LANGE GESCHICHTEN
Beschreibung
128<strong>130
No:129
DAVID SANDLIN
Belfaust, eine Liebesgeschichte
YVES NOYAU
Wie im Paradies
ROBERT DEUTSCH
The Tweedies
MARTIN PANCHAUD
Die Farbe der Dinge
EDITORIAL
Lange Geschichten
David Sandlin
Belfaust, eine Liebesgeschichte
Diese Liebesgeschichte basiert lose auf «Faust» und erzählt die tragische Geschichte eines Paares – oder ist’s ein Trio? – das unter einem schlechten Stern steht. Teuflische Intrigen und mörderischer Streit inmitten der Unruhen der 60er- und 70er-Jahre in Belfast. Von dort geht die Reise in den tiefen Süden der USA. Geplant sind 400 Seiten, deren erste 28 (in unterschiedlich ausgearbeiteten Stadien) wir hier zeigen. (Übersetzung: Christoph Schuler)
Yves Noyau
Wie im Paradies
Diese 42-seitige Geschichte mit durchgehend nackten Hauptfiguren hätte, wie von Yves ursprünglich geplant, dreimal so lang sein sollen. Doch dann kamen dem Zeichner Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Story, weshalb er sie in der Schublade verschwinden liess. Schön, dass wir hier wenigstens ein Fragment abdrucken dürfen!
Robert Deutsch
The Tweedles
Ein 32-seitiger Comic über die Entstehung der Zwillinge Tweedledum & Tweedledee. Frei nach Lewis Carroll aus dem Roman «Alice im Wunderland». 2013 als A6- Fanzine bei Holos Books erschienen.
Martin Panchaud
Die Farbe der Dinge
Von Martin Panchaud haben wir ein Kapitel seines geplanten Buches «Die Farbe der Dinge» erhalten, dessen Protagonisten ausschliesslich als Punkte dargestellt sind. Diese 17 Seiten stehen exemplarisch für Panchauds Werk, das die narrativen Möglichkeiten der Datenvermittlung auslotet. Sein Buch erscheint voraussichtlich 2018 bei der Edition Moderne.
Viel Spass bei der Lektüre.
Claudio Barandun
DAS GESCHRIEBENE WORT
Lasst dicke Romane um mich sein
fabrikanten, keine unglücklichen Familiengeschichten von fickrigen Absolventen der Literaturkurse und Schreibschulen, keine hektische Verwertungsliteratur mit Hoch- glanzautorenfotos und vor allem kein Literaturclub im Schweizer Fernsehen, wo trotz der ideologischen Programmkonstruktion «Die Schweiz im Herzen» immer nur betrunkene Deutsche herumnölen und bluffen und einem die Literatur gänzlich vergällen. Ich darf das sagen, ich bin Deutscher!
An dieser Stelle also nur eine unvollständige Liste und die Ruhe von ein paar tausendseitigen Romanen, zumeist nichts Zeitgenössisches. Stellt sie euch in das Büchergestell, welches ihr im Rücken habt. Das beruhigt und gibt Kraft.
Dass Romane früher dicker waren, erscheint klar. Herman Melville symbolisierte in «Moby Dick» nicht nur archaische Begriffe wie Rache und Sühne, sondern erklärte auch ganz genau, wie das mit dem Fangen der Wale in jener Zeit vor sich ging. Dostojewski wandte sich in seinem letzten Roman «Die Brüder Karamasow» im Vorwort sogar ganz direkt und interaktiv an den Leser: «Ich sehe daher unvermeidlich Fragen voraus wie diese etwa: Inwiefern ist denn Ihr Alexej Fjodorowitsch so bemerkenswert, dass sie ihn zu ihrem Helden erwählt haben? Was hat er Besonderes vollbracht? Wem ist er bekannt und wodurch? Weshalb soll ich, der Leser, Zeit darauf verwenden, die Begebenheiten seines Lebens kennenzulernen? Die letzte Frage ist die fatalste, denn ich kann auf sie nur antworten: Vielleicht werden Sie es selbst aus dem Roman ersehen.»
So viel Wertschätzung der Leserschaft und schriftstellerische Skrupel gibt es heute nicht mehr. Ansonsten geriet Dostojewski in den Vorreden zu seinen Romanen öfters vom Hundertsten ins Tausendste und konnte all die pathologischen Erscheinungen, also auch Mord und Totschlag, für die Lesenden schon mal psychologisch vorerklären.
Charles Dickens beispielsweise exemplifizierte auch gerne alles ganz genau, auch die Moral. Denn keiner aus der damaligen Leserschaft konnte schnell mal was googeln. Man musste schon weiterlesen.
Wenn wir uns diese Romane heute wieder vornehmen, dann blättern wir oft sehr ungeduldig weiter. Oder wir lassen uns mitreissen von der entschleunigten Lektüre. Nun also ein paar Tipps.
Der Vatikan der dicken Romane ist wahrscheinlich Marcel Prousts «À la recherche du temps perdu», auf Deutsch: «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit». In der deutschen Übersetzung der siebenbändigen sogenannten Frankfurter Ausgabe sind das 5300 Seiten. Wahnsinn!
Dreimal habe ich in meinem langen Leben versucht, dieses Werk zu lesen. Mit 20 Jahren war ich eindeutig zu jung dazu. Mit 40 hatte ich zu wenig Zeit und Geduld und mit 60 wollte ich die «Recherche» tatsächlich noch mal anpacken, um einer Frau zu gefallen. Beides hat nicht sollen sein. Ich fand und finde Proust unerträglich.
Sogar Nicolas Mahler braucht in seiner Comic-Version der «Recherche»fast 170 Seiten. So ausschweifend ist er sonst nicht.
Der Schweizer Schriftsteller Matthias Zschokke hat in seinem Buch «Ein Sommer mit Proust» auf knappen 60 Seiten erklärt, warum er Proust nicht so mag: «Was mich am meisten erschöpft hat, ist seine totale Unfähigkeit, irgendwen oder irgendetwas zu lieben.» Dem kann ich mich nur anschliessen.
Als französischen Meister des dicken Romans nehmen wir Victor Hugo, mit seinem grossartigen Werk «Les Misérables» von 1862. Die deutsche Übersetzung mit dem Titel «Die Elenden» hat über 1300 Zeichen, ein Schlaraffenland des Textes also.
Victor Hugo (1802-1885) war Sohn eines napoleonischen Generals und früh davon überzeugt, ein grosser Schriftsteller zu werden. Zuerst als Romantiker («Der Glöckner von Notre Dame»), dann als Realist («Die Elenden»). Politisch wandelte er sich vom Königstreuen zum Republikaner und unterstützte sogar freundschaftlich Louise Michel, Anarchistin und Angehörige der Pariser Kommune.
«Die Elenden» ist eine schrecklich eindrückliche, aber auch sentimentale Geschichte um den edel-
mütigen Valjean, der einst wegen Diebstahls von einem Stück Brot in die Verbannung geschickt wurde, nach der Verbüssung der Haftstrafe geläutert ist, aber von seiner Vergangenheit als Sträfling eingeholt wird. Der Roman spielt am Ende in den 1830er-Jahre und trägt mehr zum Begreifen historischer Zustände bei als manche Fachliteratur.
Kommen wir noch mal zu Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (1821-1881). Gute tausend Seiten hat die deutsche Übersetzung von «Die Brüder Karamasow». Ein elend verdrehtes Drama um einen Vatermord, der sozusagen symbolisch im Wunschdenken der Gebrüder Karamasow vor sich hinschwurbelt, dann aber von einer nichtswürdigen Kreatur namens Smerdjakow ausgeführt wird. Dostojewski verhandelt in diesem Roman alle Probleme von Freiheit und Unfreiheit menschlicher Entscheidungen sowie alle Aspekte von Schuld und Sühne. Und man folgt ihm mit wachsender Begeisterung in ein geradezu erfreulich masochistisches Leseerlebnis hinein.
Von den Engländern haben wir Charles Dickens schon erwähnt. Sein Zeitgenosse William Makepeace Thackeray (1811-1863) hat den Roman «Vanity Fair» geschrieben. «Der Jahrmarkt der Eitelkeiten» hat gut 1100 Seiten in der deutschen Übersetzung. Der Roman erschien 1847/48 als Fortsetzungsroman in der bekannten satirischen Zeitschrift «Punch», für die Thackeray als begabter Zeichner und Karikaturist arbeitete.
