hommage an Gustave Verbeek und seine «Umkehr-Comics» gedacht: Es zeigt Tom und Leela, die Eltern, die allein, ohne Ruder, in einem kleinen Boot übers Meer treiben.
In Rosalie Lightning kann es kein Happy End geben, genauso wenig, wie es im Leben eins gibt. Den Tod eines Kindes kann man nicht anders als eine Tragödie schildern. Aber Harts Bereitschaft, seine Geschichte auf solch wunderbare Art zu erzählen, lässt uns Leser hoffen, dass Kunst auch Heilung und Erlösung sein kann.
Mark D. Nevins
Tom Hart: «Rosalie Lightning».
St. Martin’s Press, 272 S., Hardcover, s/w,
$ 19.99
Auf Nimona können sich alle einigen: Das funny Superhelden-Fantasy-Ritter-Epos der jungen Amerikanerin Noelle Stevenson spielt klug mit den Regeln der Genres. Moralische Fragen nach Gut und Böse, Figurenzeichnung und Erzählform werden hier äusserst unorthodox verwendet bzw. auf den Kopf gestellt, und das mit einer entwaffnenden Spielfreude und Fabulierkunst.
Ballister Blackheart ist der Böse – er hat dunkle Haare. Ambrosius Goldenloin hat lange, engelsgleiche bzw. goldene Haare, und er ist natürlich der Gute. Das erscheint insofern alles regelkonform. Erzählt wird in Nimona allerdings Blackhearts Geschichte, und zwar von dem Moment an, als ein junges, freches Mädchen bei ihm klingelt und sein Sidekick werden will. Blackheart ist das zunächst lästig, doch als Nimona sich als Gestaltwandlerin outet, ist sein Interesse geweckt. Denn mit Nimonas Fähigkeit, jede noch so abwegige oder real existierende Gestalt anzunehmen, kann er seinem Erzfeind und dessen Arbeitgeber – dem Institut für Recht und Ordnung – endlich eins auswischen.
Die 24-jährige Zeichnerin und Autorin Noelle Stevenson hat inzwischen mit ihrem Debüt Nimona und ihrer All-Female-Cast-Serie Lumberjanes etliche Preise – auch Eisner Awards – eingeheimst, steht auf der Bestsellerliste der New York Times und konnte die Filmrechte beider Comics an Hollywood verkaufen. Das ist eine verrückte Erfolgsgeschichte. Bedenkt man jedoch die Qualitäten dieses umwerfenden Debüts, ist der Erfolg gar nicht mehr so erstaunlich. Denn die lustige, auf den Kopf gestellte Superheldenparodie im mittelalterlichen Fantasy-Gewand gewinnt nicht nur zunehmend an Tempo und Action, sondern wird mit den Backstories der Protagonisten bis zum ergreifenden Finale immer emotionaler und tiefgründiger. Stevensons Geschichte um Freundschaft, Treue und Verrat entfaltet zugleich eine zweite Ebene, in der Macht und Propaganda beleuchtet werden. Auch zeichnerisch geht Noelle Stevenson eigene Wege und kombiniert ihre kantigen Linien mit allerlei Niedlichkeiten, die erst gegen das Ende hin von den grossen Emotionen dieses – man muss es so nennen – Epos übertrumpft werden.
Christian Meyer-Pröpstl
Noelle Stevenson: «Nimona».
Splitter Verlag, 272 S., Softcover, farbig,
EUR 19.95 / CHF 28.90
Das Bild könnte legendär werden: Man sieht Philippe Dupuy im Aufgang zur Halle des Pariser Kulturzentrums CentQuartre. Eben klappt er sein jüngstes Werk auf und breitet es auf dem Boden aus. Wie einen Teppich. Dabei handelt es sich um ein Comic-Faltbuch, in dem Dupuy auf einer Gesamtlänge von 23 Metern seine Ansichten zur Geschichte der Kunst auslegt.
Es ist ein sehr persönliches Kunstbuch, das ganz von Dupuys Reflexionen und Assoziationen lebt. Folgerichtig trägt es den Titel Eine Geschichte der Kunst und nicht
die Geschichte. Der Autor selbst spricht von einem «subjektiven Spaziergang», auf dem ihn Künstler wie Leonardo da Vinci, Wassily Kandinsky, Jean Tinguely, Fischli/Weiss und viele mehr begleiten. Hingegen fehlt diesmal sein Partner aus der Monsieur Jean-Reihe, Charles Berbérian.
