No:122

  • Cover: Ro

FLIEHEN, ABHAUEN, WEGGEHEN

INHALT

Der Libanon hat vier Millionen Einwohner. Unterdessen lebt über eine Million syrische Flüchtlinge im Land, das weder politisch noch wirtschaftlich zu den stabilsten gehört. MAZEN KERBAJ, der in Beirut lebt und zurzeit als Stipendiat in Berlin weilt, macht sich in seinem Beitrag Wahre Geschichten syrischer Flüchtlinge Gedanken über die alltäglichen Sorgen und Nöte von Flüchtlingen, die sich in fremden Ländern einzuleben versuchen.
Übersetzung: Christoph Schuler · Lettering: Franziska Meyer

HARSHO MOHAN CHATTORAJ, seit seiner Geburt in Kolkata lebend, zeichnete – basierend auf den Erinnerungen eines seiner Onkel – die Geschichte eines jungen Hindus während der fast vergessenen Flüchtlingskatastrophe von 1947, die am Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien stattfand, als zwei unabhängige Staaten ausgerufen wurden – Indien (für die Hindus) und Pakistan (für die Muslime). 20 Millionen Menschen waren gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die Ereignisse von damals wirken bis heute nach.
Übersetzung: Christoph Schuler · Lettering: Franziska Meyer

Der Zeichner RO, älteren Semestern unserer Deutschschweizer Leserinnen und Lesern als ebenso unermüdlicher wie engagierter Karikaturist und Illustrator bekannt, reiste für STRAPAZIN auf die zwischen Tunesien und Sizilien gelegene Insel Lampedusa, um sich dort ein Bild von der aktuellen Situation zu machen. Einen Monat lang lebte Ro zwischen Einheimischen und Flüchtlingen, Polizisten und Aktivisten.
Die Entstehung seiner Geschichte ist ein Novum für STRAPAZIN – ein finanzieller Beitrag der Stiftung Migros kulturprozent ermöglichte uns, für Ros Aufenthalt und Recherche vor Ort aufzukommen.

HILA NOAMs Comic Zurück in die Heimat ist keine Geschichte über Flüchtlinge; es geht um eine junge Frau, die zusammen mit ihrem deutschen Freund nach Israel fliegt, um an einer Feier zum Jahrestag des Todes ihres Bruders teilzunehmen. Aber schon bald nach dem Wiedersehen mit ihrer nicht ganz pflegeleichten Familie, möchte sie nur noch eins – abhauen, dem familiären und religiösen Mief entkommen.
Übersetzung: Christoph Schuler · Lettering: Corinne Odermatt

Die Geschichte Haitis ist geprägt von Gewalt, Naturkatastrophen und Migration. Nach der Ausrottung der indianischen Urbevölkerung war Haiti erst spanische, dann französische Kolonie mit Hunderttausenden von afrikanischen Sklaven. Heute wandern viele Haitianer vor Armut und Korruption aus, und das nicht erst, seit Haiti 2010 von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht wurde, das über 300‘000 Todesopfer forderte und gegen zwei Millionen Menschen obdachlos machte. ISABEL PETERHANS reiste im Herbst 2014 im Auftrag der Hilfsorganisation Caritas nach Haiti, wo sie das humanitäre Wiederaufbauprojekt von Caritas Schweiz und ihre dort beschäftigte Schwester vier Wochen lang begleitete.

Titeuf, der sympathische Rotzbengel des Schweizer Zeichners ZEP, erlebt für ein Mal keine schrägen Abenteuer, wie man sie aus unzähligen Alben und Trickfilmen kennt. Zep, der uns seinen anrührenden Comic Titeuf im Krieg liebenswürdigerweise gratis überlassen hat, zeigt auf meisterliche Art, wie man tragische Vorgänge mittels einer lustigen Comic-Figur schildern kann. Merci, Zep!
Übersetzung: Christoph Schuler · Lettering: Christophe Badoux

Auf die Zeichnungen PAULA BULLINGs wurde ich durch einen Tipp von STRAPAZIN-Grafiker Emanuel Tschumi aufmerksam. Als ich die Zeichnerin kontaktierte, weilte sie gerade mit anderen Medienschaffenden auf Lesbos (oder Lesvos), wo sie gemeinsam den hier abgedruckten Comic, Teil eines geplanten grösseren Berichtes, verfassten. Die griechische Insel ist Anlaufstelle für täglich bis zu 2‘000 Flüchtlinge, Menschen, die wir meist nur als anonyme Masse wahrnehmen.
Übersetzung: Christoph Schuler · Lettering: Philip Schaufelberger

So sieht die angenehme Seite des Weggehens aus: CHRISTOPH ABBREDERIS, beinahe schon Stammgast in STRAPAZIN, fasst in seinem Comic Inseltage die Ausflüge und Ferienreisen zusammen, die er und Frau A. zwischen Dezember 2012 und 2013 unternommen haben. Ihre Reisen von Wien nach Nord- und Süditalien oder Hamburg verlaufen – vielleicht auch wegen hervorragender Schmiermittel wie Muskateller, Spritzer, Corretto und Veltliner – stets in Minne und stressfrei. Kurze Boxenstopps vom Alltag nennt Christoph seine tagebuchähnlichen Bilder.


DAS GESCHRIEBENE WORT

Willkommenskultur, Antanzdiebstahl, Flucht

von Wolfgang Bortlik

«Wenn wir uns jetzt noch entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.» Also sprach Mutti Merkel sehr tapfer, nachdem ihr die Flüchtlinge die Bude eingerannt hatten und die ersten Widerworte gegen diese Willkommenskultur erklangen. Was zuerst wie der grosse und fast schon geniale politische Coup der deutschen Bundeskanzlerin ausgesehen hatte, drohte schnell zu einem politischen Overkill zu verkommen.
Unter anderem auch deswegen, weil einige der an die Mutterbrust Gedrückten nicht so anständig sein wollen, wie man es von ihnen verlangt. Vielleicht, weil sie’s nicht anders können und kennen. Die Stimmung ist nicht gut. Und weil die Ratlosigkeit mittlerweile überall gross ist, Verwirrung herrscht und man nicht so genau weiss, wie was wohin weiter geht, kommt die gute alte Sprache wieder an die Reihe und wird abgeklopft. Es wird ausgiebig über das Wort „Flüchtling“ diskutiert.
Man könnte selbstverständlich auch über den Ausdruck „Willkommenskultur“ disputieren. Oder über so schöne Neuschöpfungen wie den Begriff „Antanzdiebstahl“. Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich die Sprache ohne Arg der Wirklichkeit anschmiegt.
Aber nun ist halt mal dieses F-Wort dran: Ist der Gebrauch des Begriffs Flüchtling nicht recht eigentlich abschätzig? Menschen, die auf der Flucht sind, kann man die nicht einfühlsamer und „politisch korrekter“ bezeichnen als mit diesem Begriff? Der Suffix „ling“ verkleinert normalerweise in der deutschen Sprache und wurde im Laufe der Jahrhunderte immer negativer befrachtet: Schreiberling, Weichling, Wüstling, Fremdling, Grünkernbrätling …
Eine sprachliche Alternative zum Flüchtling wäre „Geflüchtete“. Aber das klingt doch auch irgendwie ziemlich hoffnungslos.
Anders geht es im Englischen und Französischen zu. Dort heisst es ja offensichtlich Refugee, Leute also, die ein Refugium, ein Asyl, einen Schutz suchen. Etymologisch kommt das Wort aus dem 17. Jahrhundert, als die reformierten Hugenotten nach dem Edikt von Nantes 1685 aus dem katholischen Frankreich vertrieben wurden. Allerdings steckt auch da die Flucht drin, wie im musikalischen Begriff Fuge (Johann Sebastian Bach), wo die Töne voreinander fliehen. Ach, es ist ein Elend, dieser ständige Zwang zur sprachlichen Korrekt- und Ausgewogenheit.
Für mich ist der Begriff Flüchtling schon immer präsent und völlig normal gewesen. Meine Grosseltern väterlicherseits flüchteten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor den Russen aus Schlesien in die damalige DDR und in den 1950er-Jahren von dort in den Westen. „Von drüben rüber gemacht!“, so meinte meine Grossmutter immer und lachte dabei etwas verhalten. Die Bezeichnung Flüchtling war damals fast so etwas wie ein Ehrentitel und die Menschen hinter diesem Begriff waren unverzichtbar für den ökonomischen Aufschwung und das Wirtschaftswunder in Deutschland.
Vielleicht wird es auch heutzutage tatsächlich wieder so sein, immerhin meint der Internationale Währungsfonds, dass wegen der Aufnahme von Flüchtlingen in den nächsten zwei Jahren die Wirtschaft in der Europäischen Union um 0,3 Prozent stärker wachsen würde.