Der Roman ohne einen Helden wurde zu einem grossen Erfolg, sein Verfasser erlangte Wohlstand und soziale Anerkennung und wurde daraufhin gleich in vier renommierte Herrenclubs in London aufgenommen. Der Roman spielt in einer Zeit, als in England «Napoleon» das verwerflichste Schimpfwort überhaupt war. Es ist das ironische, manchmal auch tragische Bild einer Gesellschaft, die sich endgültig in Tradition und bequemen Stillstand verrannt hat. Die Menschen dieser Gesellschaft sind von ihren Leidenschaften beherrscht und ursprünglich hehre Ziele werden Korruption und Lügen geopfert.
Upton Beall Sinclair (1878-1968) ist der Bernie Sanders der amerikanischen Literatur. Er wurde von seinem Präsidenten Teddy Roosevelt als «Muckraker» beschimpft, als Schriftsteller, der Staub aufwirbelt und im Dreck wühlt, als er mit «Der Dschungel» die Arbeitsverhältnisse in den Chicagoer Schlachthöfen anprangerte. Mit «Öl!» (gute 700 Seiten in der deutschen Übersetzung) wurde er endgültig zum literarischen Gewissen der USA. Er beschreibt, wie Bunny, Sohn und Erbe des skrupellosen Erdölmagnaten Ross, seine Sympathie für die aus-
gebeuteten Arbeiter entdeckt. Zwischen allen Stühlen hockend, erkennt Bunny, dass das Leben den ehernen Gesetzen von Habgier und Betrug (siehe oben!) gehorcht.
Wie steht es im 20. Jahrhundert mit notorischen Dickbuchschreibern? Umberto Eco und Thomas Pynchon etwa sind Schriftsteller in der Tradition des Grossromans aus dem 19. Jahrhundert. Ecos Roman «Der Name der Rose», ein Welterfolg sondergleichen, beschreibt das Geschehen von sieben Tagen auf etwa 600 Seiten, das ist aller Ehren wert. Die Moral jedenfalls spielt keine so entscheidende Rolle mehr.
Thomas Ruggles Pynchon, 1937 geboren, der geheimnisvolle Autor, der keine Interviews gibt und keine Fotos von sich erlaubt, hat die Zeit voluminöser Bücher offensichtlich hinter sich. Umfasste «Gravity’s Rainbow» (Die Enden der Parabel) von 1973 noch fast 1200 Seiten, so werden seine Romane, zuletzt «Bleeding Edge» im Jahr 2014 mit nur 600 Seiten, jetzt merklich kürzer. Und eingängiger. Aber immer noch schreit aus jedem seiner Pop- und Paranoia-Romane heraus: «Ich scheisse auf den Literaturbetrieb und mache, was ich will.» Das ist selbstverständlich grossartig. «Gravity’s Rainbow» spielt zwischen Apokalypse und Bananenfrühstück. Von der düstersten Weltvernichtungsangst rutscht Pynchon sofort wieder ins Amüsement und umgekehrt. Der Roman hat etwas mit der Nazi-Rakete V2 zu tun und es wird zumeist nicht klar, was halluziniert und was real ist. Besser fast als jede Droge!
Und der deutsche Sprachraum? Grossschriftsteller Günter Grass? Da zitiere ich gerne einen russischen Sozialrevolutionär, mit dem ich einst in Kronstadt stationiert war: «Hab ich Freundin mal gehabt, lange her, hat Butt gelest von Grassschriftsteller, deutsche Schnauzbart. Hat immer geschwärmt, Freundin, nicht Grassschriftsteller, lese sie noch ein Kapitel, dann vielleicht Beischlaf. War ich kabutt nach Butt. Kann ich sagen.»
700 Seiten hat der Butt. Das zieht sich! Die deutsche Hoffnung ist eher Frank Witzel. Sein preisgekrönter und hochgelobter Roman «Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969» hat 800, sein neuester Roman «Direkt danach und kurz davor» immerhin 550 Seiten. Und eine bescheidene Karriere macht er nun auch, spät, aber verdient
BOOKLIST
William Makepeace Thackeray:
«Jahrmarkt der Eitelkeit oder ein Roman
ohne Held»
dtv Taschenbuch, EUR 14,90 / CHF 22.50
Victor Hugo:
«Die Elenden»
Aufbau Taschenbuch, EUR 9,99 / CHF 14.50
Fjodor M. Dostojewski:
«Die Brüder Karamasow»
In der Neuübersetzung von Swetlana Geier.
Fischer Taschenbuch EUR 17 / CHF 24.90
Thomas Pynchon:
«Die Enden der Parabel»
rororo Taschenbuch EUR 16,99 / CHF 24.90
Upton Sinclair:
«Öl!»
btb Taschenbuch, EUR 14,99 / CHF 21.50
Matthias Zschokke:
«Ein Sommer mit Proust»
Wallstein Verlag, 62 Seiten, EUR 12,99/ CHF 17.-
Frank Witzel:
«Direkt danach und kurz davor»
Matthes & Seitz, 544 Seiten, EUR 25 / CHF 35.90
PFLICHT LEKTüRE
diverse IllustratorInnen: Andersen. Die illustrierten Märchen
Ohne Weichspüler
Wer kennt sie nicht, die Märchen von Hans Christian Andersen? Zum Beispiel Die Schneekönigin und Die kleine Meerjungfrau, die längst Klassiker der Kinderliteratur sind, unter anderem auch weil sie – von Disney adaptiert und animiert – regelmässig in die Kinderzimmer gespült werden. Doch liest man die Originaltexte von Andersen, stellt man schnell fest, wie weitaus eindringlicher und komplexer die Märchen sind und welch unterschiedlich intensive Emotionen sie hervorrufen. Lässt man den Disney-Weichspüler weg, eröffnen Hans Christian Andersens Märchen sowohl eine zutiefst faszinierende als auch verstörende Welt, die den Leser an der Tragik der Protagonisten schonungslos teilhaben lässt. Die Kinderbuchreihe des Verlages Gestalten, Kleine Gestalten, hat eine Auswahl der schönsten Andersen-Märchen getroffen und sie von aktuellen Illustratoren und Illustratorinnen aus aller Welt interpretieren lassen. Die zeitlosen Märchen mit den bereits oben genannten Titeln sowie unter anderem Die Prinzessin auf der Erbse, Des Kaisers neue Kleider, Der standhafte Zinnsoldat und Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern erhalten zeitgemässe Illustrationen, welche die aktuell sehr vielfältige Illustratorenszene widerspiegeln. Hervorzuheben sei hier Francesca Sanna, die Die kleine Meerjungfrau grossartig illustriert hat, in aussergewöhnlichen Perspektiven und Bildausschnitten, in einem anmutig kindlichen 60er-Stil à la Alexander Girard. Aber auch die anderen Illustratoren wie Cynthia Alonso, Chisato Shinya und Sandra Beer nehmen sich der Originaltexte behutsam an und lassen sie mit ihren Bildern in einem neuen Gewand erscheinen. Die illustrierten Märchen eignen sich sehr zum Vorlesen, aber auch für Erwachsene, die in längst vergessene Kindheitserinnerungen an Andersens Märchen tauchen möchten.
Matthias Schneider
Hans Christian Andersen/diverse IllustratorInnen:
«Andersen. Die illustrierten Märchen».
Kleine Gestalten, 176 S., Hardcover, farbig,
EUR 19,90 / CHF 28.90
Gabriel Bell: Everything is flammable
Bewusstseinsstrom des Alltäglichen
Der autobiografische Roman von Gabrielle Bell beginnt mit einem Einblick ins Leben der Autorin. Bell ist eine unsichere,von Angstzuständen geplagte Frau, die ihren Alltag mit Ausflügen in den kleinen Gemüsegarten, zur Psychiaterin oder in den Wald verbringt. Geschildert werden ihre täglichen finanziellen Probleme, die Schwierigkeit, sich mit Comics über Wasser zu halten oder Banalitäten wie das Abbestellen ihres Internet-Anschlusses oder die Entsorgung von Düngemitteln.. Ab und zu telefoniert sie mit ihrer Mutter, stets vom schlechten Gewissen geplagt, nie für sie da zu sein. Als ihre Mutter in einem Feuer Hab und Gut verliert, beschliesst Gabrielle von der Ostküste nach Kalifornien zu reisen, um ihr beim Aufbau eines neuen Hauses zu helfen. Sie bekommt so die Gelegenheit, die bisher als schwierig erachtete Beziehung zu ihr zu ändern, mehr mit gemeinsamen Taten als mit Worten. Gabrielle lernt den wortkargen Nachbar Gus kennen, der ab und an ihrer Mutter mit Handwerksarbeiten hilft.Und Gabrielle ist ohnehin erstaunt über die Hilfsbereitschaft, die ihrer Mutter entgegengebracht wird, etwas, was die Autorin aus dem unterkühlten New York nicht kennt.