Zwar kommen berühmte Motive und Kunstwerke – wie zum Beispiel die altägyptische Sphinx oder Salvador Dalís zerflossene Uhr – durchaus vor, doch verzichtet Dupuy auf eine strikte Wiedergabe nach Epochen und Stilen der Kunstgeschichte. Es geht ihm nicht so sehr um eine Abhandlung der «grossen Stunden und kleinen Fakten», vielmehr schwebt ihm eine Art von Kaleidoskop vor, welches das Trennende der Unterschiede abbaut. Nicht selten fliessen auch Gedanken zum Verhältnis von Kunst und Comic ein, etwa wenn er im Kapitel über abstrakte Kunst eine Reflexion, auf Jochen Gerner und das Abstrakte im Comic einstreut.
Überhaupt erfährt man auf den Streifzügen durch das Leporello so manches über seine ästhetischen und kunsttheoretischen Standpunkte, und Philippe Dupuy macht auch keinen Hehl daraus, dass es sich um ein intellektuelles Werk handelt: «Ich mag die Reflexion und das Nachdenken entspannt und unterhält mich.»
Auch wenn Eine Geschichte der Kunst
das klassische Format des Comic-Albums sprengt und selbst ein Kunstobjekt ist, so verdankt sich seine Form doch der virtuellen Welt. Ursprünglich erschien der Comicstrip im Online-Magazin Professeur Cyclop und verdeutlicht anschaulich, was manche «Scrollytelling» nennen: Eine Geschichte entfaltet sich durch die typischen Fingerbewegungen, wenn man bei der Bedienung eines Computers nach unten scrollt. Dabei bilden Text, Ton, Bild und Video eine Einheit. Diese digitale Erzähltechnik trägt Philippe Dupuy nun zurück ins Buch. Lesen kann man Eine Geschichte der Kunst somit sowohl klassisch – vom Anfang bis zum Ende – als auch «surfend», indem man an einer Stelle einsteigt, ins Thema eintaucht und sich treiben lässt. Philippes Dupuys Faltcomic ist ein bemerkenswertes Panorama der Reflexion und ein wunderbares Sammlerstück für Liebhaber.
Florian Meyer
Philippe Dupuy: «Une histoire de l’art».
Editions Dupuis Aire Libre, 192 S., Hardcover, farbig,
EUR 46 / CHF 66.10
Die Druckausgabe ist in einer limitierten Auflage erschienen.
Die Online-Version ist integral veröffentlicht unter:
www.professeurcyclope.fr
Philippe Dupuys Auftritt im CentQuatre-Paris findet sich beim TV-Sender Arte:
info.arte.tv/de/23-meter-kunstgeschichte
Micky Maus ist arbeitslos. Mit diesem Paukenschlag beginnt Régis Loisel seine Hommage an die klassischen Walt Disney-Comics aus der Feder Floyd Gottfredsons (1905–1986). Ohne Umschweife führt er die Leser in die Zeit der Grossen Depression der frühen 1930-er Jahre: Micky und sein Kumpel Rudi Ross bewerben sich vergeblich um Arbeit. Bald stellt sich heraus, dass ihre Zurückweisung eine Machenschaft von Mickys Erzfeind Kater Karlo und dessen Weggefährten Balduin Beutelschneider ist. Ihr Boss ist ein superreicher Magnat, der Mickys Quartier abreissen und durch einen Golfplatz ersetzen will. Dazu ist ihm jedes Mittel recht – auch ein chemisch gepanschter Kaffee, der die Quartierbewohner «zombiesiert» und zu willfährigen Handlangern macht.
Mit einer sichtlichen Portion Spass und einer hohen Kadenz an Gags und Handgemengen schafft Loisel (Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit, Peter Pan) einen unterhaltsamen Comic, der ernste und aktuelle gesellschaftspolitische Fragen nicht ausklammert. Seine Schnitte sind rasanter als jene Gottfredsons, der Ton fällt etwas härter und der Strich etwas rauer aus. Loisel geht bis an die Grenze dessen, was noch unter dem Etikett Walt Disney verkauft werden kann (Zigarettenraucher beispielsweise sucht man vergeblich).