Dann gibt es ja auch noch die Flüchtlinge, die nicht nach, sondern weg, hinaus aus Deutschland wollten und mussten. Damals, vor knapp 80 Jahren, gab es keine lange Diskussion über den Sprachgebrauch. Es ging, wie auch heute oft, um das nackte Leben.
Die beiden Dörfer Riehen und Bettingen liegen nördlich von Basel, direkt an der deutschen Grenze. Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 versuchten sehr viele jüdische und politische Flüchtlinge über diese Grenze in die Schweiz zu kommen. Die Schweizer Flüchtlingspolitik aber war restriktiv, man hatte ja den Judenstempel erfunden, befürchtete wie immer eine Überfremdung und versuchte überdies, Nazideutschland nicht zu verärgern. Durch den Mut von Zivilpersonen und auch der Basler Lokalpolitik (zum Beispiel Fritz Brechbühl, Regierungsrat und Vorsteher des Polizeidepartements) konnten doch viele Hilfesuchende aufgenommen werden. Darüber gibt es ein Buch mit dem Titel „Fast täglich kamen Flüchtlinge“. Auf kleinstem Raum agierten Grenzwächter, Fluchthelfer, Dorfbewohner und Asylsuchende und erzählen später davon, was diesem Buch eine grosse Intensität und Authentizität gibt. Es ist jedenfalls sehr schön zu lesen, was für wunderbare Zeugnisse für Zivilcourage es damals gab. Da ich dieses schreibe, dräut die Abstimmung über die sogenannte Durchsetzungsinitiative der Schweizer Volkspartei. Deren Absicht ist es, kriminell gewordene Ausländer so schnell wie möglich aus der Schweiz auszuschaffen, auch unter Aussetzung des internationalen Rechts. Wenn das hier gelesen wird, hat der übliche Teil des Schweizer Stimmvolks in seiner Verblendung diese Gesetzesinitiative möglicherweise angenommen. Dann gute Nacht, Freunde!

Sucht man Literatur über die gegenwärtigen Flüchtlingsgeschichten (ich sage jetzt extra nicht Problematik), dann wird man wohl fündig. Dies ist eine kleine Auswahl von Buchtiteln: „Wir brauchen die Flüchtlinge“, „Die Flüchtlinge und wir“, „Flüchtlinge vor unserer Haustüre“, „Und das ist erst der Anfang“, „Im Namen der Menschlichkeit“ und so weiter und so fort. Man beschäftigt sich also ausgiebig mit dem Thema. Sehr informativ und eindrücklich sind immer wieder persönliche Kontakte mit den Asylsuchenden. 2013 ist in der Schweiz das Buch „an deiner statt / à ta place“ erschienen, in welchem 31 Schweizer Autorinnen und Autoren davon berichten, wie sie Nothilfebezügerinnen, Sans-Papiers und abgewiesene Asylbewerber getroffen und mit ihnen Gespräche geführt haben. Sie geben ihnen also eine Stimme und reden in diesen Portraits „an ihrer statt“. In diesem Buch werden viele diffizile Themen angesprochen und vor allem wird eines klargestellt, dass es „den“ Flüchtling nicht gibt. Diese Menschen haben alle möglichen guten Gründe, sich der ungewissen Herausforderung des Flüchtlingsdaseins zu stellen. Das kann man nur akzeptieren.

Damit zum Abschluss noch etwas über die geistige Migration oder „Die Flucht aus der Zeit“, wie es Hugo Ball ausgedrückt hat. Gerade jetzt dräuen Hundert Jahre Dada als geschäftstüchtiges Jubiläum, vor allem in Zürich, und der Mann, der Dada mitbegründet hat, war auch der erste, der vor Dada geflüchtet ist, ins Tessin, an den Lago Maggiore, und das ziemlich abschliessend. Neben Rimbaud war Ball wohl einer der radikalsten Kulturflüchtlinge.
Und das schreibt er er dazu:
Tzara hat eine Collection Dada eröffnet mit „La première aventure céléste de Monsieur Antipyrine“. Das himmlische Abenteuer aber ist gegenwärtig für mich die Apathie und jene Sehnsucht nach Genesung, die alle Dinge in einem neuen, mild überströmenden Lichte erscheinen lässt. Dreimal im Tage neige ich die nackten weissen Glieder in das silberblaue Wasser. Die grünen Weinhänge, die Glockenspiele, die braunen Augen der Fischer wandern durch mein Blut. Ich brauche doch keine Gedichte mehr! Alle Hüllen bleiben am Ufer liegen, bewacht von einem Schlänglein mit goldener Krone.
Im Tessin, wo er 1927 starb, hat Hugo Balls Flucht auch geendet.
Meine drei Heiligen Bücher haben sozusagen verräterische Titel: „Der Weg nach Unten“, „Wir sind Gefangene“ und „Die Flucht aus der Zeit“. Franz Jung, Oskar Maria Graf und Hugo Ball. Eine ordentliche Auslese an Hausheiligen, die alle drei auch grosse und geübte Flüchtlinge waren. Jeder und jede ist ein Flüchtling.

PLAYLIST

Christian Jakob: „Die Bleibenden“.
Ch. Links Verlag 2016, 200 Seiten, 18 Euro.
Die Geschichte der Flüchtlingsbewegungen und Flüchtlingsproteste seit 1990. Die Willkommenskultur, von der heute oft die Rede ist, entstand nicht plötzlich und von selbst. Und die Modernisierung der Gesellschaft ist zu grossen Teilen das Werk der Migranten und Flüchtlinge.

„an deiner statt / à ta place“.
Editions d’en bas 2013, 166 Seiten, 7 Euro, 12 Franken.
Mit Sandrine Fabbri, Ruth Schweikert, Hansjörg Schertenleib, Alberto Nessi, Milena Moser, Wolfgang Bortlik u.a.

Alexander Broicher: „Unbehauste“. 23 Autoren über Fremdsein.
Verlag Nicolai, 204 Seiten, 9.95 Euro, 13.30 Franken.
23 Autoren schreiben über das Gefühl des Unbehaustseins. Über Grenzen und Grenzerfahrungen. Über Heimat, Flucht, Reise und Suche. Über jene, die man liebt, und Orte, an denen man sich behaust fühlt. 23 Autoren wollen helfen: Ein Teil des Verkaufserlöses kommt der Flüchtlingshilfe zugute. Mit Friedrich Ani, Benedict Wells, Selim Özdogan, Judith Poznan, Moritz Rinke u.a.

Lukrezia Seiler/Jean-Claude Wacker: „Fast täglich kamen Flüchtlinge“, Riehen und Bettingen – zwei Grenzdörfer 1933 bis 1948.
Christoph Merian Verlag, 284 Seiten, 29 Franken.

Sollte im Juni erscheinen:
Hugo Ball: „Die Flucht aus der Zeit“.
Wallstein Verlag, 420 Seiten, 32 Euro

PFLICHT LEKTÜRE

Mezzo, J.M. Dupont: Love In Vain - Robert Johnson 1911-1938

Sex, Drugs and Blues

Robert Lee Johnson gehört zu den bekanntesten Vertretern des Blues und ging aufgrund seiner Mississippi-Herkunft als „King of the Delta Blues“ in die Musikgeschichte ein. Einem weissen Publikum wurde Johnson erst durch die Coverversionen von Cream und den Rolling Stones bekannt bzw. durch Gitarristen wie Eric Clapton und Keith Richards, die ihm als wesentliche Inspirationsquelle huldigen. Obwohl Johnson gerade einmal 27 Jahre alt wurde, verehrten ihn Blueskenner und -musiker bereits zu Lebzeiten, und es bildeten sich zahlreiche Legenden um sein exzessives Leben. Diese Legenden kombiniert der französische Zeichner Pascal Mesemberg alias Mezzo mit den wenigen biografischen Fakten des Bluesmusikers in seiner Hommage Love in Vain, die den gleichnamigen Titel von Johnsons populärstem Song trägt. Mezzo wählte für seinen Comic einen sehr expressiven und klaren Schwarzweiss-Stil, der in seinem düsteren Spiel aus Licht und Schatten an Charles Burns und Roberto Baldazzinis Stella-Norris-Comics erinnert. Auch wenn Mezzo zuweilen etwas gar kräftig aufträgt, ob bei den zahlreichen Affären des Bluesmusikers oder dem legendären Mythos, dass Johnson dem Teufel seine Seele versprach, um musikalische Genialität zu erreichen, so kommt man nicht umhin, von diesem Musikermythos fasziniert zu sein. Weniger wäre an diesem Punkt sicherlich mehr gewesen, nichtsdestotrotz macht der Comic neugierig auf Johnson, der von Bob Dylan bis zu den White Stripes als einer der wichtigsten Wegbereiter des Blues und des Rock‘n‘Roll gesehen wird. Johnson schuf die Blaupause für das Leben moderner Rockstars, neben Sex und Drugs, auch sein kurzes Leben, das ihn gewissermassen zum ersten Mitglied des Klub 27 werden liess. Einzig seine Musik und sein Mythos leben weiter, so wie bei all den anderen Mitgliedern auch.

