No:121

  • Cover: Martina Walther


EDITORIAL

In dieser Nummer nähern wir uns einem Thema, das uns ganz direkt angeht, nämlich dem Alter, dem Älterwerden, dem Altsein.
Claudio Barandun und ich sind nicht Angehörige derselben Generation. Aber sind wir alt? Ich – Roli Fischbacher – bin mit meinen 59 Jahren sicher nicht mehr jung, Claudio – Jahrgang 1979 – zählt inzwischen auch schon einige Lenze. Aber was ist alt? Was ist jung? Wie sehen jüngere Menschen ältere? Wie sehen jüngere Menschen sich selber im Alter? Wie sehe ich mich als älteren Menschen selber? Wir steuerten keine bestimmte Aussage zum Thema Alter an. Vielmehr suchten wir ganz unterschiedliche Ansätze, Standpunkte und Annäherungen in Bild- und Wortgeschichten. Die mitwirkenden Zeichnerinnen und Zeichner finden sich zwischen den Jahrgängen 1956 und 1994. Zwischen dem Ältesten und der Jüngsten liegen achtunddreissig Lebensjahre. Machen nun diese Jahre einen Unterschied in der Betrachtung des Alters aus?
Das Cover dieser Ausgabe zeigt einen Jungbrunnen. Bekanntes Beispiel dieses Bildthemas ist Lucas Cranachs Bild aus dem Jahr 1546. In der Kunst des späten Mittel­alters und der Renaissance war der Jungbrunnen einerseits Zeichen des Ekels über den Anblick alternder Körper – im speziellen des weiblichen – und andererseits der erotischen Aufladung des dem Bade entstiegenen jungen Gegenparts. Überhaupt finden sich seit der Renaissance in der Kunst immer wieder Darstellungen der vermeintlichen Hässlichkeit und Widerlichkeit, aber auch der Idealisierung des alternden Körpers. Dabei hat der Mann in der Verklärung des Alters eindeutig einen besseren Stand als die Frau. So kann er gottgleich – wie etwa bei Michelangelo oder Tizian – im alterslosen Körper und mit Rauschebart lustwandeln. Von Rembrandts Altersporträts über Goyas Hexenbilder und Georg Grosz’ Milieubilder bis hin zu Lucian Freuds Studien nackter Körper dient der alternde Mensch jedoch meist als Metapher für die Vergänglichkeit und die Auf­lösung.
Und falls dann mal mit dem Körper eigentlich alles stimmt, klappt es oft im Obergeschoss nicht mehr. Schwierige Zeiten stehen also an. Nehmen wir es in allen Facetten, aufregend, nervend, langweilig, gefährlich oder einfach wie bisher, aber mit einer gehörigen Portion Altersmilde.
Roli Fischbacher

 
 

DAS GESCHRIEBENE WORT

Alter und Literatur

Ein Beitrag zum Unabänderlichen
von Wolfgang Bortlik

Ah, but I was so much older then
I’m younger than that now

(Bob Dylan, “My Back Pages”)

Das Alter ist ein mieser Geselle. Es fährt einem in die Glieder und in den Kopf. Man feiert die Geburtstage, auch und vor allem die runden, nicht mehr. Ab 22 Uhr gähnt man regelmässig und schaut, dass man Punkt Mitternacht zuhause oder besser schon im Bett ist. Knie und Hüften machen auch nicht mehr so mit beim Fussball. Die Arthrose tobt und der Harndrang wird dein stän­diger Begleiter. Und wenn du länger nicht mehr gesehene Bekannte triffst, robotert das Hirn sofort los: “Wie heisst die oder der jetzt schon wieder?” Ja, undsoweiter.
Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.), der ein biblisches Alter für die dama-
lige Zeit erreichte, war ein römischer Philosoph, Redner, Schriftsteller und Kon-sul. Er hat in seinem Text De Senectute oder Cato der Ältere über das Alter Folgendes ausgedrückt.
Das Alter halte von Taten ab (unam quod avocet a rebus gerendis). Es mache den Körper schwach (alteram quod corpus faciat infirmius). Es beraube einen beinahe aller Wollust (tertiam quod privet omnibus fere voluptatibus). Es sei nicht mehr weit vom Tod entfernt (quartam quod haud procol absit a morte). Vor allem die letzte Erkenntnis haut uns in ihrer Stringenz natürlich aus den Socken.
Aber dann schlägt Cicero zurück, argumentiert messerscharf und entkräftet diese Erkenntnisse wie folgt: Die Taten des Alters würden sich nicht durch Kraft, sondern durch Voraussicht, Autorität und Entschlusskraft auszeichnen. Nicht allein das Alter mache den Körper schwach. Schwachheit rühre oft von unvernünftigem Lebenswandel her. Ausserdem brauche man im Alter weniger Kraft. Trotzdem gelte es, den Geist durch regelmässige Übung zu stärken. Wollust stehe dem vernünftigen Lebenswandel sowieso entgegen. Folglich sei es kein Verlust, sondern gerade­zu ein Geschenk, hiervon befreit zu sein
(O praeclarum munus aetatis, siquidem id aufert a nobis, quod est in adulescentia vitiosissimum!). Von Viagra ahnte Cicero selbstverständlich noch nichts.
Bei der Nähe zum Tod stottert auch er ein bisschen, seine Argumentation ist jetzt etwas schartig, weil ihm nur die Religion einfällt. Möglicherweise führe der Tod ja zu einem ewigen Leben (futurus aeternus).
Kurzum, es gibt laut Cicero eigentlich keinen Grund, das Alter zu fürchten. Immerhin hat man gelebt, womöglich sogar ohne die ganze gequirlte Scheisse von Karriere, Vorsorge und anderen Rundumsorglospaketen. Man hat eventuell Kinder und Enkel bekommen, einen Baum gepflanzt, genügend getrunken und geraucht, ein Buch geschrieben oder einen Beitrag fürs STRAPAZIN geschrieben und kann nach den letzten Schweizer Nationalratswahlen in mildem oder wildem Zorn zurückschauen. Und falls das alles zu anstrengend ist, bleibt einem immer noch die Köstlichkeit, um Mitternacht den ollen Körper in der Horizontalen an die duftende Bettwäsche anzuschmiegen – was gibt es Lustvolleres?