Allein ist Régis Loisel, der sich als junger Zeichner einst umsonst bei Disney bewarb, mit seiner Hommage nicht: Wie schon die Verleger von Spirou und Fantasio und Lucky Luke haben auch der französische Verlag Glénat und Walt Disney fünf Comic-Autoren (Bernard Cosey, Lewis Trondheim/Nicolas Keramidas; Tebo und Régis Loisel) gebeten, eine persönliche Version von Micky Maus zu entwerfen.
Loisels Micky Maus kommt wohl ohne die absurd-witzige Note aus, die Trondheim und Keramidas (für Erwachsene) sowie Tebo (für Kinder) ausspielen, und er erreicht auch die poetische Tiefe eines Cosey nicht (der seinen Micky ebenfalls historisiert und als Drehbuchautor in das Jahr 1927 versetzt, bevor er seine Freundin Minnie kennenlernt). Indem er jedoch eine Geschichte erzählt, die Erwachsene gerne lesen, und die Kinder zugleich anspricht, erweist er sich als würdiger Nachfolger der Walt Disney-Grössen Floyd Gottfredson, Carl Barks und Romano Scarpa. Auf diese Serie, die in diesem Jahr bei Egmont Ehapa erscheinen soll, dürfen sich deutschsprachige Leser jedenfalls freuen.
Florian Meyer
Régis Loisel, François Lappiere (Kolorierung): «Café ‚Zombo’».
Editions Glénat, 71 S., Hardcover, farbig,
EUR 19 / CHF 31.50
Wie schafft es ein gutmütiger, kiffender Frosch, auf die Liste rechtsradikaler Hass-Symbole der jüdisch-amerikanischen Anti-Defamation League zu gelangen?
Matt Furie veröffentlicht 2005 einen Comicstrip namens Boy’s Club, in welchem der unspektakuläre Alltag vier anthropomorpher Tiere – darunter Frosch Pepe – erzählt wird. Sie leben in einer Studenten-WG, in der viel gekifft, gechillt, Pizza gegessen und so einiges gequasselt wird. Pepe und seine Freunde sind entspannte Typen, die sich die Hippie-Kultur der 1970er zu Herzen nehmen und selten ihre Wohnung verlassen. Die Dialoge sind meist knapp und bestehen mehrheitlich aus Aussprüchen wie «feels good, man», «my bad» oder «sup dawg».
Drei Jahre später beginnen Zeichnungen von Pepe, begleitet von seinem Lieblingsausspruch «feels good, man», auf der Online-Community 4chan zu erscheinen. Von da verbreitet sich der noch harmlose Pepe als Meme auf allen Social-Media-Kanälen. Dass die Figur ein Allgemeingut der Massenkultur wird, passt – laut einem Interview in der Huffington Post – einer rechtsradikalen Gruppierung gar nicht. Sie beschliesst 2015 die Rückeroberung der Comic-Figur aus den Fängen der sogenannten «Normies» und versieht Pepe mit Nazi-Propaganda. Damit soll die Figur gesellschaftlich inakzeptabel gemacht werden. 2016 wird Nazi-Pepe auch von der Alternativen Rechten (Alt-Right), die Trumps Wahlkampagne unterstützt, entdeckt, und schliesslich postet The Donald selbst Zeichnungen von Pepe mit der typischen Trump-Tolle. Darauf verurteilt eine Strategin aus Hillary Clintons Kampagne die Comic-Figur kategorisch und erklärt sie zum Hass-Symbol, ohne deren Hintergrund zu kennen. Zuletzt wird Pepe auch wegen der falschen Information der Clinton-Kampagne auf die Liste der Hass-Symbole der amerikanischen Anti-Defamation League (ADL) gesetzt.
Der ganze Rummel hat leider vergessen lassen, wie herzlich, witzig und sympathisch die Mitglieder von Boy’s Club sind. Zum Glück hat Fantagraphics letztes Jahr (noch vor Beginn des Skandals) alle Geschichten als Taschenbuch veröffentlicht. Boy’s Club besteht aus kurzen Gags ohne Pointe, in denen sich vier Freunde gegenseitig coole Sprüche an den Kopf werfen und Witze über ihre Fürze und Exkremente machen. Die Witze sind teilweise derart doof, dass man darüber lachen muss; der Fäkalhumor ist manchmal allerdings etwas gar krass. Trotz deren Einfältigkeit wachsen die Figuren dem Leser aber schnell ans Herz. Furies einfache, einfarbige Zeichnungen sind im Stil der Underground-Comix der 1970er gehalten.