Matthias Schneider

Mezzo, J.M. Dupont: „Love In Vain – Robert Johnson 1911-1938“.
Egmont Manga, 72 S., Hardcover, s/w,
EUR 22,99 / CHF 31.90

Anders Nilsen: Der Zorn des Poseidon

Der Zorn des Poseidon

«Also stell dir vor, du bist Poseidon, Herr der Meere.» So beginnt Anders Nilsens Der Zorn Poseidons. Dann taucht Poseidon tatsächlich auf, zwar nur als Schattenriss, aber gut erkennbar am wilden Haar und am Dreizack, und er schildert uns in wenigen Sätzen seinen Abstieg vom Höhepunkt seiner Macht im Altertum bis in die heutige Bedeutungslosigkeit. Im Gegensatz zu Bacchus (hat einen Nachtclub in Las Vegas), Venus (macht in Hollywood Karriere), Amor (betreibt das Internet) und Mars («dem es nie an Anhängern mangelte») verkroch sich Poseidon jahrhundertelang im Meer. Angesichts der Verschmutzung seines Elements wagt er sich zurück unter die Sterblichen, um sie besser zu verstehen. Plötzlich steht er vor dem «Zorn des Poseidon Erlebnisbad» – und rastet aus …

Schon in früheren Büchern wie dem 600 Seiten starken Werk Grosse Fragen (Atrium Verlag) umkreiste der 1974 geborene Amerikaner Anders Nilsen auf eine clevere, hintergründige und immer auch wieder verspielte Weise philosophische Themen. Wälzten dort kleine Vögel die grossen Fragen, inszeniert Nilsen in Der Zorn des Poseidon Götter und Halbgötter. Zeichnerisch sind Nilsens mythologische Reflektionen – als Gegenpol zu ihrer inhaltlichen Vielschichtigkeit – bewusst einfach gehalten: pro Seite ein grosser Schattenriss. Die Figuren sind schwarz, man sieht nur die Umrisse, man erkennt das Wesentliche, aber nichts lenkt ab vom Inhalt – Nilsens aktualisierenden, meist plausiblen, aber gleichermassen überraschenden Deutungen mythologischer und biblischer Geschichten.

Warum hat Abraham seinen Sohn Isaak doch nicht geopfert und spielt lieber mit ihm ein Game wie «Exodus 6: Die Abrechnung»? Was widerfuhr Leda, als sie das tatsächliche Antlitz ihres als Schwan getarnten göttlichen Liebhabers erblickte? Warum würde Prometheus – heute noch an einen Felsen gekettet und von einem Adler gequält – den Menschen das Feuer wieder schenken? Und zu guter Letzt baggert Jesus Aphrodite an. Ob es ihn nicht störe, fragt die Göttin der Liebe, dass sie mit dem Kriegsgott verheiratet sei? Nein, erwidert Jesus sanft, Mars arbeite nun für ihn, denn sein Vater und er seien die neuen Chefs …

Christian Gasser

Anders Nilsen: «Der Zorn des Poseidon».
Avant-Verlag, 96 S., Hardcover, s/w,
EUR 24,95 / CHF 38.90

Martin Vitaliti: Sin Coordenadas, Tren en Movimientos Ediciones

Bewegungslinien

Sprechblasen, sich auftürmende Panelgitter, Superhelden, die vergeblich versuchen, die Seiten eines Heftes zusammenzuhalten: Die Installationen, Collagen und Kataloge des argentinischen Künstlers Martín Vitaliti sind durchzogen von Verweisen und Anspielungen auf das Medium Comic. Den Themen „Bewegungslinie“, „Panel“ und „Perspektive“ hat er sogar je eine eigene kleine Publikation gewidmet. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis Vitaliti selbst zum Autoren werden würde, um die narrativen Möglichkeiten des Comics zu erkunden. Nun ist mit Sin Coordenadas (auf Deutsch etwa: „Ohne Koordinaten“) in Buenos Aires sein erstes Album erschienen. In schroffen Schwarzweiss-Kontrasten auf perfekt arrangierten Seiten, die behutsam und wie in Zeitlupe Bewegungen abbilden, mit Wiederholungen und Querverweisen arbeiten, erzählt Vitaliti darin die Geschichte eines namenlosen jungen Mannes, der an der Realisierung eines geplanten Dokumentarfilms scheitert. Immer wieder holt ihn seine Vergangenheit ein, die Superhelden-Obsession seiner Kindheit, eine Freundschaft zu einem Mädchen, deren Schicksal unklar bleibt. Superhelden sind es auch, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln scheinen, die Zeit und Raum überwinden können und ihm, wenn auch vergeblich, zu Hilfe eilen, als er von zwei Polizisten aufgrund von Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit brutal verhaftet wird. Eine zweite Handlungsebene führt dem Leser das Ende der Beziehung zwischen einer jungen Frau und einem Mann namens Ricky vor Augen: Er bricht die Kommunikation mit ihr ab, als er erfährt, dass sie schwanger ist.
Gestörte Kommunikation, Fluchtbewegungen, Verständigungsprobleme: Fremdheit und Migration sind die roten Fäden, welche die offene Geschichte zusammenhalten. Migrationserfahrungen tragen beide Protagonisten in mehrfacher Hinsicht mit sich herum: Ihre Väter waren Migranten, sie selbst scheinen im Ausland zu leben, dort jedoch nicht glücklich zu sein, sie scheitern an den unterschiedlichen Sprachcodes und der Einsamkeit. „Quieto“ – „Ruhe! Halts Maul“ – und „Muévete“ – „Beweg dich!“ – hallen symbolisch als letzte Worte des Comics lange nach – Kommunikationsabbruch und Fluchtbewegung.
Die Panels, in denen Vitaliti den Protagonisten kein Vorankommen gestattet, werden zu ihrer Festung der Einsamkeit. Sie sind unterwegs ohne Koordinaten, auf der Flucht und auf einer Suche, deren Ziel sie nicht kennen. Ein Zuhause womöglich. Vitaliti lässt vieles unausgesprochen, belässt es bei Andeutungen und Möglichkeiten. Er setzt ganz auf die Kraft der Bilder und beweist mit Sin Coordenadas, dass er in der Kunst- wie in der Comic-Welt souverän eine eigene Sprache spricht, beide Sprachcodes beherrscht: Seine zitatreiche Kunst funktioniert auf beiden Ebenen. Das hat auch das Comic-Festival Fumetto erkannt und Vitaliti zu einer Ausstellung nach Luzern eingeladen.

Jonas Engelmann

Martin Vitaliti: „Sin Coordenadas, Tren en Movimientos Ediciones“.
Buenos Aires 2016, 274 S., Softcover, s/w

Boujut, Tardi, Stanislas: Der Papagei von Batignolles

Tim 2.0

Was für ein grossartiges Szenario, welch witzige Dialoge, welch spannende Story und hinreissend zeichnerische Umsetzung! Der Papagei von Batignolles, von Boujut und Tardi als Hörspiel entwickelt, aktuell in einer Comic-Adaption von Stanislas vorliegend, ist ein fesselnder und unterhaltsamer Kriminal-Comic und darüber hinaus eine zeichnerische und narrative Hommage an Klassiker dieses Genres, wie etwa Tim & Struppi und Blake & Mortimer. Oscar Moulinet und seine Freundin Edith Lamantin arbeiten als Journalisten bei Radio France. Ihr Pariser Alltag wird urplötzlich durcheinandergewirbelt, als Menschen bedroht und ermordet werden, die Besitzer einer goldenen Entenspieluhr sind. Auch Ediths Mutter hat ihrer Tochter eine solche Spieluhr vermacht, seitdem ist Edith ihres Lebens nicht mehr sicher. In der Spieluhr sind Teile eines Tonbands versteckt, auf welcher der verstorbene Kunstfälscher und Lebemann Emil Schmutz eine Nachricht hinterlassen hat. Auch der ehemalige Assistent von Schmutz ist auf der Jagd nach den Tonbandschnipseln, und es beginnt nun ein Wettrennen auf Leben und Tod. Immer tiefer verstrickt sich das bisherige normale Leben von Oscar und Edith mit dem von Schmutz. Boujut und Tardi haben bereits in der Hörspielvorlage zahlreiche Seitenhiebe und Querverweise auf die französische Popkultur, Politik und Gesellschaft eingearbeitet, die von Stanislas kongenial umgesetzt wurden. Hervorzuheben sei ebenso die meisterhafte Übersetzung von Ulrich Pröfrock, die den Comic zu einem wahren Lesevergnügen macht. Es ist, als ob Tim in diesem Comic nun endlich erwachsen geworden wäre und sich seiner konservativen Altlasten entledigt hätte.