Everything is flammable basiert auf kleinen, alltäglichen Episoden aus der Gegenwart oder aus der teils traumatischen Kindheit von Bell, die – zusammengefügt ¬– ein komplettes Bild der Seele der Autorin (oder ihres gezeichneten Alter Egos) wiedergeben. Bells Erzählweise erscheint banal, ihre Geschichten ereignislos, sie wirken so dumpf wie die Stimmung der Protagonistin. Doch nach und nach verfällt der Leser dem Bewusstseinsstrom der Erzählerin und gerät mit ihr ins Hadern oder freut sich über das Glück, das sie und ihre Mutter manchmal finden. Bells Zeichnungen sind nervös und detailreich gekritzelt, überfüllen die Seite und ergänzen das Erzählte gekonnt. Sowohl die Zeichnungen als auch die Geschichten sind
schonungslos ehrlich und entwaffnend und bleiben doch ganz unscheinbar.
Giovanni Peduto
Gabriel Bell: «Everything is flammable».
Uncivilized Books, 160 S.,
Hardcover, farbig,
$ 25.95
Frédéric Bézian: Le Courant d’Art. De Byrne à Mondrian
Die Farben der Geometrie
Schon in seinen frühen Comics (z.B. 1989 bis 1993 in der Trilogie um Adam Sarlech, auf Deutsch bei Carlsen und Feest erschienen) verstand es Frédéric Bézian blendend, das vordergründig Offensichtliche mit einem unterschwellig verborgenen Sinn zu versehen. An dieser Anordnung änderte er wenig, als er Musik, Kunst und Architektur für sein Werk entdeckte (z.B. 2007 in Les Garde-Fous oder 2009 in Bourdelle, le visiteur du soir).
In seinem jüngsten Album namens Le Courant d’Art (deutsch: die Kunstströmung) treibt der französische Zeichner sein Spiel der doppelten Lesart auf die Spitze: Inhaltlich verbindet er den Lebenslauf des Niederländers Piet Mondrian (1872-1944), einem Wegbereiter der abstrakten Malerei, mit demjenigen Oliver Byrnes (1810-1880), eines irischen Mathematikers und Pioniers der Visualisierung von Information.
1847 veröffentlichte Byrne ein Buch, in dem er die Elemente der Geometrie (z.B. Vielecke, Kreis und Winkel) grafisch mit den drei Primärfarben Rot, Gelb und Blau darstellte. Damit wollte er den Menschen den Zugang zu den abstrakten Gegenständen der Mathematik erleichtern und ihnen die Schönheit der mathematischen Gedanken passend vermitteln.
Wer heute Byrnes Darstellungen sieht, fühlt sich unweigerlich an die geometrischen Kompositionen Mondrians erinnert, auf denen jeweils schwarze Linien und rechte Winkel eine Menge weisser, roter, gelber und blauer Flächen umgrezen. In dieser Hinsicht erscheint Byrne
wie ein Vorläufer jener Strömung, die von Mondrian und den beiden Künstlergruppen «De Stijl» und «Bauhaus» ausging, und die die Kunst ebenso veränderte wie Architektur, Handwerk und Design.
Bézian verknüpft die beiden Biografien über eine geteilte Vision. Inhaltlich wirkt das leicht künstlich. Doch die Pointe ist eine andere: Produziert ist Le Courant d’Art als zweiseitig bedruckter Leporello, den man wie eine Ziehharmonika ausfalten und in zwei Richtungen lesen kann. Auf der einen Seite entfaltet sich Byrnes Lebenslauf auf zehn doppelseitigen Panels. Auf der andern liest man auf elf Doppelseiten Mondrians Geschichte. Auf diese Weise bemerkt man beim Lesen umso mehr die Übereinstimmungen wie auch die Unterschiede.
Während Mondrian beispielsweise von den konkreten Gegenständen und menschlichen Körpern abstrahierte, versuchte Byrne umgekehrt, die Ab-straktionen verständlich zu machen. Wenn aber Mondrian im letzten Panel auf seinem Sterbebett gesteht, in Byrnes Schuld zu stehen, so schliesst sich die Strömung raffiniert zum Kreis (man muss nur das Album umdrehen…).
Mit Le Courant d’Art gelingt Bézian ein feinsinniger, theoretisch anspruchs-voller und intellektuell verspielter Comic, dessen vielschichtige Bezugnah-men einen beim Lesen zugleich fordern und belohnen.
Florian Meyer
Frédéric Bézian: «Le Courant d’Art. De Byrne à Mondrian».
Éditions Soleil, 54 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 18,95 / CHF 31.70
Roland Burkart: Wirbelsturm
Wirbelsturm
In der Mitte des Buchs rollt Piedro auf seinem neuen Elektrorollstuhl in den Wald und will das neue Freiheitsgefühl geniessen – doch er wird von einem ganz anderen Gefühl überwältigt: «Aus der Tiefe blickte sie mich an. Die Gewissheit, für immer gelähmt zu bleiben.» Die Bilder lösen sich auf; der Wald mutiert zum Wirbel, der zu einem sich bedrohlich aufbauenden Wirbelsturm wächst, bedrückend und erdrückend. «Immer und immer wieder. Bis ich mich damit abgefunden hatte. Ein langer Prozess.»
Es ist nicht einfach, den Autor und Zeichner Roland Burkart nicht mit seinem Protagonisten Piedro gleichzusetzen, denn es ist offensichtlich, dass Burkart in Wirbelsturm auch und vor allem sein eigenes Schicksal als Tetraplegikerverarbeitet. Der 36jährige, in Luzern lebende Burkart ist seit einem Arbeitsunfall Tetraplegiker. Trotz seiner Behinderung hat der ausgebildete Maler in den letzten Jahren an der Hochschule Luzern – Design & Kunst Illustration studiert und sein Studium mit Wirbelsturm abgeschlossen.
Piedro ist seit seinem unglücklichen Kopfsprung in einen See querschnittgelähmt; er kann weder Arme noch Beine gebrauchen. Mit diesem erzählerischen Kniff schafft Burkart Distanz zu sich selber und verdichtet seine eigene Erfahrung mit den Erlebnisberichten anderer zur Erzählung, wie die Behinderung zur neuen Normalität wird. Er schildert diesen Prozess auf eine sowohl direkte als auch unaufgeregte und erstaunlich nüchterne Weise.
Direkt und unaufgeregt sind auch die Zeichnungen. Burkart zeichnet mit der linken Hand und mit beschränkter Bewegungsfreiheit und Kontrolle. Der Strich ist skizzenhaft, unregelmässig und wirkt dadurch sehr verletzlich – mehr als im Text äussern sich die Gefühlswelten in den Zeichnungen. Am eindringlichsten ist Wirbelsturm in den Szenen, in denen sich die Zeichnung von Aussenwelt und Alltag löst, nach innen blickt oder metaphorisch wird: Am Schluss etwa steigt Piedro aus dem Rollstuhl und geht zu Fuss zu seiner Partnerin. Ein Wunschtraum natürlich, und ein Moment grösster Intensität. Schade, dass solche Momente in Wirbelsturm den Reha-Alltag nicht öfter durchbrechen, um einen tieferen Einblick in die emotionale und gedankliche Auseinandersetzung mit dem Schicksalsschlag zu gewähren.
Christian Gasser
Roland Burkart: «Wirbelsturm».