Der Verlag hat sich zusammen mit Furie öffentlich gegen den Entscheid der ADL gewehrt und versucht, Pepe wieder ins rechte – und nicht etwa rechtsradikale – Licht zu rücken. Furie sieht in Pepe kein Symbol, weder für die Linke noch für die Rechte. Seines Erachtens würde Pepe weder Trump noch Clinton unterstützen. Er würde vermutlich gar nicht wählen gehen.
Giovanni Peduto
Matt Furie: «Boy’s Club».
In englischer Sprache,
Fantagraphics, 180 S., Softcover, einfarbig,
$ 19.99 / CHF 26.40
Am Anfang stand ein Traum, der für kurze Zeit realisiert wurde, um dann am Ende an den eigenen Idealen zu zerbrechen. Essai – der französische Begriff für «Versuch, Probe, Test» – nennt Nicolas Debon seinen Comic über eine Kommune, die es tatsächlich für die kurze Zeitspanne von 1903 bis 1909 in den Ardennen gegeben hat. Die besagte Kommune, die der Anarchist und politische Aktivist Fortuné Henry im Alleingang gründete, trug den Titel «L‘Essai – Communisme Experimental». Im Gegensatz zu seinem Bruder, der mit einem Bombenattentat die Gesellschaft ändern wollte und daraufhin guillotiniert wurde, versuchte Henry, die Menschen mit einer real gelebten unabhängigen sozialen Organisation zu überzeugen, ohne Klassen, ohne Staat, ohne Währung, in der materielle Güter von allen geteilt werden. Hierfür wählte er Aiglemont aus, eine Region, in der es bereits zahlreiche Arbeiteraufstände und Demonstrationen gegeben hatte, in der er sich folglich einer gewissen Unterstützung sicher war. Zunächst wird Henry von der nachbarschaftlichen Dorfgemeinschaft argwöhnisch beobachtet, ja, regelrecht Angst haben sie vor dem Freidenker, der sich ein Stück Land gekauft hat, um es urbar zu machen. Autark und unabhängig ist Fortuné und findet kurz darauf Bewunderer, zunächst aus dem angrenzenden Dorf, die ihn mit Spenden unterstützen, bald aus der gesamten Republik. Mitstreiter subventionieren ihn, glauben an seine Idee und bauen und leben mit ihm «L‘Essai». Die Kommune wächst und wird zum Zufluchtsort für Andersdenkende, Ausgestossene und Idealisten. Für kurze Zeit funktioniert die Gesellschaft ausserhalb der Gesellschaft, doch dann zerbricht sie an den Ambitionen ihres Gründers. Der Comic-Zeichner und -Autor Nicolas Debon fasst die Geschichte in malerische Bilder, die zuweilen grosszügig halb- oder ganzseitig Landschaften abbilden, und deren Figuren in ihren harten und stilisierten groben Konturen an Mattotti erinnern. Dadurch gelingt es Debon eine passende rudimentäre Bildsprache für einen Menschheitstraum zu finden, welcher von der Idee her so simpel ist, aber bisher leider immer wieder an den Menschen selbst scheiterte.
Matthias Schneider
Nicolas Debon: «Essai».
Carlsen, 96 S., Hardcover, farbig,
EUR 19.99 / CHF 31.90
Paul Dini liebte es schon als Kind, Geschichten zu erfinden. Ein kleiner, unscheinbarer Bub, der lieber Abenteuergeschichten liest, als sich für Sport oder Mädchen zu interessieren. Ein richtiger Nerd eben, und darum in der Schule nicht sehr beliebt. Von Mitschülern gemobbt, entwickelt er eine Strategie, die ihn in der Aussenwelt jegliche Tortur ertragen lässt, solange in ihm seine Fantasie weiterlebt. Seine Eltern unterstützen seine fantasievolle Veranlagung, sorgen sich aber um seine Zukunft.