In der Literatur scheint das Alter aber trotz all dieser motivischen Fülle ein Tabu zu sein. Selten ist mir so wenig zum Thema auf- und eingefallen. Man will ja nicht gleich zum Hundertjährigen greifen, der durch ein Fenster stieg oder zum Neunundneunzigjährigen, der in eine Leberkäsesemmel (mit Gurkerl) biss.
In der Weltliteratur gibt es beispielsweise den grandiosen Roman Senilità (auf Deutsch Ein Mann wird älter) von Italo Svevo, aber der Protagonist ist erst 35 Jahre alt und einfach früh vergreist.
Für den eigentlichen Romancier des Alters hielt ich als Jugendlicher immer den guten Karl May. Seine prägnanten Romanhelden wie Old Shatterhand, Old Surehand und Old Firehand stellte ich mir als gewaltige Alte vor, die in biblischem Furor im Wilden Westen und in den Schluchten des Balkans aufräumten. Wie enttäuscht war ich, als in den deutschen Karl-May-Verfilmungen das ge-schleckte Milchgesicht Lex Barker den Old Shatterhand spielte und nicht ein knorriger und gewaltiger Greis à la Moses, der mit Kollateralschäden die Gesetz­tafeln zu Boden schmetterte. Apropos Bibel: Methusalem, einer der vorsintflutlichen Urväter, soll ja 969 Jahre alt ge-worden sein. Dies könnte jedoch auch von einem simplen Rechenfehler herrühren.
Jenes “Old” vor dem beschreibenden Übernamen hat mich als Teenie auf eine falsche Fährte geführt. Herzlich lachen musste ich letzthin im Tram, wo sich ein aufgeweckter Kindergartenschüler mit einem tiefempfundenen “Hey, Alter” an seinen gleichaltrigen Freund wendete.

Kommen wir beim Thema Alter gleich nochmal zum Film: Viele kennen wohl den Streifen Harold und Maude aus dem Jahr 1971. Der war zuerst ein ziemlicher Flop und wurde gleich auch von der Kritik total zerrissen. Erst im Laufe der Jahre geriet das Werk doch noch zum Kultfilm. Da ist dieser ziemlich widerliche Jugend­liche namens Harold, der vom Selbstmord völlig fasziniert ist und ihn immer wieder inszeniert, zum Schock für seine reiche, oberflächliche Mutter. Harold kriegt sich erst ein, als er die 79jährige Maude kennenlernt. Sie zeigt ihm, wie schön das Leben eigentlich ist. Klingt jetzt ziemlich seifig, aber so ist das nun einmal. Im Alter hat man ein Leben erlebt und kann das abschätzen. Und so ein Leben an und für sich ist nicht das Schlechteste. Auf jeden Fall ist es grösser, schöner und besser als so ein juveniler Suizid-Nerd
es jemals erahnen kann.
Das Drehbuch zu dieser Tragikomödie hat der australische Autor Colin Higgins geschrieben. Gleich nachdem der Film herauskam, hat er das Script zu einem Roman erweitert, der aber lange nicht so erfolgreich wurde wie der Film. Selbst hat Higgins die Weisheit des Alters nicht mehr erfahren dürfen, er ist gar nicht alt geworden und 1988 im Alter von 47 Jahren an AIDS gestorben.

Auch Bertolt Brecht hat eine Geschichte über eine alte Frau geschrieben, mit dem sehr schönen Titel Die unwürdige Greisin. Frau B. hat das ihr zugemessene Leben gelebt – als Tochter, als Ehe- und Hausfrau, als Mutter von fünf Kindern. Inzwischen zählt sie stolze 72 Jahre. Mit dem Tod ihres Mannes ändert sie nun ihr Leben schlagartig. Genau betrachtet, hat sie hintereinander zwei Leben gelebt. Das zweite als Witwe ganz einfach als Frau B., eine alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln. Sie geht in Restaurants und ins Kino, sie macht
eine Reise und unterstützt Bekannte. Das sieht einer ihrer Söhne mit Sorge und will sie sogar entmündigen lassen. Doch Frau B. stirbt vorher, mit 74 Jahren. Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit aus­gekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen.