Matthias Schneider

Boujut, Tardi, Stanislas: „Der Papagei von Batignolles“.
Carlsen, 56 S., Softcover, vierfarbig,
EUR 12 / CHF 17.90

Nicolas Debon: Ein Essay

Aufbruch und Scheitern einer Kommune

Allein der Einstieg zu Nicolas Debons Ein Essay ist eine Wucht: Unberührte Wälder erstrecken sich in grossformatigen Panels über die ersten drei Seiten. Unmittelbar ergriffen von der Idylle dieser Wildnis, erfährt der Leser gleichzeitig in wenigen, aber sich stark einprägenden Sätzen, weshalb der französische Anarchist Fortuné Henry um 1903 in den Ardennen eine Kommune für «experimentellen Kommunismus» ins Leben rief. Sein Traum war es, frei von Hierarchie und Autorität im Kreise von Gleichgesinnten zu leben. Das freie Leben in der Gemeinschaft, erfährt man weiter, gebe einem unvergleichliche Lebensfreude und täglich eine Befriedigung, wie man sie sonst in der Gesellschaft nicht erlebe.
Die wenigen Sätze und Seiten zu Beginn führen eindrücklich vor Augen, weshalb ein französischer Kritiker beim Erscheinen von Ein Essay schrieb, ein neues Album von Nicolas Debon sei immer ein «Ereignis». Der Zeichner, der zuvor mit Geschichten über die Tour de France und den Alpinismus aufgefallen war, verstehe es Mal für Mal, den Geist und die Seele der Leser zu berühren.
Tatsächlich erzählt Debon die Geschichte der libertären Gemeinschaft «L‘Essai» so mitreissend und mit der ganzen Kraft seiner «couleur directe», als wäre es ein Western mit Leutnant Blueberry. Dabei endet die Geschichte durchaus unglücklich: Gegründet als eine harmonische und gerechte Gemeinschaft, scheitert die Kommune schon nach vier Jahren an der starken und wenig Widerspruch duldenden Führung Fortuné Henrys. Aufkommende Spannungen und die vergleichsweise hohe Aufmerksamkeit bei Medien, Schriftstellern und umliegenden Orten erschweren das Unterfangen.
Mit viel Liebe zum Detail schildert Nicolas Debon den Alltag der Kommune, der ständig zwischen Landwirtschaft und philosophischen Debatten hin- und herpendelt. Immer wieder unterbricht der Zeichner den Handlungsverlauf mit ganzseitigen Panoramen, in denen die inspirierende Wirkung der stillen und abgeschiedenen Ardennen-Wälder förmlich durchschimmert. Zugleich beleuchtet er eindringlich die familiären, urbanen und auch militanten Hintergründe von Fortuné Henrys Anarchismus (sein Bruder Émile war wegen eines Bombenattentats zum Tod verurteilt worden).
Man spürt die Sympathien des Autors für die Motive und Grundideen des Kommunengründers und schätzt zugleich seine objektive Erzählweise, die das abschliessende Urteil dem Leser überlässt.

Florian Meyer

Nicolas Debon: „Ein Essay“.
Carlsen, 96 S., Hardcover, vierfarbig,
EUR 19,99 / CHF 31.90
Blog von Nicolas Debon: nicolasdebon.wordpress.com
Interview mit Nicolas Debon im französischen Radio RFI:
www.rfi.fr/emission/20150825-essai-nouvelle-bande-dessinee-nicolas-debon

A. Moore, M. Jenkins, P. Coogan, L. Moore: „Electricomics

Die digitale Comic-Revolution, auf die niemand gewartet hat

Die britische Zeitung The Guardian kündigte das Ereignis als eine technische Revolution in der Welt des Comics an. Doch keine Angst, dem ist nicht so. Die Rede ist von Electricomics, einer App und Open-Source-Werkzeugkiste für digitale Comics. Einer der Mitbegründer ist Alan Moore, Autor von (wirklich) bahnbrechenden Comics wie V for Vendetta, From Hell oder Watchmen. Zusammen mit seiner Tochter Leah Moore will er mit diesem Produkt das Medium Comic für das 21. Jahrhundert neu definieren. Doch Alan Moore scheint in Interviews selber nicht davon überzeugt zu sein. Was eigentlich kaum erstaunen sollte, denn der Comic-Guru befasst sich seit Längerem nicht mehr mit der 9. Kunst und hat angeblich zu Hause nicht mal einen Internetanschluss. Für ihn sei Electricomics ein wichtiges Projekt, doch Comics seien in sich schon eine technische Errungenschaft, die nicht zu übertrumpfen sei, meint er in Interviews. Von Errungenschaft kann bei Electricomics auch nicht die Rede sein.

Die Gratis-App, die auf Apples iPad läuft, stellt momentan vier kurze Geschichten bereit. Einige Erzählungen bieten die Möglichkeit eines nicht-linearen Lesens, andere sind teilweise animiert: Beim Zeitreise-Abenteuer Sway (Leah Moore, John Reppion, Nicola Scott) muss der Leser immer dann, wenn ein Zeitsprung ansteht, das Tablet kippen. So kann die Hauptfigur von einer Zeitdimension in die nächste springen. In Second Sight (Peter Hogan, Paul Davidson) ändert sich der Verlauf der Geschichte, je nachdem, welche Objekte man im Panel antippt. Bei Big Nemo (Alan Moore, Colleen Doran) tippt man sich durch die Geschichte, wobei der Hintergrund derselbe bleibt und die Figuren sich im Stop-Motion-Stil fortbewegen, was wie eine PowerPoint-Präsentation daherkommt. Die Technologie, die hinter Electricomics steckt, wirkt erschreckend altmodisch und überholt, die technischen Möglichkeiten sind nichts mehr als Spielereien, die der Lektüre im Weg stehen. Das einzig Interessante am Projekt mag der „Electricomic Generator“ sein, mit dem die Macher Comic-Autoren ermöglichen, digitale Comics kostenlos herzustellen und auf der App zu verbreiten. Vielleicht liegt darin eine kleine Revolution und die ist ganz im Sinne von Alan Moore, der schon seit jeher gegen die Kommerzialisierung des Comics ankämpft.

Vor lauter Technologie-Begeisterung (oder -Entgeisterung) droht der Inhalt zu sehr in den Hintergrund zu rücken. Darum sei hier zuletzt noch auf die zwei Geschichten hingewiesen, die eine Lektüre wert sind. Es erstaunt nicht, dass die Erzählung, die ohne Tipp-, Wisch- oder Kippfunktion auskommt, auch die beste ist: Red Horse (Garth Ennis, Frank Victoria) erzählt die ersten Erfahrungen eines jungen britischen Offiziers, der im Sommer 1914 – kurz bevor das Grauen der Grabenkämpfe beginnt – den Weltkrieg als aufregendes Abenteuer erlebt und an einen ehrenvollen Kampf glaubt. Alan Moores Big Nemo ist – trotz schlechter Animation – eine gelungene Hommage an Winsor McCay. Moore spinnt die Geschichte von McCays Little Nemo weiter und überlässt den nun erwachsenen Mann einer albtraumhaften Welt der amerikanischen Depression der 1920er-Jahre. Eine passende Reverenz an einen der Urväter des Comics, der mit seinem künstlerischen Können seiner Zeit weit voraus war.

Giovanni Peduto

Alan Moore, Mitch Jenkins, Peter Coogan, Leah Moore: „Electricomics“.
Die Gratis-App ist im iTunes-Store erhältlich.
Mehr Infos zum Projekt auf www.electricomics.net

Andrea Bruno: Cinema Zenit, Volume One

Traumtinte

Andrea Bruno ist seit etwa einem Jahrzehnt einer meiner liebsten Cartoonisten. Seine Arbeiten, besonders die vom Comic-Kollektiv Canicola Edizioni aus Bologna publizierten, sind visuell beeindruckend: kraftvolle schwarzweisse Zeichnungen, welche die Finger der Leser in Tusche zu ertränken drohen; energetische und dynamische Seitenlayouts, die oft an klassische oder zeitgenössische Kunst erinnern; und enigmatische, ausdrucksstarke Charaktere, die fast aus der Seite herausspringen. Ich kannte seine Werke schon länger, aber ein echter Fan wurde ich beim Fumetto 2006, als ich eine Ausstellung seiner Originale besuchte. Ich hatte mich nicht mehr so für die Arbeiten eines Comic-Künstlers begeistert, seit ich in den frühen 90ern die deutschsprachigen Virtuosen entdeckt hatte, durch STRAPAZIN (Feuchtenberger, Dieck, ATAK) oder die franco-belgischen Amok/Fréon-Talente (Alagbé, Fortemps, Goblet).

Es gab nur ein Problem: Ich kann kein Italienisch und Brunos Arbeiten sind grösstenteils nicht übersetzt worden. Glücklicherweise bietet die Veröffentlichung seines neuesten Buches Cinema Zenit eine Lösung für linguistisch überforderte Amerikaner wie mich: Canicola fügt nun englische „Untertitel“ am Ende jeder Seite hinzu. Es ist eine seltsame Leseerfahrung, aber mir reicht es aus.