Doch Dini hat aus seiner Leidenschaft seinen Beruf gemacht und ist heute ein erfolgreicher Produzent und Autor im Trickfilm- und Comic-Geschäft. Er ist für seine Mitarbeit an diversen Warner Brothers-Serien wie Tiny Toon Adventures und Batman: The Animated Series bekannt. Ein Nerd ist er geblieben.
Der autobiographische Comic Dark Night – Eine wahre Batman-Geschichte handelt davon. Aber vor allem dreht er sich um einen traumatischen Überfall, der Dini aus der Bahn warf. Auf offener Strasse wurde er brutal zusammengeschlagen und musste lange mit den Folgen der Verletzungen kämpfen. Schmerzen, Medikamente und Alkohol stürzten ihn in eine schwere Depression. Wie in jungen Jahren stehen ihm seine Lieblingshelden bei: Bruce Wayne/Batman, der Joker oder seine eigene Kreation: Harley Quinn. Die Figuren sprechen mit ihm, stellen seine Schwächen bloss und kritisieren seine Unfähigkeit, sich gegen seine Schicksalsschläge zu wehren. Sie helfen ihm dabei mehr, sich mit seinen Ängsten zu konfrontieren, als es seine Therapeutin vermag. Dinis Realität und Fantasiewelt werden dank der vielfältigen Zeichenstile von Eduardo Risso (100 Bullets) bildlich geschickt vermischt; so schaut Dini z.B. mit zertrümmertem Gesicht in den Spiegel, wo er unversehens das Antlitz von Two-Face erblickt. Risso kopiert je nach Situation den Stil von bekannten Batman-Autoren oder zeichnet in der Manier der Warner Brothers-Trickfilme.
Dark Night – Eine wahre Batman-Geschichte ist eine schonungslose Selbstanalyse des Autors und ein mutiger Comic, der die Welt der Superhelden für einmal von einer anderen, realeren Seite her betrachtet.
Giovanni Peduto
Paul Dini/Eduardo Risso: «Dark Night – Eine wahre Batman-Geschichte».
Panini, 128 S., Softcover, farbig,
EUR 16,99 / CHF 23.90
Eigentlich erstaunlich, dass der typische Katz-und-Goldt-Humor auch nach zwanzig Jahren noch so gut funktioniert und keinerlei Abnutzungserscheinungen zeigt. Seit 1996 arbeiten der Bielefelder Zeichner Stephan Katz und der ursprünglich aus Göttingen stammende Kolumnist Max Goldt zusammen. Ihre Comicstrips erscheinen regelmässig
u. a. in der Zeit und Titanic. Alle ein bis zwei Jahre wird zudem ein zumeist grossformatiger Sammelband veröffentlicht. Der neueste trägt den wunderbaren Titel Lust auf etwas Perkussion, mein kleiner Wuschel?, und wer die Katz-und-Goldt-Comics liebt, wird auch diesen lieben.
In gewohnter Manier verarbeiten Katz und Goldt die Absonderlichkeiten, die unsere Gesellschaft immer wieder aufs Neue hervorbringt. Es werden allerlei Betrachtungen über oft profane Begebenheiten angestellt, es wird abgeschweift und sich in Details verloren, anstatt eine echte Handlung aufzubauen. Die klassische Schluss-Pointe bleibt häufig aus, und wenn es denn doch eine gibt, hat sie meistens nichts mit dem Anfang der Geschichte zu tun. Der eigentliche Witz steckt vielmehr in Wortspielereien, den oft skurrilen Dialogen und absurden Situationen. An einer Stelle wird dies sogar von einer Figur kommentiert: «Die Pointendichte ist die zweitblödeste Dichte nach der Clubdichte.» Auch der Sprache selbst wird hier immer wieder zu Leibe gerückt.
Die Zeichnungen von Stephan Katz haben sich im Lauf der Zeit immer weiter von seinem ursprünglichen «Kritzel»-Stil, vom Abstrakten und Grafischen in Richtung des klassischen Cartoons entwickelt, was seinen Bildern mehr Ruhe verleiht. Auch erzählen Katz und Goldt ihre Geschichten mittlerweile in relativ regelmässig angeordneten Panels und meistens über zwei Seiten – wobei sie dabei inhaltlich natürlich weiterhin ihrer ganz eigenen Logik folgen. Am schönsten sind aber die ganzseitigen Einzelbilder, beispielweise der ältere Herr, der, einen zwitschernden Vogel betrachtend, denkt: «So klein, und man hört ihn bis zum Bahnhof. Wie meine Frau, wenn sie Bier trank.» Oder die kleine Maus, die angesichts eines riesigen, auf sie herabstürzenden Raubvogels denkt: «Wäre es nicht eitel anzunehmen, er meint ausgerechnet mich?»