Edition Moderne, 112 S.,
Softcover, s/w,
EUR 19 / CHF 24.—
Katharina Greve: Das Hochhaus. 102 Etagen Leben
Das Hochhaus
Von Woche zu Woche sticht Katharina Greves Hochhaus höher in den Himmel, und wer befürchtet, es würde aufgrund irgendwelcher Konstruktionsfehler in sich zusammenbrechen, sieht sich eines Besseren belehrt – Katharina Greve ist nicht nur eine der besten Comic-Humoristinnen ihrer Generation, sondern hat auch Architektur studiert …
Mit dem im Netz vorveröffentlichten Das Hochhaus. 102 Etagen Leben pflanzt Greve einen beeindruckenden Wohnturm mitten in unsere Welt und entwirft auf ihrem Streifzug von Stockwerk zu Stockwerk mit leichter Hand und feinem Humor eine vergnügliche Comédie humaine der Gegenwart. 102 humoristische Miniaturen, 102 aus dem Alltag gegriffene Szenen mit mehreren Hundert sehr unterschiedlichen Figuren, die so gut wie die ganze Bandbreite unserer Erfahrungen verarbeiten. Im Vordergrund steht der Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner dieses Hochhauses, die alle in einer exakt gleich geschnittenen Wohnung leben, von der wir Küche, Eingang und Wohnzimmer sehen: Routine, Langeweile, Hausaufgaben, Liebe, Beziehungsknatsch, Messies, Affären, zu viel und zu wenig Arbeit etc. Immer wieder dringt die grosse weite Welt in diesen Mikrokosmos ein und hinterlässt seine Spuren: Flüchtlinge, Terrorismus, der Literaturnobelpreis für Bob Dylan und anderes. Nicht zuletzt verknüpft Greve gewisse Paare, Familien und ihre Geschichten über meh-
rere Stockwerke hinweg zu mehrteiligen Mini-Soaps.
Das alles kommt wunderbar leicht daher, klingt verblüffend echt und authentisch und wirkt trotz der vermutlich anspruchsvollen konzeptionellen Planung spontan und improvisiert. Auch vor der architektonischen Leistung Greves darf man ruhig den Hut ziehen. Hoffentlich kriegt sie für ihr bereits mit dem Max-und-Moritz-Preis ausgezeichnetes Hochhaus nicht nur Comic Awards, sondern auch den einen oder anderen Preis an einem Architekturwettbewerb …
Christian Gasser
Katharina Greve: «Das Hochhaus. 102 Etagen Leben».
Avant Verlag, 56 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 20 / CHF 29.90
Reinhard Kleist: Nick Cave. Mercy On Me
Blick in den Abgrund
Lange ersehnt, nun ist er endlich erschienen, Reinhard Kleists Comic über Nick Cave. Wie bei seiner erfolgreichen Comic-Biografie über Johnny Cash verwendet Kleist auch hier den Kunstgriff, Autobiografisches mit fantastischen und zum Teil surrealistischen Elementen zu verweben. Kleists ausdrucksstarke Schwarzweissbilder, die geprägt sind von einem expressiven Strich, sind wie geschaffen für Nick Caves düsteres Erscheinungsbild: eng geschnittener Anzug, schmale Krawatte und zurückgekämmte Gel-Frisur – als wäre er Mitglied von Tarantinos Reservoir Dogs. Bereits als Jugendlicher soll der spätere Sänger sich gerne extremen Situationen hingegeben und sein Leben bei diversen Mutproben aufs Spiel gesetzt haben. Während sein Vater ihm zuhause zum Einschlafen Dostojewski und Shakespeare vorlas, schaffte sich der Jugendliche in den australischen Outskirts seine persönlichen Dramen im realen Leben. Sein Leben der Extreme kulminiert in der Punkband Birthday Party, bei der er Sänger wird. Sie liefern sich Schlägereien mit Skinheads auf der Bühne, oder sind so betrunken, dass sie von derselben fallen. Ihre Hartnäckigkeit bringt sie von Australien nach London, wo sie sich von Club
zu Club ein Publikum erspielen, nicht zuletzt aufgrund ihrer Bühnenpräsenz. Auf ihrem Höhepunkt verlässt Cave schliesslich die Band, angewidert von der Anbiederung an das Publikum. Und so wird Birthday Party nur eine Station in Caves Leben, denn er befindet sich nie im Sein, sondern stets im Werden. Er entscheidet sich nach Berlin zu gehen und arbeitet an seiner Solokarriere mit den Bad Seeds (bei denen Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten Gitarre spielt) und beginnt, an seinem ersten Buch zu schreiben. Kleist erzählt den Werdegang Caves aus verschiedenen Perspektiven, sowohl aus der seiner Wegbegleiter als auch aus der Sicht der Protagonisten seiner Songtexte. Diese verfluchen ihren Schöpfer Cave, der sie morden, rauben und leiden lässt, und durch die Niederungen des Lebens treibt. Nick Cave von Reinhard Kleist ist ein vielschichtiger und aufwühlender Comic, der sich immer wieder von der Biografie des Ausnahmesängers löst und einen Blick in den Abgrund seiner selbstgeschaffenen Welt wagt.
Matthias Schneider
Reinhard Kleist: «Nick Cave. Mercy On Me».
Carlsen Comics, 328 S.,
Hardcover, s/w,
EUR 24,99 / CHF 35.90
Olivier Kugler: Dem Krieg entronnen
Weder Krieg noch Paradies – was syrische Flüchtlinge berichten
Obwohl der Krieg in Syrien fast wöchentlich in den Nachrichten ist, wissen wir in Europa wenig über die Menschen, die vor ihm fliehen. Ihre Gedanken und Gefühle, ihre Erfahrungen und Beweggründe bleiben vielen von uns fremd. Die Vogelperspektive der Kriegsbericht-erstattung und der Flüchtlingspolitik führt uns nicht zur Realität der Geflüchteten,
sie gibt den Blick nicht frei auf die Situ-ation der Gestrandeten, ihr Leiden, ihren Lebensdrang und ihre Hoffnung.
Der deutsche Illustrator und Reportage-Zeichner Olivier Kugler hat die syrischen Flüchtlinge zwischen 2013 und 2017 in verschiedenen Lagern im irakischen Kurdistan, auf der griechischen Insel Kos und im französischen Calais besucht sowie mit Syrerinnen und Syrern gesprochen, die in England oder Deutschland Asyl erhalten haben. Sein Album Dem Krieg entronnen. Begegnungen mit Syrern auf der Flucht überbrückt die Kluft und rückt die Menschen und ihre Motive in den Vordergrund.
Am Beispiel von rund 60 Flüchtlingen zeigt Kugler auf, was es heisst, von einem Tag auf den andern sein Heim und Zuhause verlassen zu müssen, weil Helikopter, Panzer oder Soldaten aufkreuzen und ganze Wohnviertel bombardieren und zerstören. Er stellt die einzelnen Schicksale vor und gibt zugleich einen allgemeinen Einblick in die Lebens-
situation der Geflüchteten.
Kugler zeigt uns die Menschen klar und unaufgeregt in Form ganz- und doppelseitiger quasifotografischer Porträts. Die Unruhe kommt von innen, aus den Erfahrungen. Entsprechend verwebt Kugler seine Porträtbilder mit einem Geflecht von Beschreibungen und Anmerkungen. Zudem schimmern die Lebensumstände anhand vieler kleiner, oft schemenhafter und nur teils kolorierter Details durch – etwa aufgrund von Legosteinen und englischer Bücher oder Plastikblumen und Pappkartons.
Kugler führt uns vor Augen, wie sich die Flüchtlinge, egal, ob Schafhirt, Computerspezialist, Physikstudentin, Physiotherapeutin oder Frisör, ihren Alltag und ihr Einkommen in der Fremde neu organisieren und wie sie mit ihrer Zukunftslosigkeit umgehen und damit, dass ihre Familien oft weiträumig voneinander getrennt leben: von den Emiraten über Ägypten, die Türkei und Bulgarien bis nach England.
Nüchtern in der Vermittlung der Fakten und Umstände, berührend in der Wirkung, räumt Kuglers Reportage mit manchem Vorurteil auf: «Europa ist nicht unser Traumziel. Es ist nicht das Paradies. Es ist nicht der Himmel», sagt ein Syrer am Strand von Calais, «Ich wäre lieber in Syrien, aber ohne Krieg.»
Am Ende bleibt die beunruhigende Einsicht, dass diese Menschen dem Krieg zwar entronnen sind, dass sie aber seine Nachwirkungen noch lange ertragen müssen – vielleicht ihr ganzes Leben lang. Rabies Familie etwa erschrickt selbst im sicheren Deutschland, wenn ein Zug über eine Eisenbahnbrücke rattert oder wenn sie ein Flugzeug oder einen Helikopter hört.