Über Sucht oder besser vielleicht Alkohol im Alter gibt es selbstverständlich nicht nur dröge Fachliteratur, sondern auch viel Erheiterndes. Gerade diesbezüglich ist es wieder einmal an der Zeit, auf den unvergleichlichen Wilhelm Busch und seine Reimkunst hinzuweisen.
Die kulturelle Postmoderne hat ja, nicht nur zum Guten, die alten Formen der Kunst erschüttert und zerbrochen. Aber als genuiner Rhythmiker liebt man nun einfach den Reim mehr als den lyrischen Flattersatz. Und was Busch zum Beispiel im scheinbar harmlosen Max und Moritz dichtet, ist eigentlich ein Rap allererster Güte.
Eines seiner Werke über das Altern
ist die grossartige Knopp-Trilogie. Tobias Knopp geht auf Wanderschaft, um eine Ehefrau zu finden. Deswegen klappert er alte Bekannte ab, etwa einen Herrn namens Sauerbrot, der sich aus ganz gewissen Gründen gerade einen Punsch gemacht hat:
Heissa, rufet Sauerbrot
Heissa, meine Frau ist tot.

Knopp kommt aber auch zum Rektor Debisch, der seinen Sohn gleich in den Weinkeller schickt:
Rotwein ist für alte Knaben
Eine von den besten Gaben.

Schliesslich vermählt sich Knopp mit seinem Hausmädchen, diese Ehe und die sehr lebhafte Tochter Julchen sind Teil zwei und drei der Trilogie. Und als Knopp alt ist, wird er nicht mehr gebraucht.
Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt
Läuft die Zeit; wir laufen mit.

Und am Ende zwickt die schwarze Parze mit der Nasenwarze den Knoppschen Lebensfaden ab.

In der Ausübung seiner literarischen Profession hat auch der grosse Molière den Löffel abgegeben. Bei seinem letzten Stück Le Malade imaginaire (auf Deutsch Der eingebildete Kranke) spielte er die Hauptrolle. Bei der vierten Aufführung am 17. Februar 1673 erlitt er, 51jährig, einen Schwächeanfall und starb wenig später in seiner nahe gelegenen Wohnung. Nein, das Alter ist echt nicht mehr allzu weit vom Tod entfernt. In diese Erkenntnis muss man sich schicken. Aber handkehrum sah ich mir letzthin per Zufall eine der typisch prätentiösen und verschnarchten Kultursendungen des Schweizer Fernsehens
an und da hörte ich als Hintergrundmusik das epochale Jumping Jack Flash von den Rolling Stones. Es traf mich wie des Donners Schlag. Sofort war ich wieder 16 Jahre alt, ruhelos und leicht verzweifelt. Ich lebte damals in der trostlosen Ge-meinde Reinach im Kanton Aargau und fieberte leidenschaftlich auf die Ausstrahlung der Radio-Hitparade im Sommer 1968 hin, denn dort wird Jumping Jack Flash ohne Zweifel die Nummer eins
einnehmen. Revolution Rock. Kurzum: Damit man ein Bewusstsein für das Jungsein bekommt, muss man erst alt werden!

Eine Literaturliste erübrigt sich diesmal, die präsentierten Texte sind als Buch öfters nicht lieferbar, aber man kann sie im Internet nachlesen. Oder man kann auch mal wieder in einem Antiquariat stöbern. Es gab beispielsweise eine schöne Ausgabe von Wilhelm Buschs gesammelten Werken in 7 Bänden beim Diogenes Verlag.
Colin Higgins’ Roman Harold und Maude gibt es im Ullstein Taschenbuchverlag für EUR 8,99 / CHF 12.90.

 
 