Cinema Zenit umfasst nur 32 Seiten, fühlt sich aber deutlich umfangreicher an. Es ist keine geradlinige Erzählung: Die Handlung, die in einer fragmentierten und traumartigen Weise erzählt wird, dreht sich um eine junge Frau, die in einer besetzten, vielleicht post-apokalyptischen Stadt gefangen ist. Es gibt diffuse Anspielungen auf Rituale und Regeln, aber die Erzählung legt mehr Wert auf Sensation als auf Exposition. Eine Atmosphäre von Angst und Unterdrückung herrscht vor, aber auch von Hoffnung und einer Besessenheit von dem namensgebenden Kino, dessen Bedeutung unklar bleibt. Ist es ein tatsächlicher Ort, ein Verlangen, eine Metapher, eine Erinnerung oder alles zusammen? Nach mehrmaligem Lesen fühlte ich mich an die Erzählweisen von Andrei Tarkovsky und Samuel Delany, Meister der anspruchsvollen Science-Fiction, erinnert und vielleicht an Aeschylus’ Sieben gegen Theben.

Cinema Zenit zu lesen, ist desorientierend, ästhetisch wie auch intellektuell, aber auf eine wunderbare Weise; die Auseinandersetzung damit wird zu einem wahren Lehrgang im Interpretieren. Brunos Fähigkeiten als einer der grössten Tuschekünstler in der Geschichte des Comics sind die Krönung dieses Werkes; die Zeichnungen wirken fast, als könne man sie berühren, und er benutzt für sie nicht nur Stift und Pinsel, sondern auch Stoffe und Wellpappe. Wer die Zeichnungen oder Radierungen des Bildhauers Richard Serra kennt, merkt schnell einmal, Bruno liebt dickes, zähflüssiges Schwarz genauso wie jener. Einflüsse anderer Cartoonisten sind in Brunos Werk ebenfalls erkennbar; Meister wie José Muñoz und Alberto Breccia; Kollegen wie Stefano Ricci und Gabriella Giandelli; aber sein Stil ist sein eigener, und er ist hypnotisierend.

Cinema Zenit ist in einem grossen Format publiziert worden, 30 x 42 cm, und dieses Format erinnert unwillkürlich an Klassiker wie die Futuropolis-Serie (30 x 40), das RAW Magazin oder Boxer. Ich gebe zu, dass ich eine völlige Schwäche für grossformatige Comics habe, bei denen das Lesen zu einer ganz besonderen Erfahrung wird, und in diesem Fall fühlt es sich dank der hervorragenden Produktionsqualität an, als hielte man das Original in Händen. Diese Traumgeschichte verdient ein Grossformat: Das Buch ist schliesslich Stellvertreter für die titelgebende Filmleinwand. Cinema Zenit ist ein fantastisches Werk, und ich freue mich schon auf den zweiten Band und ein paar Antworten auf die Mysterien des ersten Bandes.

Mark David Nevins

Andrea Bruno: „Cinema Zenit, Volume One“.
Canicola, 32 S., Softcover, s/w, EUR 16

Oliver Grajewski: Abend im Abendland

An den Rändern

Kometen rasen auf die Erde zu, auf der ein Dinosaurier den Einschlägen ausgesetzt ist. „Too Big to Fail“ prangt als Schriftzug daneben. Es ist Abend im Abendland, und Oliver Grajewski liefert die Bilder zum Untergang. „Die Finanzkrise aus erdgeschichtlicher Perspektive“ erklärt der Kommentarteil der soeben erschienenen kommentierten Gesamtausgabe seiner Stripreihe das Dinosaurierbild. Über 200 Episoden versammelt sein bereits seit 2004 laufendes Projekt Abend im Abendland, und sie alle funktionieren auf ähnliche Weise wie das Dinosaurier-Sujet: Text-Bild-Kombinationen führen in die Irre, verlangen dem Leser ab, Zusammenhänge zu erkennen, um mehrere Ecken zu denken, bis sich der subtile Humor erschliessen lässt, der immer auch ein Kommentar zu gesellschaftlichen Entwicklungen ist. Der Klappentext des Buches verspricht einen „kritischen Blick auf unsere westliche Zivilisation“ und die „aktuelle Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft“. Und die sieht düster aus, nicht nur in der Comic-Welt Oliver Grajewskis.
Der Künstler, dessen Arbeiten selten eindeutig als Comics zu identifizieren sind – Bildgeschichten will er sie am liebsten genannt wissen –, arbeitet schon lange an den Rändern des Genres, immer politisch, augenzwinkernd und doch mit dem notwendigen Ernst. Themen wie „Gesellschaft“, „Politik“, „Terror“ oder „Stadt“ werden aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und mit einem feinen Gespür für Zusammenhänge seziert. „Ist die Gier oder die Schuld die treibende Kraft im Kapitalismus?“, fragt Grajewski etwa und berichtet vom „Mühsal der Utopie“, die in den zugehörigen Bildern nicht mehr zu finden ist – die Zeit der Utopien scheint vorbei zu sein.
In ihrer Gesamtheit legen die Strips die Abgründe und Untiefen der westlichen Zivilisation offen, Gentrifizierung und Terrorangst, die Kälte des Kapitalismus: „Wer hätte gedacht, dass der Winter so kalt sein kann …“ Schon in seinen früheren Arbeiten, allen voran in der Reihe Tigerboy, waren die zentralen Motive eine selbstgewählte Einsamkeit und Fluchtstrategien aus der Beklemmung, die aus den Erwartungen und Zwängen der Gesellschaft resultieren. Auch als Künstler verweigert sich Grajewski den Erwartungen, seine Strips wollen weder Comic noch Kunst sein, stattdessen ausufernde Collagen, Zeichnungen und Fragmente des (Pop-)Alltags. „Zum letzten Mal! Mach bei uns mit!“, ruft jemand in einem der Strips, und Grajewskis Antwort lautet entschieden: „Niemals!“

Jonas Engelmann

Oliver Grajewski: „Abend im Abendland“.
Verbrecher Verlag, 164 S., Softcover, farbig,
EUR 28 / CHF 39.90

Daniel Clowes: Mister Wonderful

«Störender Begleittext

Daniel Clowes widmet sich schon länger den nerdigen Aussenseitern an der amerikanischen Westküste. Mal driften seine Stories ins Surreale und hangeln sich von einem Genre zum nächsten wie in David Boring oder Der Todesstrahl, mal verschreibt er sich einem sachlichen Realismus wie in Ghost World, Wilson oder nun Mister Wonderful. Dieses Buch überrascht zunächst alleine schon durch sein aussergewöhnliches Querformat, dass Clowes die Möglichkeit gibt, an einigen Stellen grossformatige Akzente im Breitwandbild zu setzen. Aber die Story ist auch insgesamt ein erzählerischer Coup: Wir erleben einen Tag im Leben des mittelalten Losers Marshall, den Freunde mit der etwas jüngeren Natalie verkuppeln wollen. Der Comic beginnt genau neun Minuten nach der für das Date verabredeten Zeit. Marshall sitzt ungeduldig im Café und nutzt die Wartezeit, um sich hemmungslos den unzähligen Möglichkeiten des Versagens hinzugeben. Als Natalie endlich auftaucht, kennen wir – die Leser – Marshall und seine Neurosen schon besser, als uns lieb ist, und das Scheitern des Dates scheint vorprogrammiert. Doch das Gespräch geht in eine andere Richtung, gibt Hoffnung, auch wenn Marshall jede Gelegenheit für Selbstzweifel nutzt. Der eigentliche Dialog wird auch visuell immer wieder von Marshalls zweifelnden Gedanken überlagert – die Gedankenblasen legen sich wie ein störender Begleittext über die Sprechblasen – und wird somit unleserlich. Clowes findet für den inneren Widerstreit, das Hadern und Zweifeln und die wilden Gedankengebäude, die sich auch bei uns viel zu häufig vor unser Handeln drängen, eine wunderbare ästhetische Entsprechung. Marshall ist zwischen Posing und Aufrichtigkeit hin- und hergerissen. Gerät der Abend schliesslich zum Desaster, oder doch nicht? Wer weiss? Wenn die Nacht am tiefsten, ist der Tag am nächsten … Daniel Clowes kehrt Marshalls Verletzlichkeit hervor und schafft es so wieder einmal meisterlich, uns einen Menschen nahezubringen, der uns im Alltag wahrscheinlich mächtig auf den Keks gehen würde.