Florian Meyer
Olivier Kugler: «Dem Krieg entronnen».
Edition Moderne, 80 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 24,80 / CHF 29.80
Ulli Lust: Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein
Leidenschaft ohne Reue
Ulli Lust hat mit ihrem autobiografischen Graphic-Novel-Debüt Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens ihre Meisterschaft im visuellen Erzählen bezeugt und mit ihrer nicht minder gelungenen Adaption von Marcel Beyers Roman Flughunde bewiesen, dass sie nicht nur aus ihrem eigenen Leben schöpfen kann. Insofern kann sie sich in ihrem neuen Werk Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein wieder in aller Ausführlichkeit einer Fortsetzung ihres Debüts widmen. In ihrem Erstling erzählte die Autorin, wie sie als noch nicht volljähriger Punk mit einer Freundin nach Italien trampt und auf dieser Reise allerhand übles Zeug erlebt, das ihr Leben nachhaltig verändert – nicht nur, weil sie am Ende der Reise schwanger ist. Die schwangere, 17-jährige Ulli aus ihrem Erstling ist in Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein nun 23 Jahre alt, ihr bei Ullis Eltern lebender Sohn ist fünf. Zwischen Geldnot und dem Wunsch, künstlerisch zu arbeiten, hangelt sie sich in Wien orientierungslos durch das Leben. Mit ihren Mappen wird sie an den Kunsthochschulen abgelehnt, etwas anderes als Zeichnen will sie aber nicht machen. Vor allem aber ist sie in dieser Zeit hin- und hergerissen zwischen der platonischen Liebe zu dem älteren Schauspieler Georg und dem vor allem körperlichen Verhältnis zu dem leidenschaftlichen Afrikaner Kimata. Die Protagonistin droht, sich in ihren eigenen Bedürfnissen, den Erwartungen ihrer Liebhaber und dem Kulturclash mit Kimata zu verlieren. Zwar scheinen sich die drei Beteiligten halbwegs einig zu sein in ihrer unüblichen Konstellation. Doch gegenüber Georg ist Ulli nicht ganz ehrlich, und Kimata wird zunehmend besitzergreifend – und auch gewalttätig. Ulli Lust erzählt auch jetzt wieder schonungslos von ihrem Lebensweg mit allen Irrwegen. Ihre Qualitäten als weitgehend egoistische Wochenendmutter stellt sie ebenso in Frage wie ihre Rolle in der Dreierbeziehung. Aber die heute erzählende Ulli Lust kann ihre Protagonistin auch annehmen, zeigt Verständnis für ihre Lage und legt auch die Schwächen ihrer Umwelt dar. Für ihre Lust am Leben und ihre Lust an der Lust – der Comic ist durchzogen von expliziten Sexszenen zwischen ihr und Kimata – entschuldigt sie sich mit diesem Comic jedenfalls nicht. Und so sind auch diese über 360 Seiten Autobiografie wieder voller Vitalität. Der Comic erzählt auf bewegende Art – voller Energie, Selbstzweifel, Leidenschaft und Skepsis zugleich – von einer langsamen Selbstfindung.
Meyer Proepstl
Ulli Lust: «Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein».
Suhrkamp, 367 S.,
Softcover, farbig,
EUR 25 / CHF 36.90
Grant Morrison/Chris Burnham: Nameless
Namenloser Horror
Der Schotte Grant Morrison (2000 AD, The Invisibles, Batman) ist heute ein gefragter und gefeierter Comic-Autor und gehört zusammen mit seinen britischen Kollegen Alan Moore und Neil Gaiman zu den erfolgreichsten Schaffern von Comic-Erzählungen. Eines seiner narrativen Kennzeichen ist das Erzählen in nicht linearer Form und die Verwendung von Theorien aus der Magie. In Nameless lässt er sein ganzes Wissen über Okkultismus, Mystizismus und parallele Realitäten in ein chaotisches Weltuntergangsabenteuer.
Der Okkultismus-Experte Nameless wird von einem Millionär auf eine Weltraumexpedition geschickt, um zusammen mit einem Team von Astronauten die drohende Kollision der Erde mit dem Meteoriten Xibalba zu stoppen. Doch wozu benötigt man dafür einen Okkultisten? Der eigentliche Plan ist, eine Lebensform auf dem Meteoriten zu stoppen, einen antiken Gott, der einen grossen kosmischen Krieg vor vielen Millionen Jahren überlebt hat und nun das gesamte Universum zerstören will. Nicht zufällig trägt der Meteorit den Namen für die Unterwelt der Maya-Mythologie (Xibalba bedeutet «Ort der Angst» in der Maya-Sprache). Nameless’ Aufgabe ist es, die Astronauten mit seinem Mystik-Wissen so lange wie möglich vor bösen Geistern zu schützen (unter anderem mit okkulten Bemalungen auf den Raumanzügen). Gleichzeitig wird die Haupthandlung von traumähnlichen Sequenzen unterbrochen, in denen Nameless von einer geheimnisvollen verschleierten Frau gejagt wird. Diese surrealen Episoden nehmen im Verlauf der Geschichte vermehrt zu und am Ende ist nach gewohnter Manier von Grant Morrison nichts so, wie es scheint.
Nameless packt alle möglichen Genres und religiöse Theorien in die Geschichte rein: Abenteuer, Science-Fiction, Mystik/Magie, Horror, Mythologien der Maya und aus Polynesien, Theorien des Okkultisten Aleister Crowley und Anlehnungen an H.P. Lovecrafts Horrorgeschichten. Die Lektüre ist anstrengend, sei es wegen mangelnder Kenntnis über oben genannte Anspielungen oder wegen der krassen Darstellung von verstümmelten Körpern aus der Feder des Zeichners Chris Burnham (der teilweise gute Bildkompositionen liefert, seine Zeichnungen wirken jedoch wie schlechte Kopien des begabten Frank Quitely, mit dem Morrison oft zusammenarbeitet). Nach einer ersten Lektüre wird man das Buch vermutlich mit Unverständnis zuklappen. Mit Hilfe von Morrisons Anmerkungen am Ende des Buches kann man einer wiederholten Lektüre vielleicht mehr abgewinnen. Ein ausgeprägtes Flair für das Okkulte und für Splatter sollte der Leser aber mitbringen.
Giovanni Peduto
Grant Morrison/Chris Burnham: «Nameless».
Cross Cult, Ludwigsburg 2017, 192 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 25 / CHF 36.90
Charlotte Salomon: Leben? Oder Theater?
Ein ganzes Leben
«Heben Sie das gut auf, das ist mein ganzes Leben!», bittet Charlotte Salomon im Sommer 1943 Dr. Moridis, einen befreundeten Arzt im französischen Villefranche-sur-Mer, und übergibt ihm ihr gesamtes künstlerisches Werk, über 1000 Gouache-Bilder, von denen 789 ihre Bild-Autobiografie Leben? oder Theater? bilden. Kurz darauf wird die aus Berlin stammende Jüdin, 26-jährig und im fünften Monat schwanger, deportiert und in Auschwitz ermordet. Moridis hält sich an ihre Bitte und übergibt 1947 das Vermächtnis an Charlottes Vater Albert Salomon, der die Verfolgung überlebt hat. So konnte eines der ungewöhnlichsten und interessantesten Zeugnisse deutsch-jüdischer Kunst und Zeitgeschichte gerettet werden.
Leben? oder Theater? erzählt die Geschichte der Berliner Familie Salomon von 1913 bis 1940 aus der Perspektive Charlottes. Die mit Texten kombinierten Gouache-Bilder sind einzigartig in der europäischen Kunst der ersten Jahrhunderthälfte: zwar hatten Avantgardisten schon mit Text-Bild-Kombinationen gearbeitet, aber nicht, um eine zusammenhängende Handlung zu erzählen, sondern um mit der bürgerlichen Vorstellung von Kunst zu brechen. Einige der Bilder erinnern an Egon Schiele oder Vincent van Gogh, andere in ihrer Flüchtigkeit an Marc Chagall, wieder andere sind in ihrer Modernität Nachkriegs-Avantgardisten wie Mark Rothko ähnlich. Herkömmliche Gattungseinteilungen können das Werk Salomons nur schwerlich fassen, sie selber beschrieb es als Singspiel. Das Narrative und die in die Bilder integrierten Dialoge wiederum lassen an einen Comic denken, viele Sequenzen scheinen auch vom Film beeinflusst. Leider legt diese erste Ausgabe des Werkes in Deutschland keinen Wert auf die narrativen Qualitäten und bietet lediglich eine auf 450 Bilder gekürzte Ausgabe an, wodurch es seines ursprünglichen Charakters und seiner Anlage als erzählerisches Bildwerk beraubt ist.