PFLICHT LEKTÜRE

Tobi Dahmen: Fahrradmod

Der Prozess

“Wir hatten kein Internet, kein Spotify, nix. Stattdessen mussten wir voneinander lernen, kein Link bei Amazon oder ITunes half uns bei der Suche.” Eine Jugend in der Provinz in den Achtzigern. Irgendwann wird auch Wesel am Niederrhein von britischen Subkulturen heimgesucht, und augenblicklich erscheint dem Protagonisten in Tobi Dahmens autobiografischer Arbeit Fahrradmod das Leben entfernt der Metropolen doch nicht mehr so trostlos. Er wird Mod und muss sich plötzlich mit den gleichen Problemen herumschlagen wie die britischen Mods der Sechziger: mit prügelnden Rockern, Abgrenzungsgesten gegenüber anderen Jugendkulturen und kopfschüttelnden Erwachsenen. “Zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass anders zu sein vielleicht gar nicht so schlecht ist! Nun musste ich nur noch Leute finden, die genauso anders waren wie ich”, denkt Tobi, und diese Leute sind schnell gefunden. Reisen an den Sehnsuchtsort England und das immer tiefere Eintauchen in die Mod-Szene folgen, doch weil die Jugend eine immerwährende Verwandlung ist, geht die Reise schnell weiter in die Ska-Subkultur, in die sich nach und nach auch immer mehr Nazis verirren. Diese Irritation der friedlichen Popkultur und die nicht immer ausreichende Abgrenzung gegenüber dieser politischen Vereinnahmung lassen Tobi weitersuchen und schliesslich in der wachsenden Northern-Soul-Szene eine neue Heimat finden. Doch die politischen Irritationen besetzen nur einen – wenn auch wichtigen – Nebenstrang der Handlung. Neben dieser Reise durch verschiedene Subkulturen begleitet man den Protagonisten in erster Linie beim Erwachsenwerden, vom ersten Kuss über euphorische Feten und enttäuschte Freundschaften bis zum Wegzug aus Wesel.
Eine Story also, in der sich viele wiederfinden können, mindestens all jene, die in ihrer Jugend ebenso versucht haben, sich über Musik aus der Provinz wegzuträumen. Sensibel und selbstironisch zeigt Tobi Dahmen die Absurditäten wie auch die Bedeutung einer solchen Suche nach etwas anderem, nach irgendetwas, das mehr ist als Alltag, Kleinstadt und Enge. Fahradmod ist mit viel Liebe zum musikalischen Detail gezeichnet, insbesondere in den herausragenden Tanz-Szenen, in denen jede Geste, jedes Symbol und Accessoire perfekt sitzt. Ein melancholischer Rückblick, nicht ohne Ironie, aber auch mit dem Bewusstsein verfasst, dass das Ich der Gegenwart ein anderes wäre ohne diese Vergangenheit. “Vielleicht war ja all das nötig, all die Unsicherheiten, die Rückschläge, die Geschmacksverirrungen, um zu wissen, wer man ist, was man liebt, wohin man gehört”, sinniert ein altersweiser, erwachsener Tobi Dahmen auf der nächtlichen Fahrt von einer Soul-Party zurück zu seiner Familie. Er ist nun selber auf der anderen Seite angekommen, auf der Seite der lahmen Erwachsenen, ist sich dabei jedoch bewusst: “Was wäre mein Leben ohne diese Musik?”
Jonas Engelmann

Tobi Dahmen: “Fahrradmod”.
Carlsen, 480 S.,
Hardcover, s/w,
EUR 29,99 / CHF 42.90

Isabel Kreitz: Rohrkrepierer

Auf der Reeperbahn nachts um halb eins

Es ist eine Liebeserklärung an die Stadt Hamburg und ihre Bewohner, die Isabel Kreitz mit ihrem Comic Rohrkrepierer geschaffen hat, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Konrad Lorenz. Auch wenn mit der Hafenstadt und ihrem eher rauen Umgangston nicht jedermann warm wird, spätestens nach dieser Lektüre versteht man den besonderen und einzigartigen Hamburger Lokalpatriotismus. Lorenz’ autobiografischer Roman spielt im Nachkriegsdeutschland, als die Frauen auf dem Schwarzmarkt Essen zu erstehen versuchten oder aus existentieller Not heraus ihren Körper verkauften, während ihre Männer schwer traumatisiert aus der Gefangenschaft heimkehrten und daran scheiterten, in einem normalen Leben wieder Fuss zu fassen. Seeleute, Kriegsveteranen, Prostituierte, Kleinkriminelle und Zuhälter, dieses Milieu ist der Nährboden für eine neue Generation. Die Protagonisten des Romans und der Comic-Adaption gehören der Kriegs- und Nachkriegsgeneration an, Kinder und Jugendliche die während des Krieges oder danach geboren wurden, und zum Teil ihre Väter noch nie gesehen hatten oder nie sehen würden.
Die mehrfach ausgezeichnete Comic-Zeichnerin Isabel Kreitz hat die literarische Vorlage in ein soghaftes Szenario überführt, das Bild und Text kongenial vereint. Kreitz’ grau-schattierte Bleistiftzeichnungen verstärken auf eindrücklichste Weise die Aussichtslosigkeit der Jugendlichen, die in einer Gesellschaft aufwachsen, welche sich am absoluten Nullpunkt befindet und deren moralische Werte am Boden zerstört sind. Grösstenteils sich selbst überlassen, stürzen sich die Jugendlichen umso intensiver auf das Leben – und dabei sind Sex, Alkohol und Jazz ihre Wegbegleiter. Rohrkrepierer ist mehr als eine Liebeserklärung an Hamburg. Es ist einer der besten Comics über die Generation, die im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen ist.
Matthias Schneider

Isabel Kreitz: “Rohrkrepierer”.
Carlsen, 304 S., Softcover, s/w,
EUR 26,99 / CHF 38.90