Jan Westenfelder
Katz und Goldt: «Lust auf etwas Perkussion, mein kleiner Wuschel?».
Edition Moderne, 88 S., Hardcover, farbig,
EUR 24 / CHF 29.80
Catherine Meurisse: «Die Leichtigkeit».
Carlsen, 144 S., Hardcover, farbig,
EUR 19.99 / CHF 28.90
Das hat schon etwas Visionäres: François Durpaire hat vor zwei Jahren mit Die Präsidentin einen Wahlsieg von Marine Le Pen im Jahr 2017 imaginiert, und so unwahrscheinlich erscheint das nun leider gar nicht mehr. Wie der Comic die Übernahme der Regierung beschreibt, erinnert dann auch noch an die ersten Wochen nach Trumps Wahlsieg. Im Folgenden wird ein apokalyptisches Szenario durchdekliniert, welches überzeugend aufzeigt, was uns demnächst blühen könnte. So klug die politische und gesellschaftliche Sicht Durpaires ist, so wenig Lust machen Farid Boudjellals Zeichnungen, sich auf sie einzulassen. Wie bereits in dem toll recherchierten Comic Weisse Wölfe von Correctiv zum Thema NSU klaffen Story und Zeichnung sehr auseinander, da die meist auf bearbeiteten Fotos basierten Zeichnungen einer Auseinandersetzung im Weg stehen. Dennoch ist dieser Comic als Agitprop wichtig und bedeutsam, Teil zwei liegt in Frankreich bereits vor.
François Durpaire & Farid Boudjellal: «Die Präsidentin».
Jacoby & Stuart, 160 S., Hardcover, s/w,
EUR 19.95 / CHF 28.90
Fast ein Kriegszustand: Im Baskenland beherrscht der Terrorismus der ETA den Alltag. Miguel, der zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern im Süden Spaniens als Bonbonverkäufer in den Tag hineinlebt, hat damit nichts zu schaffen. Aber der notorische Geldmangel des verhinderten Schriftstellers treibt ihn dazu, über eine Anzeige den Job eines Personenschützers anzunehmen. Davon verspricht er sich nicht nur Geld, sondern auch spannende Erfahrungen für die Geschichten, die er schreiben will. Diese Entscheidung stellt sein Leben auf den Kopf. Mark Bellidos Geschichte ist autobiographisch – das mit der Schriftstellerei hat also doch noch geklappt. Dass der Preis dafür hoch war, erzählt er in seiner Gaphic Novel Mikel, die Judith Vanistendael expressiv und sehr facettenreich umgesetzt hat.
Mark Bellido & Judith Vanistendael: «Mikel».
Reprodukt, 359 S., Hardcover, farbig,
EUR 39 / CHF 52.–
Die britische Illustratorin Jacky Fleming hat sich Das Problem mit den Frauen genauer angesehen. Sie erklärt, warum Frauen in den Geschichtsbüchern nicht vorkommen – weil es keine gab. Und dass es später zwar ein paar gab, aber nur mit kleinen Köpfen – daher waren Männer Genies, während Frauen nur einfache Arbeiten im Haus und Bergbau verrichten konnten. Fleming illustriert ihre kurzweiligen feministischen Ausführungen ebenso fantasie- wie humorvoll.
Nadine Redlich hat sich mit ihren Ambient Comics – Strips aus je sechs Panels, die eine herabbrennende Kerze oder einen vorbeifahrenden Zug zeigen – einen ganz eigenen Zeitzugriff erarbeitet. Mit Paniktotem kommt Gefühl hinzu: In ihrer Begrenztheit hadern teils tragische, teils glückliche Wesen mit ihrem Schicksal oder arrangieren sich mit ihrem Dasein. Steine, Hunde, Kartoffeln, Bohnen tauchen in Redlichs buntem Figurenarsenal auf.