Christian Meyer

Daniel Clowes: „Mister Wonderful“.
Reprodukt, 80 S., Hardcover, farbig,
EUR 24 / CHF 37.90

Pablo Auladell: Le Paradis Perdu

«Das verlorene Paradies» als Schauspiel fürs Auge


Es ist wahrlich ein opulentes, barockes Schauspiel, zu dem der Spanier Pablo Auladell seine Leser einlädt. Auf über dreihundert Seiten breitet er sein Epos vom Verlust des Paradieses aus. Düster ist die Welt schon vor dem Sündenfall, bestenfalls getragen von dezenten Erdfarben. Selbst die Himmelstadt und der Garten Eden erscheinen bloss in mattem Blau und Grün, während die Hölle rötlich glimmt. Über weite Strecken überwiegen Sepia-Töne, oft hart an der Grenze zu Schwarzweiss. Es ist eine Welt, in der die Hoffnung ständig zu ersticken droht.
Als Engel hat sich Luzifer gegen Gott erhoben. In die Hölle verbannt, sinnt er als Satan auf Rache. Den offenen Kampf tauscht er gegen die List ein und verführt im Garten Eden die Menschen Adam und Eva dazu, den verbotenen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu kosten. Auf diese Weise rächt er sich an Gott, dem die Menschen die liebsten Geschöpfe sind, und Adam und Eva müssen Eden verlassen. Sie haben ihr Paradies verloren.
Le Paradis Perdu beruht auf dem klassischen Versepos Paradise Lost des Engländers John Milton aus dem Jahr 1667. Es ist eine gleichnishafte Geschichte über das Aufbegehren gegen eine bestehende Ordnung, wie vollkommen auch immer sie sein mag – und es ist eine Geschichte, die schon im Original viele Lesarten zulässt und nicht weniger in der Adaption durch Pablo Auladell.
Natürlich geht es um den biblischen Ursprungsmythos, um das Gleichgewicht der Kräfte und um Ordnung und Chaos in dieser Welt. Natürlich geht es um starke Werte und Gefühle, um Tod und Sünde, um Treue und Verrat, um Stolz und Anmassung, um Wissen und Hoffnung sowie um Gehorsam und Glück. Doch schon John Milton schrieb Paradise Lost nicht allein aus Glaubensgründen, sondern auch als Kirchenkritiker, Verfechter der Republik und Wegbereiter der Rede- und Pressefreiheit. So liest sich sein Epos auch wie ein Gleichnis auf die Selbstbestimmung des Menschen und auf die Freiheit, die ihm von Natur aus angeboren sei.
Vier Bücher umfasst Pablo Auladells Adaption. Das erste entstand 2010 für einen Poesie-Verlag. An den folgenden drei Büchern arbeitete er ab 2012 drei Jahre lang, bis sie 2015 in Frankreich und in Spanien erschienen. Seine Figuren, Architekturen und Landschaften lassen Einflüsse der florentinischen Renaissance erkennen und heben sich gekonnt von der illustrativen Auslegung des Stoffs durch Gustave Doré (1832 – 1883) ab. Mit seiner eigenständigen Auslegung eröffnet Pablo Auladell einen neuen Blick auf einen europäischen Klassiker und weckt damit gleichermassen das Interesse für den Klassiker und das Medium Comic.

Florian Meyer

Pablo Auladell: „Le Paradis Perdu“.
Actes Sud – l’An 2,
320 S., Hardcover, vierfarbig,
EUR 34.90 / CHF 54.10

Hugo Pratt: Die Südseeballade / Im Zeichen des Steinbocks

Das Glück einer Begegnung

Am liebsten ginge man davon aus, dass sich die Regale aller STRAPAZIN-Leserinnen und –Leser unter dem Gewicht der Corto-Maltese-Bände biegen, denn wenn der Ausdruck Pflichtlektüre auf eine Comic-Serie zutrifft, dann auf Hugo Pratts Corto Maltese. Andererseits ist zu vermuten, dass es wegen Corto Malteses wechselhafter und relativ erfolgloser editorischer Abenteuer im deutschen Sprachraum nicht wenige Privilegierte gibt, denen das Glück des erstmaligen Eintauchens in seine Welt noch bevorsteht. In die Südseeballade etwa, Cortos erstem Abenteuer von 1967, oder in dem Folgeband Im Zeichen des Steinbocks (1970), die zwei ersten Bände der neuen Corto-Ausgabe von Schreiber und Leser.

Mit Corto Maltese schuf der Italiener Hugo Pratt (1927-1995) eine der ganz grossen und lebensechten Comic-Figuren. Corto Maltese, der Seemann ohne Heimathafen und Anarchist ohne Glauben an die Anarchie, lässt sich von Kontinent zu Kontinent, von Abenteuer zu Abenteuer treiben, doch geht es dem belesenen Weltenbummler Pratt um mehr als um das Abenteuer vor exotischer Kulisse. Hugo Pratt verknüpft Cortos handfeste Abenteuer zum einen mit der Zeitgeschichte: Corto tummelt sich oft auf den Schauplätzen historischer Ereignisse, die er mit ironischer Distanz beobachtet, ehe er dann doch eingreift (oder auch nicht). Zum anderen verwebt er Cortos Erlebnisse mit lokalen Mythen und Mystik, in die Corto skeptisch, aber vorurteilsfrei eintaucht.

Im Zeichen des Steinbocks beispielsweise spielt sich in Brasilien ab; es ist eine furios fiebrige Geschichte um die Suche nach einer verschollenen Halbschwester, um magische Candomblé-Zeremonien, furchterregende Halluzinationen, um ewige Freundschaft und unerfüllte Liebe, um Spionage und Schmuggel, um Philosophie, Anarchie und Freiheit – ein Abenteuer aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, in welchem Fiktion, historisch verbürgte Anekdoten, literarische Verweise, Mythologie und Phantasie sich stimmig und stimmungsvoll vermählen.

Seine Glaubhaftigkeit und Vielschichtigkeit verdankt Corto nicht zuletzt dem Zeichenstil von Hugo Pratt: Sein scheinbar flüchtiger, in Wahrheit hoch präziser Pinselstrich, der Schatten und Licht bis an die Grenzen zur Abstraktion auflöst, gewährt dem Leser viel Raum für die eigene Imagination und eigene Emotionen und nicht zuletzt für die Identifikation.

Mit Corto Maltese erneuerte Hugo Pratt nicht nur den Abenteuer-Comic, sondern pulverisierte auch die engen Erzählformate des Comics an sich. Damit gehört er zu den Mitbegründern des Comic-Romans, des Vorläufers der heutigen Graphic Novel, und fand weit über die Comic-Welt hinaus Anerkennung als einer der begnadetsten Fabulierer, Zeichner und Mythenschöpfer. Mit anderen Worten: Verwehrt Euch nicht das Glück der Begegnung mit Corto. Mit Hugo Pratts Corto natürlich und nicht mit dem «neuen» Corto von Canales und Pellejero. Und: Greift zur Klassik-Edition in Schwarzweiss.

Christian Gasser

Hugo Pratt: «Die Südseeballade».
Schreiber & Leser,
200 S., Hardcover, s/w oder farbig,
EUR 32,80 / CHF 45.90

Hugo Pratt: «Im Zeichen des Steinbocks».
Schreiber & Leser,
168 S., Hardcover, s/w oder farbig,
EUR 29,80 / CHF 43.90

Hamed Eshrat: Venustransit

Fliessen, statt feststecken


Der in Berlin lebende Hamed Eshrat hat bereits in Frankreich Comics veröffentlicht, Venustransit ist sein Debüt in Deutschland: Ben nervt sein IT-Job, seine eigene, freie Arbeit als Zeichner will auch nicht so recht weitergehen und mit seiner langjährigen Beziehung zu Julia geht es auch bergab. Seinen zynischen Pessimismus ertrage sie nicht mehr, sagt Julia. Und in der Tat: Ben steckt fest und nörgelt nur noch an allem herum, dabei ist es wohl eher seine eigene Unzufriedenheit bzw. Ziellosigkeit, die ihn nervt. Als ihn Julia mit gepackten Koffern vor vollendete Tatsachen stellt, fällt er in ein Loch, das er mit Parties und One-Night-Stands füllt. Schliesslich macht er sich Julias Wunsch einer gemeinsamen Reise zu eigen und fährt für mehrere Monate nach Indien. Erst diese Reise führt ihn wieder zu sich.
Anstatt von Bens Abenteuern in Indien zu erzählen, baut Hamed Eshrat Bens Skizzenbuch von der Reise in seine Graphic Novel ein. Es sind meist mehr oder weniger abstrakte Formengebilde, die man mit fliessenden Bewegungen – der Gedanken? – assoziieren könnte. Dabei ist es durchaus naheliegend, dass das Skizzenbuch, dessen Seiten als Faksimile abgebildet sind, in Wirklichkeit Hamed Eshrat gehört und er diese Reise tatsächlich gemacht hat. Der autobiografische Anteil der Geschichte ist nicht klar, aber diese zeichnerischen Abstraktionen finden in Momenten grösster emotionaler Wucht auch immer wieder Eingang in die an sich realistisch erzählte Geschichte. Auch das realistische Erzählen beherrscht Eshrat. Er zeichnet nicht nur lebendig, auch die Story ist flüssig erzählt, so dass es einen von Seitenende zu Seitenende zieht. Zudem hat er ein gutes Gespür für Verknappung und allegorische Motive wie die Sisyphos-Legende, die Bens eigener Arbeit am Zeichentisch zugrunde liegt. Mitunter nimmt sich Hamed Eshrat dann die gleiche Freiheit wie sein Protagonist Ben für solche zeichnerischen Experimente, die er ganz wunderbar in die berührende Geschichte um eine Selbstfindung einbettet.