Kristin Foltan: Der Kunstraub von Rotterdam

Mutti ist die Beste

Man könnte meinen, dass es sich bei Kristin Foltans Der Kunstraub von Rotterdam um eine spannende Räuberpistole handelt. Doch weit gefehlt, der Titel führt in die Irre. Vielmehr geht es um eine ganz besondere Liebe. Es war einer der spektakulärsten Kunstraube, als 2012 aus der Rotterdamer Kunsthalle sieben millionenschwere Gemälde gestohlen wurden, darunter Werke von Gauguin, Matisse, Monet und Picasso. Die Diebe gingen bei ihrem Raub eher dreist als clever vor. Mit einem Schraubenzieher drangen sie in die Kunsthalle ein, während das Wachpersonal Pause machte, und in weniger als drei Minuten schnitten sie mit Teppichmessern die Leinwände aus den Rahmen, rollten sie zusammen und eilten davon. Die Kunsträuber waren sich nicht einmal bewusst, welch einzigartige Kunst sie da geklaut hatten, denn niemand wollte die Werke kaufen. Händlern, Sammlern und sogar der Mafia waren die Gemälde zu heiss, über die weltweit in den Medien berichtet wurde. Verzweifelt deponierte der Bandenchef die Kunstwerke bei seiner Mutter in einem entlegenen ostrumänischen Dorf. Als er kurz darauf von der Polizei aufgespürt und festgenommen wurde, verbrannte seine Mutter aus Verzweifelung die Weltkunst in ihrem Badeofen.
Foltans Stärke liegt weniger im Wort, vielmehr in der Illustration. Ihr originärer Zeichenstil und ihre dezente Kolorierung unterstreichen diese Realgroteske, über die man ei-
gentlich lachen könnte, wenn dabei nicht solch einzigartige Werke zerstört worden wären.
2002 gab es im Elsass einen sehr ähnlichen Vorfall, bei dem ein Kunsträuber über Jahre hinweg in mindestens 172 Fällen Werke von Brueghel, Cranach und Watteau entwendet hatte. Nach seiner Festnahme entsorgte seine Mutter die Werke auf dem Müll. Mutterliebe kennt wahrlich keine Grenzen.
Matthias Schneider

Kristin Foltan: “Der Kunstraub von Rotterdam”,
Tolles Heft 44. Edition Büchergilde, 32 S.,
Softcover, farbig,
EUR 16,95 / CHF 21.90

Joël Alessandra: Petit-fils d’Algérie

Ein Enkel Algeriens

Derzeit gehören die Schlagzeilen den Flüchtlingen und Migrationsströmen, die sich aus Nordafrika und dem Nahen Osten nach Europa bewegen. Doch gab es auch Zeiten, in denen die Auswanderung in umgekehrter Richtung verlief: Von jenen Europäern, die in der Kolonialzeit ab 1830 nach Algerien übersiedelten und 1962, als das Land seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangte, fluchtartig nach Marseille überschifften, erzählt Joël Alessandra in Petit-fils d’Algérie (deutsch: Enkel Algeriens). Darin vertieft sich der französische Zeichner in die Geschichte seiner Familie. Sein Grossvater, Corrado Alessandra, war um 1902 mit sechs Brüdern von Sizilien nach Algerien ausgewandert. In der Folge stiegen die Alessandras von Maurern zu Architekten und Bauunternehmern auf, deren Bauten (u.a. ein Spital, ein Hotel und ein Kino) bis heute die ostalgerische Stadt Constantine prägen.
Die algerische Vergangenheit seiner Familie blieb Joël Alessandra lange Zeit verschlossen. Selber kam er 1967 in Marseille zur Welt, und über Algerien sprachen sein Vater und sein Grossvater höchstens andeutungsweise. Wenn sich z.B. sein Grossvater über Charles de Gaulle aufregte, der Frankreichs Präsident war, als Algerien unabhängig wurde. Oder der junge Joël mitbekam, wie man die Algerienfranzosen als “Schwarz­füsse” (frz. Pieds-noirs) verspottet. Über die Umstände ihrer Flucht aus Algerien sprachen Vater und Grossvater hingegen nicht.
Das einzige Zeugnis, das sie ihm hinterlassen, sind Familienfotos. Diese nimmt sich Joël Alessandra zum Ausgangspunkt, um sich in Constantine auf die Fährte seiner Vorfahren zu machen und die Wurzeln seiner Herkunft zu entdecken. Die dabei entstandene Reportage schildert gleichermassen die unsichere, von Repressalien geprägte politische Geschichte Algeriens, wie sie auch liebevoll Einblick gibt in jene Ausschnitte des algerischen Alltags, in denen Gastfreundschaft, Humor und Güte den Ton angeben. “Man muss seine Augen weit öffnen und beo­bachten, bis einen die Bilder berauschen”, schreibt Alessandra während eines Marktbesuchs. Mit aquarellierten Bildern, die fern an Jacques Ferrandez’ Algerisches Tagebuch (frz. Carnets d’Orients) erinnern, und seinem feinen Blick für die fremde Kultur baut Joël Alessandra selbst eine Brücke nach Nordafrika und deutet an, welche Beziehungen es zwischen den Menschen rund ums Mittelmeer gab, gibt und geben könnte.
Florian Meyer

Joël Alessandra: “Petit-fils d’Algérie”.
Casterman, 128 S.,
Hardcover, vierfarbig,
EUR 19 / CHF 29.90