Mit dem grossartigen Hier hat Richard McGuire die Möglichkeiten, mit Comics Zeit zu erzählen, neu ausgelotet. Erzählende Bilder. Sequentielle Zeichnungen aus dem New Yorker ist nun eine umfangreiche Sammlung wortloser Strips, die mit wenigen Mitteln, aber guter Beobachtungsgabe und leisem Humor sowohl Zeit als auch Raum erkunden.
Jacky Fleming: «Das Problem mit den Frauen».
Kiepenheuer & Witsch, 128 S., Hardcover, s/w,
EUR 12 / CHF 17.90
Nadine Redlich: «Paniktotem». Rotopol,
96 S., Softcover, farbig,
EUR 16 / CHF 19.90
Richard McGuire: «Erzählende Bilder.
Sequentielle Zeichnungen aus dem New Yorker».
DuMont, 584 S., Hardcover, s/w,
EUR 25 / CHF 36.90
Was kann uns Pierre Sterckxs Band Tim und Struppi. Die Meisterwerke von Hergé nach Auf den Spuren von Tim & Struppi und Tim & Co des Hergé-Experten Michael Farr noch bieten? Farr hat sich sowohl mit Hergés Biographie und seinen Werken als auch den Figuren von Tintin ausgiebig auseinandergesetzt. Sterckx handelt dies (vielleicht etwas zu ausführlich) ab, legt seinen Schwerpunkt aber auf Hergés Verhältnis zur Kunstwelt – als Liebhaber und Sammler sowie als Maler und Grafiker. Und er spürt dem Einfluss der Bildenden Kunst in seinen Comics nach. Das ist ein interessantes Spannungsfeld und im Band ausgiebig bebildert. Vielschreiber Dietmar Dath, Romanautor, Theoretiker und Journalist, widmet sich ganz im Gegensatz zu seinen meist umfangreichen Romanen im Rahmen der Reclam-Reihe 100 Seiten kurz und knapp dem Thema «Superhelden». Mit dem persönlichen Gestus, den man von ihm kennt, taucht er ein in die Geschichte der Superhelden, erzählt, was sie ihm als Kind bedeuteten und heute noch bedeuten und verallgemeinert sein Erleben zu einer Theorie, in der Superhelden eine wichtige psychologische und soziale Funktion in der Popkultur und nicht zuletzt im Leben der Rezipien-
ten einnehmen. Kurzweilig geschrieben und dennoch sehr tiefgründig, liefert Dath eine Analyse des Genres sowie Interpretationen einzelner Figuren und Werke – gut unterfüttert mit detailliertem Faktenwissen.
Pierre Sterckx: «Tim und Struppi. Die Meisterwerke von Hergé».
Carlsen, 240 S., Hardcover, farbig und s/w,
EUR 49,99 / CHF 68.–
Dietmar Dath: «Superhelden».
Reclam, 100 S., Softcover, s/w,
EUR 10 / CHF 14.90
Mehr Schwarz als Weiss zeichnet die Grafik der libanesischen Künstlerin Zeina Abirached aus: In virtuosem Stil erzählt sie in
Piano Oriental die Geschichte ihres Grossvaters, der ein Klavier mit dem orientalischen Vierton der arabischen Musik konstruiert hat. Dessen Geschichte verknüpft die in Frankreich lebende Zeichnerin mit ihrer eigenen Migration. Die sehr geometrischen und ornamentalen Bilder sind beeindruckend. Und auch wenn man mitunter den Eindruck hat, sie erdrückten die Geschichte ein wenig, spürt man auch Abiracheds erzählerische Qualitäten auf jeder einzelnen Seite.
Zeina Abirached: «Piano Oriental».
Avant, 212 S., Softcover, s/w,
EUR 29.95 / CHF 42.90
Das muss doch irgendwie am Land liegen, dass in Belgien misanthropische Strips wie Dickie oder Kinky & Cosy besonders gut gedeihen. Cowboy Henk ist eine ältere belgische Reihe dieser Gattung. Anfang der 80er-Jahre von Herr Seele und Kamagurka erdacht, erschienen die Strips sogar schon in Art Spiegelmans Raw. Die Titelfigur besticht gleichermassen durch Unbekümmertheit und Naivität, guten Vorsatz und Brutalität. Grenzwertig ist der Humor indes immer.
Herr Seele & Kamagurka: «Cowboy Henk».