Am besten betrachtet man Leben? oder Theater? als singulär in der Kunstgeschichte, das neben dieser Avantgarde-Stellung als Kunstwerk gleichzeitig auch als dokumentarisches Werk zum jüdischen kulturellen Leben in der Weimarer Zeit funktioniert. Ein wohl einzig-
artiges Zeugnis, das Bezug nimmt zum zunehmenden Antisemitismus, zur Macht- ergreifung durch die Nationalsozialisten und zur Situation jüdischer Exilanten. Salomon nutzt Strukturen fiktionalen Erzählens, um die Realität zu erkunden, versucht, die Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend aus dem französischen Exil heraus zu rekonstruieren, Bilder für diese zu finden und daraus eine Erzählung zu komponieren. Und nicht zuletzt ist das Malen auch eine Form von Therapie, um die Einsamkeit des Exils ertragen zu können. Der Zyklus zeigt ebenso die Hoffnungen assimilierter deutscher Juden, die wie Charlottes Vater im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatten, auf diese Weise endlich nicht mehr auf das Jüdischsein reduziert zu werden, und wie trügerisch diese Hoffnung angesichts des tief verwurzelten deutschen Antisemitismus war. Finden kann man in Leben? oder Theater? eine Menge: ein «ganzes Leben», mindestens.
Jonas Engelmann
Charlotte Salomon: «Leben? Oder Theater?».
Taschen, 600 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 30 / CHF 43.90
AUTORTITELXXXXXXXXXX
Zwischen Mystik, Aufklärung und Betrug
Stupor Mundi, das war schon zu seinen Lebzeiten der Zusatzname von Friedrich II. von Hohenstaufen (1194-1250), König von Sizilien und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Trotz des Titels von Néjibs Comic Stupor Mundi. Das Staunen der Welt ist aber nicht der König die Hauptfigur, sondern der arabische Gelehrte Hannibal. Nicht der historische Hannibal mit den Elefanten in den Alpen, sondern ein fiktiver orientalischer Wissenschaftler, der von Friedrich nach Apulien geholt wird, um eine seiner Erfindungen – eine Art prähistorische Fotografie, die per Lichteinfall auf mit Chemikalien getunkten Leintüchern bleibende Abbilder der Realität erschafft – zu vollenden. Doch gerade das Bleibende an den Abbildern ist bislang das grosse Problem der Erfindung. Denn Hannibal erhält zwar stets ein Abbild, doch das verschwindet nach kurzer Zeit wieder. Hinter Friedrichs Plänen steckt nicht nur sein Interesse für Wissenschaft und den Orient, sondern vor allem seine Feindschaft zum Papst. Daher will er in guter alter Fake-News-Tradition mit Hannibals Hilfe das Grabtuch Christi samt Abbild des Heilands herstellen. Eine solche Reliquie würde ihm im Machtkampf mit dem Papst einen guten Vorteil verschaffen.
Néjib, der für Stupor Mundi 2016 in Angoulême mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde, erzählt in schlichten, aber ausdrucksvollen Zeichnungen, die an die Schule einiger L‘Association-Zeichner erinnert. Sowohl in Bezug auf das Genre als auch den Erzählstil lässt Néjib den Leser lange, wenn nicht bis zuletzt, im Unklaren. Mit Hannibals Tochter steht ein zugleich niedliches wie keckes Mädchen im Zentrum der Handlung und einige groteske Details versprechen immer wieder Humor. Doch von Anfang an schwebt etwas Unheilvolles über dem Geschehen, das sich nach und nach über mittelalterliche Traumdeutung offenbart, aber auch in der Realität zunehmend Bahn bricht, bis die Grausamkeit, die man von einem Mittelalter-Thriller erwarten darf, offen zu Tage tritt. Doch Selbstzweck ist bei Néjib gar nichts. Vielmehr führt er uns in einem langen Erzählbogen zu philosophischen Fragen, die man nicht simpel stellen, geschweige denn beantworten kann. Die auf einem historischen Gerüst ruhende fiktive Geschichte mit beeindruckendem Gespür für Dramaturgie hinterlässt den Leser reich an Gedanken.
Christian Meyer-Pröpstl
Néjib: «Stupor Mundi. Das Staunen der Welt».
Schreiber & Leser, 288 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 29,80 / CHF 42.90
Barbara Yelin/Thomas von Steinaecker: Der Sommer ihres Lebens
Früher raste die Zeit
«Alles, was möglich ist, geschieht auch», sagte der amerikanische Physiker Bryce DeWitt. Die Astrophysikerin Gerda Wendt ergänzt: «So sehr ich mir den Kopf darüber zerbreche, bleibt am Ende immer nur eine Möglichkeit übrig. Und eine Wirklichkeit.» Diese eine Wirklichkeit ist nicht immer schön, doch sie ist das Leben, das man lebt. Gerda Wendt blickt als alte Frau im Pflegeheim auf ihr Leben zurück, eher interessiert als resigniert, ohne Trauer oder Groll, aber auch ohne sich zu schonen, sich das gelebte Leben schönzureden. Die Geschichte beginnt in Gerdas Kindheit, schon früh, schon früh blickt sie zu den Sternen auf, Zahlen und das All bestimmen zunächst ihren Weg, welcher auch zu einem Doktortitel in Astrophysik führt. «Früher raste die Zeit», denkt sie, als sie sich an die Jahre der grossen Liebe und Familiengründung erinnert, die Geburt ihrer Tochter, den zermürbenden Alltag, Streit, Affären und schliesslich die Scheidung. Auf nur zwei Buchseiten rasen Barbara Yelin und Thomas von Steinaecker durch diese Ereignisse, durch die Lebensjahre, die dem titelgebenden «Sommer ihres Lebens» folgten, dem Sommer des Verliebtseins und des beruflichen Erfolgs, und des Sommers der Entscheidung: gegen die wissenschaftliche Karriere und für die Familie. In der Gegenwart schleicht die Zeit dahin, Tag für Tag die gleichen Routinen, Pflegesituationen, der Garten, der Park, das Bett. Yelin und Steinaecker gelingt es, die vergehende Zeit, die unterschiedliche Wahrnehmung von Zeit, in Worte und Bilder zu fassen. Die sich wiederholende Zeit wird in kleinen Zeichnungen in blassen Farben festgehalten, die rasende Zeit in Der Sommer ihres Lebens in warmen Brauntönen und schnellen Dialogen, und die Zeit des Erinnerns, die Suche nach der verlorenen Zeit, in Grün und Blau. Für den Moment des Todes wählen Yelin und von Steinaecker schliesslich einen distanzierenden Blau-Grau-Ton – verbunden mit der Entscheidung: «Ich bleibe hier.» All das zusammen ergibt eine Wirklichkeit, ein Leben, das zu Ende geht, voller Entscheidungen und Zufälle. Ein Leben, das zunächst gewöhnlich erscheint, dem die Zeichnerin und der Autor jedoch das Besondere einhauchen, das Bleibende, Unvergängliche. Nach vielen Abzweigungen auf dem Lebensweg blickt Gerda als alte Frau wieder in die Sterne: «Die einzelnen Punkte ergeben ein Ganzes. Auch die, die nicht so hell sind.»
Jonas Engelmann
Barbara Yelin/Thomas von Steinaecker: «Der Sommer ihres Lebens».