Charles Burns: X / Die Kolonie / Zuckerschädel

Teenage Angst

Zehn Jahre lang hat Charles Burns an seinem Opus Magnum Black Hole gearbeitet. Das über 300-seitige Werk ist eine sowohl bedrückende als auch berauschende Allegorie auf die Wirren der Pubertät, angesiedelt im Kalifornien der 70er-Jahre. Die Körperveränderungen werden bei Burns zu monströsen Deformationen, das Teenagerdasein gleicht einer Krankheit, die einen zu einem Leben als Aussätziger verdammt. Auch zehn Jahre nach Black Hole sind Pubertät und Teenage Angst Charles Burns’ Themenschwerpunkt: Seine neue Trilogie führt uns in ein ähnliches Szenario wie in Black Hole: Mit Zuckerschädel erscheint nun der dritte Band um die Geschichte des heranwachsenden Doug, die bereits mit X und Die Kolonie in eine abgründige Welt aus mutierten Wesen und sozialen Abnormitäten führte. Auf der ersten Handlungsebene kreist die Geschichte um einen ganz normalen Jugendlichen, der Ende der 70er-Jahre zwischen Kunstambitionen, Liebesleid und dem Soundtrack von Postpunk in Kalifornien heranwächst. Zu Beginn der Geschichte ist er unglücklich liiert und sucht seinen Platz in der Musik- und Kunstszene seiner Stadt: Mit einer Art Tintin-Maske vor dem Gesicht und einem Kassettenrekorder vor der Brust tritt er mit einer Performance aus Geräuschen und rezitierten Texten auf. Dann lernt er die mysteriöse Sarah kennen, die ebenfalls künstlerische Ambitionen hegt, aber auch ein düsteres Geheimnis mit sich herumträgt.
Ehe sich Doug versieht, gerät er in einen Strudel von Gewalt. Er müsste nun handeln und Verantwortung zeigen. Doch so wie er sich bei seinen Auftritten mit der Maske schützt, entzieht er sich den Realitäten, denen er sich nicht gewachsen fühlt. Wie Doug in den kommenden Jahren mit seiner Vergangenheit umgeht und wie ihn auch die Geschichte seiner Eltern begleitet bzw. prägt, schildert Burns in komplex verwobenenen Erzählebenen, die immer wieder in Dougs Albträumen gespiegelt werden. Die neue Trilogie steht seinem Meisterwerk Black Hole ausser im Umfang in nichts nach. Sie ist aber im Gegensatz zu Black Hole nicht in Schwarzweiss, sondern in kräftigen Farben gehalten. Das ermöglicht Burns, mit einer weiteren Ebene zu spielen.
Christian Meyer

Charles Burns: “X” / “Die Kolonie” / “Zuckerschädel”.
Reprodukt, 56 S. / 56 S. / 64 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 18 / EUR 18 / EUR 20 /
CHF 26.90 / CHF 26.90 / CHF 29.90

François Ayroles: L’amour sans peine

L’amour sans peine

L’amour sans peine (Die Liebe ohne Mühe) ist ein Brevier der Liebe; François Ayroles handelt das hehrste und höchste aller Gefühle mit seltener Gründlichkeit ab. Auf 176 Seiten spielt er die Liebe in allen ihren Erscheinungsformen durch – herbeigesehnt, erträumt, erfüllt, tragisch, unglücklich, geistig, fleischlich, routiniert, blasiert, unterwürfig, dominant, platonisch usw. usf. Ein vollständiger Katalog also, in welchem nur etwas fehlt, allerdings das Wesentlichste: Gefühl. Erotik. Sinnlichkeit. Das Leben.
Die Figuren in L’amour sans peine reden nur. In ein bis drei Seiten kurzen Szenen reflektieren, analysieren, interpretieren, disputieren und debattieren sie – und sie reden so lange, bis die Liebe an ihnen vorbeigezischt oder im Nichts verpufft ist. Sie erklären sich die Liebe nicht, sie reden nur über die Liebeserklärung, wie sie lieber über das Küssen diskutieren, statt sich zu küssen. Und das versprüht die Erotik eines Behördenformulars mit unsinnigen Multiple-Choice-Fragen.
François Ayroles kann ganz schön grausam sein. Vor ein paar Jahren skalpellisierte er in Les Amis die Freundschaft, nun opfert er die Liebe auf dem Altar der reinen Vernunft. Seite um Seite blättert er Illusion um Illusion ab, bis nichts mehr übrig bleibt als ein schales Gefühl der Leere, ein bitterer Nachgeschmack; der Eindruck, da war doch was, da hätte doch etwas sein können?
Diesen Abgesang auf die Liebe tischt uns Ayroles mit ungerührter Miene auf, eiskalt, ohne ein Lächeln. Ayroles ist der Buster Keaton der Comics – und er ist mindestens ebenso komisch. Denn das ist L’amour sans peine in erster Linie: Ein brillantes, ungeheuerlich komisches Buch über alles, was man über die Liebe schon immer eigentlich gar nicht wissen wollte – und das betrachtet, analysiert, reflektiert, diskutiert etc. aus einer gänzlich emotionslosen Perspektive.
Christian Gasser

François Ayroles: “L’amour sans peine”.
L’Association, 176 S.,
Softcover, s/w,
EUR 19