Edition Moderne, 122 S., Hardcover, farbig,
EUR 29 / CHF 35.–
No. 10
Antoine Marchalot
*1986 in Brest, Frankreich, hat tatsächlich eine Kunstschule besucht und lebt heute in Paris als Comic-Zeichner und Illustrator. Mitbetreiber des Kleinverlags Arbitraire.
www.arbitraire.fr
www.antoinemarchalot.tumblr.com
No. 15
Sibylle Vogel
*1963 in Mainz, wuchs in Deutschland und Österreich auf. Diese kulturelle Zerrissenheit verarbeitet sie bis jetzt als Zeichnerin mit einer Neigung zu lustigen Wortspielen, zarten Tieren und finsteren Gesichtsausdrücken. Sie hat viele Kinder mit ihren Büchern erschreckt sowie belehrt und ist Mitbetreiberin der Kabinett Passage für Comics und Artverwandtes im Wiener Museumsquartier.
www.sibyllevogel.at
No. 18
Tom Gauld
*1976, wuchs in Schottland auf und lebt heute in London. Seine Comicstrips erscheinen im Guardian, der New York Times und dem New Scientist. Buchveröffentlichungen: Goliath, You’re All Just Jealous of my Jetpack und Mooncop, bei Drawn & Quarterly bzw. Reprodukt.
www.tomgauld.com
No. 23
Anna Haifisch
*1986, zeichnete die Bücher Von Spatz (rotopolpress) und The Artist (Reprodukt). Seit 2013 organisiert sie mit 7 Freunden das Comic-und Grafikfestival The Millionaires Club.
www.hai-life.com
No. 28
Nadine Redlich
*1984 in Düsseldorf, lebt und arbeitet als Cartoonistin in Düsseldorf. Nach ihren spannungslösenden Büchern Ambient Comics und Ambient Comics II erschien letztes Jahr ihr Stresswerk Paniktotem bei rotopolpress.
www.nadineredlich.de
No. 32
Anouk Ricard
*1970 in Istres, Frankreich, ist Comic-Autorin und Illustratorin und lebt heute in Strasbourg. Für ihre eigenwilligen Comics wurde sie mehrfach für die wichtigsten europäischen Comic-Preise nominiert, unter anderem für zwei Alben der Reihe Anna und Froga (auf Deutsch bei Reprodukt).
Wikipedia/Anouk Ricard
Reprodukt/Anouk Ricard
No. 41
Diane Obomsawin
*1959 in Montreal. Preisgekrönte Trickfilmerin und Comic-Zeichnerin, bekannt unter dem Pseudonym Obom. Ihre charmante Sammlung von authentischen Liebesgeschichten On loving women erschien bei Drawn & Quarterly. Einige ihrer Filme kann man hier ansehen:
www.nfb.ca/explore-all-directors …> diane-obomsawin
www.dianeobomsawin.com
No. 49
Jan Soeken
*1980, wuchs am Rande Bremens auf und studierte Comic und Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Im Rahmen seines Studiums entstanden in kleiner Auflage selbstverlegte Hefte mit Comics, Zeichnungen und Malereien. Im November 2014 erschien sein Comicdebüt Friends beim avant-verlag. Jan Soeken lebt und arbeitet in Hamburg.
jansoeken.tumblr.com
No. 53
Mix & Remix
*1958 unter dem Namen Philippe Becquelin in St. Maurice in der Schweiz, am 19.12.2016 verstorben. Er war einer der wichtigsten Cartoonisten der französischsprachigen Schweiz und seit Nr. 12 im STRAPAZIN dabei.
No. 56
Max Baitinger
*1982 in Oberbayern, hat dort eine Schreinerausbildung absolviert. Dennoch lebt er jetzt in Leipzig und zeichnet hauptberuflich Illustrationen und Comics. Buchtip: Röhner, bei rotopolpress.
www.maxbaitinger.com
No. 60
Christoph Abbrederis
*1961, zeichnet neben seiner Tätigkeit als Illustrator (u.a. für den New Yorker) im unseligen 13. Jahr seine autobiographisch motivierte Stripserie Das tägliche Scheitern. Abbrederis erlebt so viel (denkt er), dass er es damit mittlerweile auf 3250 Strips gebracht hat.
www.abbrederis.jimdo.com