Christian Meyer

Hamed Eshrat: „Venustransit“.
Avant-Verlag,
256 S. , Softcover, s/w,
EUR 24,95 / CHF 31.90

Alex Toth: Creepy Presents Alex Toth

Stilisierter Horror

Der Name Alex Toth (ausgesprochen wie englisch „both“ (beide)) mag nicht vielen Comic-Lesern im deutschsprachigen Raum etwas sagen. Doch wer in den 1980ern mit Comics aufgewachsen ist, wird die eine oder andere Geschichte von ihm gelesen haben. Einige seiner Zeichnungen sind in Gespenster- oder Spuk-Geschichten des Bastei Verlags erschienen, doch die meisten erinnern sich vielleicht an seine Arbeit in den Zorro-Comics, die vom Egmont Ehapa Verlag veröffentlicht worden sind. Der 1928 geborene US-Amerikaner mit ungarischen Wurzeln war praktisch in jedem Comic-Genre tätig: Er komponierte in den Genres Western, Abenteuer, Action oder zeichnete romantische Geschichten oder Comics wie Superman, Batman, Die Grüne Leuchte, Der Rote Blitz und Die X-Men. Und er zeichnete auch Horrorgeschichten.
Ein breiteres Publikum hat erst in den letzten Jahren begonnen, die Arbeit von Toth zu schätzen, unter anderem wegen den Sammelbänden, welche seit einigen Jahren Toths Werk vereinen. Der Verlag Dark Horse hat sich nun den Horrorgeschichten angenommen, die Toth für die US-Serien Creepy und Eerie zwischen 1965 und 1982 gezeichnet hat. Der Band versammelt einige der schönsten Stile, die der Zeichner in seiner Karriere hervorgebracht hat. Denn Alex Toth besass den Eifer, ständig seinen Stil zu verändern, um Neues zu lernen. Nach seinem Credo waren spannende Bildkompositionen und gut aufgebaute Geschichten wichtiger als extravagante, ausschweifende Zeichnungen. Oft verkündete er, er habe die erste Hälfte seiner Karriere damit verbracht zu lernen, was er zeichnen, die zweite Hälfte damit, was er weglassen sollte. Sein Stil ist simpel, klar, hochstilisiert und erinnert an die französische Ligne claire, wirkt jedoch viel realistischer. Will Eisner fand seinen Realismus meisterlich. Gil Kane schrieb in einem Essay, Alex Toth sei in den 1950ern einer der besten Zeichner gewesen, den die Comic-Welt je gesehen habe.
Die Horrorgeschichten muss man nicht unbedingt lesen, es ist nur schon eine Freude, sich die Bilder anzuschauen. Der präzise Stil und das gekonnte Spiel zwischen schwarzen und weissen Flächen sind wirklich meisterhaft. Sein Zeichenstil wurde von Hollywoods Mantel-und-Degen-Filmen und Milton Caniffs Terry und die Piraten geprägt. Obwohl er auch für DC oder Marvel zeichnete, waren ihm Superhelden eigentlich ein Graus. Und als Superhelden-Comics Toths favorisierte Abenteuer-Comics ersetzten, drängte es ihn mehr und mehr an den Rand. Kommerziell erfolgreicher war er mit seiner Arbeit für das Hanna-Barbera-Animationsstudio, mit der er in den 1960ern und 1970ern Trickfilmserien wie Space Ghost, Jonny Quest oder Die Superfreunde einen unverkennbaren Stil verlieh.
Sicherlich stand auch sein schwieriger, kompromissloser Charakter und seine politischen Ansichten (Bekannten zufolge stand er „Rechts von Reagan“) einer wirklich erfolgreichen Karriere im Weg. Doch trotzdem diente er auch jüngeren Künstlergenerationen als Vorbild, unter anderem Jamie Hernandez, der mit seiner Serie Love and Rockets dessen Stil beispiellos weiterführte.
Alex Toth starb, wie jeder Comic-Zeichner vermutlich sterben will, bei der Arbeit an seinem Zeichnungstisch.

Giovanni Peduto

Alex Toth: „Creepy Presents Alex Toth“.
Dark Horse, 162 S. Hardcover, s/w,
$19.99

 

Kurz und Gut

von Christian Meyer


Lukas Kummer legt mit Die Verwerfung einen düsteren Brocken vor: Sein beinahe holzschnittartig gezeichnetes Debüt begleitet zwei Geschwister durch das Elend des Dreissigjährigen Kriegs. So grob die Zeichnungen, so grob die Geschichte in einer apokalyptisch anmutenden Welt, die neben der historischen Referenz gleichermassen an The Walking Dead oder aktuelle Kriegskonflikte erinnert. Unbarmherzig schildert Kummer das Leben der beiden Kinder und ihre brutale Umgebung, der sie sich zunehmend angleichen. Ein erstaunliches und ungewöhnliches Debüt, dessen Gewalt oft nur schwer zu ertragen ist.
Lukas Kummer: „Die Verwerfung“.
Zwerchfell, 120 S., Hardcover, s/w,
EUR 20 / CHF 20.30

Schon vor etlichen Jahren startete die Reihe Unter dem Hakenkreuz und das auf zehn Alben angelegte Projekt von Zeichner Jean-Michel Beuriot und Autor Philippe Richelle ist mit Einer muss es tun nun tatsächlich schon beim siebten Band angelangt. Die Liebesgeschichte zwischen der Jüdin Katharina und dem Wehrmachtoffizier Martin ist aus dem Blickfeld gerutscht, dafür wird Martins innerer Widerstand langsam immer entschlossener und im Juni ’44 wird er in ein Attentat involviert. Beuriot und Richelle bleiben trotzdem ihrer Alltagsperspektive ohne Schwarzweiss-Zeichnung treu und beleuchten die vielen Nuancen zwischen bedingungslosem Widerstandskämpfer und begeistertem Nazi.
Jean-Michel Beuriot & Philippe Richelle: „Unter dem Hakenkreuz: Einer muss es tun“.
Schreiber & Leser, 56 S., Softcover, farbig,
EUR 18,80 / CHF 29.90

Ulla Loge hat die Wiedervereinigung mit 10 Jahren erlebt. Entsprechend ist ihre Geschichte Da wird sich nie was ändern über die letzten Tage vor der Maueröffnung aus atmosphärischen Momentaufnahmen zusammengesetzt: Die Wege ihrer ganz unterschiedlichen Protagonisten in einer Kleinstadt kreuzen sich lose oder laufen parallel, aber alle sind verunsichert von den Ereignissen. Loge zeichnet mit dynamischem und wildem Strich eine unsichere Zeit des Umbruchs, des Wegbruchs.
Ulla Loge: „Da wird sich nie was ändern“.
Jaja Verlag, 160 S., Softcover, s/w,
EUR 18 / CHF 27.90

Ed Piskor widmet sich im zweiten Band von Hip Hop Family Tree den Jahren ’81 – ’83, als die Popularität von Rap durch die ersten Platten weltweite Aufmerksamkeit erfährt, Electro-Tracks entstehen und die härtere New School mit programmierten statt gespielten Beats in den Startlöchern hockt: Run DMC, die Beastie Boys und sogar Chuck D tauchen in der Szene auf. Piskor hat für seine Geschichte des Rap nicht nur alle Fakten parat, er weiss auch, die mythischen Momente in zahlreichen Szenen anschaulich zu vermitteln. Es werden dermassen viele Namen, aber auch Tracks gedroppt, dass man parallel zum Comic auch YouTube am Start haben sollte. Schon jetzt ein Standardwerk im Comic-Format. Nach dem Ende des deutschen Verlags Metrolit muss man allerdings darum bangen, dass die Veröffentlichung der Serie fortgeführt wird.
Ed Piskor: „Hip Hop Family Tree 2“.
Metrolit, 112 S., Hardcover, farbig,
EUR 22 / CHF 31.90

Antonio Altarriba und Keko entfalten mit Ich, der Mörder ein bitterböses Szenario um einen Kunsthistoriker, der sich den Themen Schmerz und Grausamkeit widmet. Der Universitätsprofessor untersucht aber nicht nur die Kunsthistorie, sondern erforscht die Themen privat auch als Mörder. Er kennt weder seine Opfer sonderlich gut noch handelt er aus klassischen Motiven. Der Ästhetik des Mordes gilt sein Interesse. Die düstere Schwarzweiss-Erzählung setzt nur mit wenigen, gezielten Rottönen farbliche Marken, die Autoren verstehen es aber, mit philosophischen Ausschweifungen und erzählerischer Spannung ganz ungewöhnliche Akzente zu setzen.
Antonio Altarriba & Keko: „Ich, der Mörder“.
Avant-Verlag, 136 S., Hardover, zweifarbig,
EUR 24,95 / CHF 38.90