Reprodukt, 80 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 20 / CHF 28.90
Yunbo: Je ne suis pas d‘ici // Samir Dahmani: Je suis encore là-bas
Weder hier noch dort zu Hause
Das Fremdsein in einer Kultur und die Entwurzelung aus der eigenen sind gemeinsames Thema zweier Comics, die bei französischen Verlagen erschienen sind. Die Autorin und Zeichnerin Yunbo aus Südkorea erzählt in Je ne suis pas d‘ici die Geschichte von Eun-mee, die zum Kunststudium nach Frankreich kommt und lernen muss, sich in der Sprache und dem Alltag des Landes zurechtzufinden; Yunbos französischer Kollege (und Partner) Samir Dahmani lässt in Je suis encore là-bas die Koreanerin Sujin mit der Gesellschaft hadern, in die sie vor zwei Jahren nach einem längeren Aufenthalt in Frankreich zurückgekehrt ist. Yunbo und Samir Dahmani haben sich im Comic-Studiengang der Kunsthochschule École européenne supérieure de l’image in Angoulême kennengelernt. Ihre Comics korrespondieren thematisch und haben Parallelen, lassen sich jedoch unabhängig voneinander lesen.
Da wäre also zunächst Je ne suis pas d‘ici. Mit weichen Graphitstrichen und grauen Schattierungen zeichnet Yunbo die Reise ihrer Protagonistin Eun-mee nach: von Seoul nach Paris, weiter ins westfranzösische Angers und später nach Angoulême – ganz ähnlich, wie Yunbo selbst es gemacht hat, um sich nach einem Jahr Sprachschule im Land der Bandes Dessinées ausbilden zu lassen. In Panels, die vor Detailfülle fast zu bersten scheinen, schildert Yunbo, wie die junge Koreanerin all die neuen Eindrücke auf sich einprasseln lässt. Eun-mee stellt verblüfft fest, dass in Frankreich fremde Menschen einander grüssen, fasziniert schiesst sie ein Foto vom WC am Flughafen, staunend läuft sie mit Rucksack und Rollkoffer durch ruhige Wohnstrassen der mittelgrossen Stadt Angers: «Wow, das ist so exotisch, ich fühl mich wie in einem Film.»
Nach und nach kommt Eun-mee besser mit der fremden Sprache zurecht, kennt das Sortiment im Supermarkt, begrüsst Freunde selbstverständlich per bise und eröffnet ein Konto. Aber das Gefühl des Andersseins bleibt, und dafür steht eine Metapher: Kurz nach ihrer Ankunft stellt Eun-mee beim Blick in ein Schaufenster fest, dass ihr Kopf sich in den eines Hundes verwandelt hat; statt der langen Haare fallen jetzt Schlapp-ohren mit langem Fell über die Schultern und eine Schnauze ragt aus dem Gesicht. Zunächst schockiert über diese Metamorphose stellt Eun-mee aber fest, dass ausser ihr offenbar niemand ihren Hundekopf bemerkt.
Das Sprachdiplom nach einem Jahr in der Tasche, zieht Eun-mee nach Angoulême, um dort an der Kunsthochschule zu studieren. Statt des Wohnheimzimmers mit geteiltem Bad hat sie nun ein kleines Appartement für sich, ein französischer Kommilitone wird ihr Freund. Aber so sehr sie Fortschritte in der Sprache macht und versucht, sich zu integrieren – solange sie in Frankreich ist, behält sie den Hundekopf und arbeitet sich immer wieder an kulturellen Unterschieden und Erwartungen ab. Nach drei Jahren zurück in Seoul, hat sie zwar ihr menschliches Gesicht wieder, aber es fällt ihr nun schwer, sich in der koreanischen Gesellschaft zu Hause zu fühlen. Das schildert die Protagonistin anhand innerer Monologe und in Kommentarkästen, sie lässt die Leser gewissermassen direkt in ihre Seele blicken.
Anders geht Samir Dahmani bei Je suis encore là-bas vor. Seine Hauptfigur Sujin durchlebt eben diese Entfremdung, deren Erfahrung Eun-mee bevorsteht. Sujin betreut im Auftrag ihrer Firma den französischen Geschäftsreisenden Daniel, dolmetscht für ihn und führt ihn herum. Sujin vertraut Daniel ihr Hadern an, öffnet sich ihm nach und nach und reflektiert ihre Situation in diesen Gesprächen. Zwischen den beiden entwickelt sich keine Liebesbeziehung, aber grosse Vertrautheit. Und trotz eines schweren Abschieds scheint Sujin am Ende mit Daniels Hilfe ein bisschen Frieden in ihrer Situation zu finden.
Grafisch ist dieser Comic völlig anders als sein Pendant: Samir Dahmani zeichnet ebenfalls von Hand auf Papier, aber er tuscht seine Vorzeichnungen. Sein Strich wirkt sehr viel schneller hingeworfen, mit vibrierenden Linien, engem Gestrichel und viel Weissraum, alles in allem eher skizzenhaft.
Auch in diesem Buch gibt es für die Entfremdung eine Metapher: eine traditionelle koreanische Maske in leuchtendem Rot, hinter der sich Sujin – 33 und noch unverheiratet – während der Hochzeit ihrer jüngeren Cousine verschanzt. Später, im Gespräch mit Daniel, der sie zum Lachen bringt, zerbröckelt die Maske und Sujins Gesicht, umrahmt von einem schwarz glänzenden glatten Kurzhaarschnitt, kommt wieder zum Vorschein. Während Sujin die Maske trägt, ist ihr Kleid in hellblauer Wasserfarbe gehalten, das sind die einzigen Farbakzente in diesem Comic.
Die Koreanerin Yunbo hat für ihre Abschlussarbeit in Angoulême die Unterschiede zwischen koreanischen Manhwa und französischen Bandes Dessinées untersucht, wie im Vorwort ihres Buchs zu lesen ist. Sie bringt es auf den Punkt: «In Frankreich liest man einen Comic; in Korea schaut man ihn an.» Dazu passt, dass ihre Zeichnungen sehr viel aufwändiger und ausgearbeiteter wirken, die Erzählung aber weniger dynamisch daherkommt als die von Samir Dahmani.
Barbara Buchholz
Yunbo: «Je ne suis pas d‘ici».
Vraoum warum, 146 S.,
Softcover, farbig,
EUR 16 / CHF 21.90
Samir Dahmani: «Je suis encore là-bas».
Steinkis, 152 S.,
Softcover, farbig,
EUR 16 / CHF 21.90
Kurz und Gut
von Christian Meyer-Pröpstl
Marc-Antoine Mathieu ist nicht zuletzt durch seine Reihe über den Büroangestellten Julius Corentin Acquefacques bekannt für seine kafkaesken Geschichten, die den Leser mit narrativen Experimenten in Atem halten. Sein neustes Werk Otto handelt von einem Performance-Künstler, der sein eigenes Ich ergründet und das Sein zwischen subjektiver und vermeintlich objektiver Wahrnehmung erforscht. Anders als bei der Julius-Reihe steht nicht das formale Experiment im Mittelpunkt, das dann zu diversen Gedankenspagaten führt, sondern der philosophische Gedankenspagat an sich. Die Schlagseite wird zwar durch die Bebilderung mit allegorischen Zeichnungen kompensiert, die ästhetische Begeisterung für die Julius-Reihe mag sich dieses Mal aber nicht vollständig einstellen.
Marc-Antoine Mathieu: «Otto».
Reprodukt, 88 S.,
Hardcover mit Schuber, s/w,
EUR 20 / CHF 28.90
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Migrationsschicksale: Ein Glossar oder Fuss- noten gibt es in Comics häufiger. Dass die Fussnote aber zum Erzählprinzip erhoben wird, ist selten der Fall. Nacha Vollenweider tut dies in ihrem in atmosphärischen Schwarzweiss-Zeichnungen gehaltenen Debüt, und nennt es dann auch konsequent Fussnoten. Sie sitzt mit ihrer Freundin in der Hamburger S-Bahn, und während sie so fahren und aus dem Fenster blicken, werden ihre Gedanken immer wieder auf ihre Herkunft geworfen, die in erzählerischen Einschüben beleuchtet wird: Vollenweider ist das Kind argentinischer Exilanten, die in den 70ern vor der Junta flohen. Ihr Familienstammbaum wiederum wurzelt in einem Schweizer Dorf.. Zwischen Hamburg und Argentinien tun sich immer wieder Parallelen, aber natürlich auch Widersprüche auf, die Vollenweiders Zerrissenheit zwischen den Kulturen kennzeichnen.
Birgit Weyhe hat bereits mehrere autobiografisch inspirierte Comics veröffentlicht, die ihre Kindheit und Jugend in Afrika thematisieren. In der Sammlung Ich weiss, die bereits 2008 erstmals in dem Kleinverlag Mami erschien, teilt sie ihre Kindheitserlebnisse in mal anekdotischen, mal allegorischen Schwarzweiss-Bildern zwischen Wirklichkeit, Legende und kindlichem Missverständnis mit.