Frodo de Decker: Otto

Irrlichtern mit Otto

Wer “Otto” und “Frodo” liest, denkt im deutschen Sprachraum unwillkürlich an den Hobbit aus dem Fantasy-Klassiker Herr der Ringe und an Otto Waalkes. Von beiden findet man etwas in den Otto-Comics des Belgiers Frodo de Decker: Otto, die Hauptfigur, ist ein kleiner Mann mit einer gurkenförmigen Nase und einem Anzug voller Knöpfe, wie ihn auch Halblinge gerne tragen.
Was Otto umtreibt, weiss man nicht, seine Welt aber ist voller Anleihen aus Legenden, Märchen, Sagen, Science Fiction und Fantasy: Schneewittchen und die sieben Zwerge trifft man da ebenso wie die Arche Noah, die Schlümpfe, Robin Hood, Rattenmonster oder Marsmenschen mit fliegenden Untertassen. Die Wesen dieser Welt sehen wohl putzig aus, wohlgesinnt sind sie trotzdem selten: Da wird Otto von verärgerten Ausserirdischen zur Statue gefroren, Neptun verwendet ihn als Köder für Haie oder die sieben Zwerge zünden eine Kirche an, in der Nonnen singen.
Der ganze Comic ist rasant geschnitten wie ein Hollywood-Actionstreifen, flirrt wie ein Computergame (man hat Otto mit der Kultfigur “Super MarioTM” verglichen) und ist manchmal auch übertrieben: Gag jagt sich auf Gag, und man weiss nie, was als Nächstes passiert. Man wundert sich, man staunt, man schmunzelt, man runzelt die Stirn und irgendwann ertappt man sich, wie man diese spitzbübischen Gestalten und ihr schelmisches Treiben zu mögen beginnt. Wie sie alle ihr Glück und die Liebe suchen, aber nicht finden, macht sie irgendwie sympathisch. Nur bei Otto fragt man sich, muss man ihn mögen oder bedauern? So wie er von einem Unglück ins nächste stolpert, ist man jedenfalls froh, dass man ihn auf seinen fallgrubenreichen Wanderungen nicht begleiten muss.
Frodo de Decker ist ein instinktiver Zeichner, der sich ganz von einem absurden Humor und pulsierender Situationskomik treiben lässt. Alle 48 Seiten gruppieren sich jeweils um einen grotesken Gag. Dieser wiederum setzt sich meistens aus weiteren Streifen mit Slapsticks zusammen. Aufbauend auf einer schnörkellosen Ligne claire, verwendet Frodo de Decker auch alternative Techniken, wie sie Lewis Trondheim in seinen Lapinot- und Ralph Azham-Comics oder Jeff Smith in Bone gebrauchen. Der Verzicht auf Buchstaben und Wort-Sprechblasen erinnert zudem an den Comix 2000, der ganz auf stumme Bildfolgen setzte. Dessen experimentelle Note fehlt Otto zwar, dafür ist er schlicht und einfach ein rundum spassiger Comic.
Webseite von Frodo de Deckers
www.frododedecker.com
Interview mit Frodo de Decker im Online Comic-Magazin Broken Frontier:
www.brokenfrontier.com/frodo-de-decker-otto-interview-comics-ligne-claire
Florian Meyer

Frodo de Decker: “Otto”,
Band 1 + 2.
Kramiek, 48 S.,
Hardcover, vierfarbig,
EUR 10 / CHF 15.—

Will Eisner: Ich bin Fagin

Ich bin Fagin

Antisemitische Karikaturen gibt es in der Weltliteratur einige. Ein besonders übles Zerrbild des Juden hat Charles Dickens mit Moses Fagin geschaffen, dem schmutzigen, geizigen und herzlosen Hehler, der Oliver Twist zum Taschendieb abrichtet. “Aber wie schlecht war Fagin wirklich?”, fragt sich Will Eisner in Ich bin Fagin, und wenn er schlecht war, warum? Die Antwort auf diese Fragen ist keine Literaturadaption, sondern die Neu-Lektüre eines Klassikers aus der Perspektive einer prominenten Nebenfigur.
Dass sich der 2005 verstorbene Will Eisner ganz am Schluss seiner Karriere, 86jährig, mit dem Juden Fagin beschäftigte, hatte auch persönliche Gründe: In The Spirit, seiner grossen Serie aus den Vierzigerjahren, stellte er dem Protagonisten einen schwarzen Jungen zur Seite, Ebony, der allen Klischees des immer fröhlichen, nicht ganz ehrlichen und schrecklich naiven, nun ja, “Negerbuben” entsprach. So ist Ich bin Fagin auch eine Auseinandersetzung mit den ethnischen Stereotypen in seinem eigenen Frühwerk. Andererseits beschäftigte sich der Sohn jüdischer Einwanderer in seinem Alterswerk intensiv mit seiner jüdischen Identität und umkreiste Themen wie Immigration, Integration, Religionen, aber auch Vorurteile und Rassismus.
Auch in Ich bin Fagin geht’s um Einwanderung – allerdings nicht in der Bronx des frühen 20. Jahrhunderts, sondern im viktorianischen London. Dieses lässt Moses Fagin, dem Sohn böhmischer Juden, keine Chance. Seine Versuche, aus dem Armenviertel auszubrechen, scheitern trotz seiner aufrichtigen Bemühungen – es bleibt nur das Leben auf der Strasse, der Handel mit alten Kleidern, Bettelei, Trickdiebstahl, Hehlerei; er landet im Gefängnis, in einer Strafkolonie und zurück in London bildet er Jugendliche zu Taschendieben aus, darunter auch Oliver Twist.
Mit dieser Lebensgeschichte betrachtete Eisner nicht nur Dickens’ London aus der Perspektive der unterprivilegierten jüdischen Minderheit, sondern reflektierte auch, wie antisemitische Stereotypen in der Kultur entstehen, sich verhärten und weitergegeben werden.
Während Eisner in den Graphic Novels seines letzten Lebensjahrzehnts zu Sentimentalitäten neigte, fand er hier zu grosser Form zurück. Natürlich ist Ich bin Fagin streckenweise – nicht anders als Dickens’ Romane – plakativ, inhaltlich wie auch zeichnerisch: Will Eisner, der Sohn eines Kulissenmalers, inszenierte die Comic-Seite wie eine Theaterbühne und lässt seine Figuren ihre Rollen mit theatralischem Pathos spielen.
Aber die Verknüpfungen und Widersprüche zwischen Dickens’ Klassiker und Eisners Deutung der Lebensumstände des Bösewichts machen aus Ich bin Fagin ein anregendes Vexierbild der Vorlage, dessen Humor zwischen humanistisch, bissig und pessimistisch hin- und herpendelt. Anders als Oliver Twist kommt der Jude Fagin indes nicht in den Genuss eines Happy Ends.
Christian Gasser