Formell mehr Kurzgeschichte als grafischer Roman im wörtlichen Sinn ist Roses Lächeln von Sacha Goerg. Desmond hat Ärger mit seiner Ex-Frau und streitet sich um den gemeinsamen Sohn Theo. Als er die geheimnisvolle Rose kennenlernt, ist er unvermittelt in Gefahr – und nicht nur er! Goergs kurze Geschichte ist mit leichter Hand erzählt: Die Aquarellzeichnungen kommen ohne Panelrahmen aus, in Gesprächen sind die Protagonisten oft vor weissem Hintergrund freigestellt. Die zeichnerische Leichtigkeit und die Präsentation der Figuren stehen im Kontrast zu deren Problemen. Das passt nicht richtig zusammen, liest sich aber dennoch gut, und die Geschichte hat Herz.
Sacha Goerg: „Roses Lächeln“.
Reprodukt, 104 S., Softcover, farbig,
EUR 20 / CHF 31.90

Bryan Talbot erzählt zusammen mit seiner Frau Mary M. Talbot und der Zeichnerin Kate Charlesworth in Votes for Women die Geschichte der Suffragetten im England des beginnenden 20. Jahrhunderts. Anhand des fiktiven Dienstmädchens Sally begleiten wir die Entwicklung der zunehmend militanten Frauenbewegung, die schliesslich auch für Bombenanschläge verantwortlich ist. Dabei kommt vor allem das Abbild der restriktiven Gesellschaft jener Zeit nicht zu kurz und erklärt die Vehemenz, mit der die Bewegung auftritt.
Bryan & Mary M. Talbot & Kate Charlesworth: „Votes for Women“.
Egmont, 192 S., Hardcover, zweifarbig,
EUR 24,99 / CHF 35.90

Philippe Druillet war einer der Protagonisten, die Anfang der 1970er die Comic-Szene in Frankreich mit ausufernder Science Fiction revolutionierten. 1974 gründete Druillet zusammen mit Moebius u.a. das Magazin Metal Hurlant, zuvor erschienen seine Geschichten um den Raumfahrer Lone Sloane in dem Magazin Pilote. Anders als Moebius› eher flächige und humorvolle Psychedelik, wirft Druillet den Leser in ein wirres Szenario, das barocke Opulenz mit düsterer Post-Apokalypse verbindet. Die Auflösung der Panelordnung und die mal kleinteiligen, mal flächendeckenden und stets sehr farbigen Zeichnungen überwältigen den Leser regelrecht. Mit Die sechs Reisen des Lone Sloane (1970/71) und Lone Sloane – Delirius (1972) – Letzteres nach einem Szenario von Jacques Lob – erscheinen die wahnwitzigen Geschichten erstmals auf Deutsch in zwei schönen, grossformatigen Alben mit viel Bonusmaterial.
Philippe Druillet & Jacques Lob: „Die sechs Reisen des Lone Sloane“; „Delirius“.
Avant-Verlag, je 80 S., Hardcover, farbig,
je EUR 29,95 / CHF 43.90

Biografien

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MAZEN KERBAJ ist ein libanesischer Comic-Künstler, Zeichner und Musiker, 1975 in Beirut geboren. Er ist der Autor von über 15 Büchern, die in zehn Sprachen übersetzt wurden. Seine Werke werden in Galerien, Museen und Kunstmessen auf der ganzen Welt ausgestellt, seine Zeichnungen und Kurzgeschichten erscheinen in libanesischen Anthologien, Zeitungen und Magazinen, aber auch in internationalen Publikationen. Zudem gilt Kerbaj als einer der Initiatoren und Hauptfiguren der experimentellen und frei improvisierten libanesischen Musikszene. Er ist Mitbegründer von Al Maslakh, dem ersten Musiklabel in der Region, und Irtijal, dem jährlich stattfindenden Festival für frei improvisierte Musik. Zurzeit lebt er als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) in Berlin. Comics von Mazen Kerbaj erschienen in STRAPAZIN Nr. 111 und 115.
www.irtijal.org
www.almaslakh.org
www.berliner-kuenstlerprogramm.de/en/gast.php?id=1269
www.kerbaj.com

HARSHO MOHAN CHATTORAJ lebt als Zeichner und Illustrator in Kolkata, Indien. Seit fünfzehn Jahren zeichnet er eigene Geschichten, aber auch Auftragsarbeiten für Klienten in Indien, Grossbritannien und den USA. Seine Graphic Novels Ghosts of Kingdoms Past, Chakrapurer Chakkareund Hyderabad Graphic Novel wurden in Indien begeistert aufgenommen. Harsho arbeitet auch als Journalist, Visualizer, Storyboard-Zeichner und Synchronisationssprecher für Filme, aber seit er im zarten Alter ein Asterix-Album in den Händen hielt, gilt seine Liebe vor allem den Comics. Arbeiten von ihm erschienen in STRAPAZIN Nr. 112 und 115.
harshomohan.wordpress.com

RO, legendenumwittertes Zürcher Urgestein, war im letzten Jahrhundert einige Jahrzehnte als Illustrator vor allem in der linksalternativen Szene Zürichs tätig, in diesem Jahrhundert ist er meist unterwegs in Europa. Im Internet ist er nicht zu finden, eher in einer gemütlichen Kneipe irgendwo zwischen Ostsee und Ägais.
Das Titelblatt zu dieser Ausgabe stammt aus seiner Feder.

HILA NOAM, Absolventin der Bezalel Academy of Arts and Design in Jeru-salem (an der sie heute unterrichtet), arbeitet als Illustratorin und Comic-Künstlerin für Kinderbücher und Magazine in Tel Aviv. Sie nahm an verschiedenen Ausstellungen in der ganzen Welt teil. Ein Kinder-Comic, von ihr geschrieben und gezeichnet, wird noch 2016 erscheinen.
www.hila-noam.com

ISABEL PETERHANS arbeitet seit Abschluss des Studiums 2012 als freischaffende Illustratorin und Reportagezeichnerin. Ihre ausgezeichnete Diplomarbeit Yallabyebye ist 2014 bei Edition Moderne, Zürich und bei L‘agrume, Paris erschienen.
Wenn sie nicht im Atelier zeichnet, freut sie sich, für Comic-Reportagen die weite Welt erkunden zu können. Sie hat unter anderem in Innerschweizer Klöstern, in Italien und Haiti gezeichnet.
Dank des Stipendiums Reporters in the Field der Robert Bosch Stiftung wird sie, zusammen mit der Journalistin Juliane Löffler, im März 2016 eine Reportage-Reise an die osteuropäischen Grenzen Europas unternehmen.
Eine ihrer Arbeiten erschien in STRAPAZIN Nr. 118.
www.isabelpeterhans.ch

ZEP, eigentlich Philippe Chappuis, geboren 1967 in Onex, ist der einzigeSchweizer Comic-Zeichner mit Auflagen in Millionenhöhe. Er gab mit zwölf sein erstes eigenes Comic-Magazin heraus, dessen Titel ZEP zu seinem Pseudonym wurde. Später besuchte er die Ecole des Arts Décoratifs in Genf, zeichnete für das belgische Magazin Spirou, und arbeitete für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, vor allem im französischen Sprachraum, weshalb er in der Deutschschweiz, in Deutschland und Österreich erst spät bekannt wurde. Titeuf, der freche Knirps, wurde in den 1990er Jahren zum internationalen Bestseller, 2004 erhielt Zep für sein Lebenswerk den Grand Prix de la Ville d’Angoulême. Auf Deutsch liegen 13 Bände mit Titeufs Abenteuern vor, erschienen bei Carlsen.
zepworld.blog.lemonde.fr

PAULA BULLING /
BORDERSPACE DOCUMENTATION COLLECTIVE
Das borderspaces documentation collective entstand 2015 in Kopenhagen in der Absicht, die Entwicklung der europäischen Grenzpolitik bezüglich der Migrationsströme zu dokumentieren. Das Kollektiv ist Teil eines grösseren Netzwerkes von Menschen mit und ohne Aufenthaltsbewilligung, das in den Sparten Musik, Text und Visual arts tätig ist.
Der vorliegende Comic entstand als kollektiver Schreibprozess, die Zeichnungen stammen von Paula Bulling, die Texte von Kirstine Mose, Nanna Hansen und anderen, die zusammen auf Lesvos waren. Für sie stehen die Kürzel, die im Text auftauchen.
paulabulling.net
thebridgeradio.dk
borderspaces.tumblr.com

CHRISTOPH ABBREDERIS, geboren 1961 in Bregenz, Österreich, lebt meistens in Wien. Nach einem Illustrations- und Grafikstudium arbeitete er für Werbung, Magazine und Zeitungen, u.a. The New York Times, The Wall Street Journal und Cosmopolitan sowie als Illustrator von Büchern und Kinderbüchern. Jeden Tag erscheint auf seiner Website eine neue Folge von Das tägliche Scheitern. Abbrederis ist seit vielen Jahren mit unzähligen Comic-Beiträgen in STRAPAZIN vertreten.
www.abbrederis.com