Auch Riad Sattouf weiss viel von einer Kindheit und Jugend zwischen den Kulturen zu erzählen. Der Zeichner und Regisseur (Jungs bleiben Jungs, Jacky im Königreich der Frauen) wurde 1978 in Paris geboren, lebte dann aber viele Jahre in Libyen und Syrien, bevor er mit 13 Jahren nach Frankreich zurückkehrte. Jetzt erscheint der dritte Band seiner autobiografischen Kindheitserinnerungen Der Araber von morgen, in denen er die vor allem kulturellen Konflikte seiner französischen Mutter und seines arabischen Vaters sowie seine Erlebnisse in den ihm lange fremden und befremdlichen Ländern schildert. Sattoufs Zeichnungen sind funny, seine Erinnerungen eher tragikomisch, oft aber auch von Bitterkeit geprägt.
Nacha Vollenweider: «Fussnoten».
Avant-Verlag, 208 S.,
Softcover, s/w,
EUR 20 / CHF 29.90
Birgit Weyhe: «Ich weiss».
Avant-Verlag, 244 S.,
Softcover, s/w,
EUR 22 / CHF 32.90
Riad Sattouf: «Der Araber von morgen. Band 3».
Knaus, 152 S.,
Softcover, farbig,
EUR 19,99 / CHF 28.90
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Aude Picault begleitet in Ideal Standard die frustrierende Suche der Mitdreissigerin Claire nach einem geeigneten Lebensgefährten. Mit wenigen Strichen erzählt sie eine Geschichte, welche die Männer nicht gerade im besten Licht zeigt, aber Claire als selbstbewusste Frau feiert.
Aude Picault: «Ideal Standard».
Reprodukt, 160 S.,
Hardcover, s/w,
EUR 24 / CHF 35.90
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Für Liebe deinen Nächsten haben die Autorin Gaby von Borstel und der Zeichner Peter Eickmeyer im Sommer 2016 drei Wochen mit dem Rettungsschiff MS Aquarius auf dem Mittelmeer verbracht und die Rettung von Flüchtlingen begleitet. Ihre Comic-Reportage ist betont sachlich gehalten und zeigt die Arbeit der Schiffsbesatzung, der Rettungsmannschaft und des Ärzteteams, wirft aber auch grundsätzliche moralische und politische Fragen auf. Mit dem Kauf des Bandes unterstützt man die Arbeit von SOS Méditerranée.
Gaby von Borstel/Peter Eickmeyer: «Liebe deinen Nächsten».
Splitter, 128 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 24,80 / CHF 31.90
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Paper Girls 2 setzt das toll geschriebene Mädchenabenteuer von Brian K. Vaughan und Cliff Chiang mit SF-, Fantasy- und Splatter-Elementen fort. Die vier Zwölfjährigen wurden aus dem Jahr 1988 ins Jahr 2016 katapultiert und treffen dort nicht nur ihre erwachsenen Ichs, sondern auch absonderlichste Monster, welche die Welt in Schutt und Asche legen wollen. Daneben gibt es noch gottähnliche Typen, die ihren ganz eigenen Plan verfolgen. Ein grosser Spass und zurecht jetzt schon mit Preisen überhäuft 1988 haben Star-Autor Alan Moore und der Zeichner Brian Bolland einen Klassiker des Superhelden-Genres geschaffen. Batman. The Killing Joke entstand in einer Zeit, als Autoren wie Moore und Frank Miller die Schattenseiten der Superhelden ergründeten. In The Killing Joke liefern sich Batman und Joker ein Duell, das am Ende beide als traumatisierte Opfer ihrer Vergangenheit zurücklässt. Die neukolorierte Version der mit dem Eisner Award ausgezeichneten Geschichte ist nun als grossformatige Luxusausgabe mit Bonusmaterial erschienen.
Brian K. Vaughan / Cliff Chiang: „Paper Girls 2“.
Cross Cult, 144 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 22 / CHF 32.90
Alan Moore / Brian Bolland: „Batman Deluxe: The Killing Joke“.
Panini, 128 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 29,99 / CHF 41.90
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Vor wenigen Jahren tauchte das Mitte des 17. Jahrhunderts entstandene Augsburger Wunderzeichenbuch auf, das der Verlag Taschen zunächst in einer Luxusausgabe und nun in einer erschwinglicheren Version als Faksimile mit ausführlichem Kommentar veröffentlicht hat. Die 167 farbigen Gouachen und Aquarelle zeigen aussergewöhnliche Naturereignisse, in der frühen Neuzeit Wunderzeichen genannt, die als Omen, also Warnungen gedeutet wurden, um den Menschen zur Busse zu bewegen. Die Bilder sind teils naturalistisch gehalten, teils allegorisch oder surreal und mit ihrer Kombination aus Bild und beschreibendem bzw. kommentierendem Textteil und der Darstellung von Zeit und Bewegung einer der vielen Vorläufer der Comics. Die apokalyptischen Szenen mit allerlei wilder Fantasterei zwischen Blutregen und Monstern erinnern bisweilen sogar an Superhelden-Action, In diesem Fall ist der Superheld ein zürnender Gott.
Till-Holger Borchert / Joshua P. Waterman (Hg.): «Das Wunderzeichenbuch».
Taschen, 292 S., Hardcover, farbig,
EUR 39,99 / CHF 52.50
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Charles M. Schulz hat mit den Peanuts einen 50 Jahre währenden Klassiker der Comicstrips geschaffen. 1950 erschien die erste, im Jahr 2000 erschien – einen Tag nach dem Tod seines Schöpfers – die letzte Folge des Strips um den Hund Snoopy, dessen Halter Charlie Brown und die anderen Kids, mit ihren kindlichen Erlebnissen voller psychologischer Fallstricke. Mit Sonntagsseiten: Snoopy, der Star! versammelt der Carlsen Verlag nun über 500 der farbigen Sonntagsgeschichten. Die Strips der Jahre 1961 bis 1970 bilden einen Höhepunkt in Schulz‘ Schaffen, mit dem er auf einzigartige Weise die Zeitgeschichte gespiegelt hat.
Charles M. Schulz: «Peanuts Sonntagsseiten: Snoopy, der Star!».
Carlsen, 528 S., Hardcover, farbig,
EUR 29,99 / CHF 42.90
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Triebwerk ist die regelmässig erscheinende Anthologie der Comic- und Illustrationsklasse der Kunsthochschule Kassel. Am Comic-Salon in Erlangen wurde die sechste Ausgabe der Anthologie im Jahr 2014 prämiert. Mit der achten Ausgabe erscheint wieder ein über 150-seitiges Kompendium, das an Reichtum kaum zu überbieten ist. Farbig und schwarzweiss, minimalistisch und wild explodierend, realistisch oder betont artifiziell kommen die 16 Beiträge der Studierenden daher. Eine äusserst variable Stilpalette, die Lust auf den deutschsprachigen Comic-Nachwuchs macht.
Hendrik Dorgathen, Lea Heinrich (Hg.): «Triebwerk acht».
Rotopol, 168 S., Softcover, farbig,
EUR 17 / CHF 22.90
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Biografien
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Robert Deutsch
*1981 in Köthen, lebt als Illustrator und Comiczeichner in Halle und Leipzig. Im Frühjahr ist seine Graphic Novel über Allen Turing im Avant-Verlag erschienen.
robertdeutsch.blogspot.de
Noyau
*1963 in Neuchâtel als Yves Nussbaum. Er lebt als Maler, Zeichner und Illustrator in Zürich. Seine jüngste Publikation ist «L’art de vivre» erschienen in Les Cahiers dessinés, 2015
yvesnoyau.ch
Martin Panchaud
*1982 ist ein Comiczeichner aus Genf, der seit Jahren in Zürich lebt. 2016 ist auf SWANH.NET seine Infografik-Adaption der «Star Wars Episode IV» erschienen (27x12307cm).
martinpanchaud.ch
David Sandlin
*1956 in Belfast. Er lebt in New York als freier Künstler, Dozent für Siebdruck und als Illustrator, unter anderem für den New Yorker, die New York Times und – in den Achtzigerjahren – für das legendäre RAW.
davidsandlin.com