Will Eisner: “Ich bin Fagin”.
Egmont Comic Collection, 136 S.,
Hardcover, zweifarbig,
EUR 19,99 / CHF 28.90

Sean Chuang: Meine 80er Jahre – Eine Jugend in Taiwan

Die wilden 80er

Sean Chuang ist im deutschen Sprachraum kaum bekannt, in Taiwan ist er für Meine 80er Jahre – Eine Jugend in Taiwan mit dem Golden Comic Award ausgezeichnet worden. Der Schweizer Lehrmittelverlag Chinabooks hat den ersten Teil seiner Jugendbiografie nun in einem zweisprachigen Buch (deutsch/chinesisch) herausgegeben. Der 1968 geborene Chuang hat in seinem Land eine Karriere als Werbefilmer gemacht, Comics hingegen waren ein leidenschaftliches Hobby. In Meine 80er Jahre verarbeitet er seine Kindheits- und Jugenderinnerungen im Taiwan der 1970er und 1980er in episodenhafte Erzählungen. Oft witzig und frech, manchmal traurig. Seine Zeichnungen sind mal naturalistisch, mal im Stile von Mangas karikaturiert. Chuang wächst in einer Zeit des Umbruchs auf: Der Wirtschaftsboom setzt ein, Taiwan erlebt eine politische Liberalisierung und entwickelt sich langsam zu einer Demokratie. Chuangs geschilderte Erlebnisse nehmen indirekt auch auf diese gesellschaftliche Umwandlung Bezug. Die Transitionsphase zwischen chinesischem Kollektivdenken und westlichen Idealen treffen in Chuangs Jugend aufeinander: Während er und seine Freunde in der Schule noch nach sozialistischer Manier gedrillt werden, wird seine Freizeit von der Popkultur dominiert. Nicht selten drehen sich seine Erinnerungen um Kinofilme (Bruce Lee, Star Wars), Spielzeuge (Chokogin-Roboter) oder Computer-Games und unterscheiden sich grundsätzlich nicht von unseren Jugenderinnerungen. Die Geschichten über Chuangs Familie und Schulkarriere könnten jedoch nicht weiter von uns entfernt sein. Mit sehr wenigen Anekdoten vermag der Autor die kulturellen Unterschiede zu unserer westlichen Welt aufzuzeigen, die Leidenschaft für den popkulturellen Materialismus hingegen können viele westliche Leser gut nachvollziehen.
Sean Chuang ist kein Guy Delisle. Bei der Lektüre von Meine 80er Jahre erfährt man nicht viele Fakten über die Geschichte Taiwans, so wie es in Delisles Pjöngjang oder Shenzhen der Fall ist. Aber man hat eine Ahnung, wie es hätte sein können, in Taiwan aufzuwachsen. Delisle beschreibt seine Aufenthaltsorte von aussen, als Aussenseiter, distanziert. Chuang jedoch beschreibt sein Land von innen, als Einheimischer, mit viel Leidenschaft. Man merkt, dass er sein Land liebt, trotz den vielen vergangenen Miss­ständen.
Giovanni Peduto

Sean Chuang: “Meine 80er Jahre – Eine Jugend in Taiwan”.
Chinabooks, 380 S., Softcover, s/w,
EUR 19,90 / CHF 25.50

Jakob Hinrichs: Der Trinker

Kleiner Mann – was nun?

“Am 4. September 1944 wurde Rudolf Ditzen alias Hans Fallada in die Landesanstalt Neustrelitz eingeliefert. Bei einem Streit mit seiner gerade von ihm geschiedenen Frau – Fallada war an diesem Abend wieder einmal sehr betrunken – hatte sich aus einer alten Pistole ein Schuss gelöst und verfehlte sie nur knapp.” Ausgehend von dieser biografischen Begebenheit gelingt Jakob Hinrichs mit seiner Graphic Novel Der Trinker das Kunststück, Leben und Werk des 1947 verstorbenen Autoren zu einem Kunstwerk zu verdichten, das mehr ist als eine Literaturadaption oder eine Schriftstellerbiografie. Hinrichs illustriert den Verfall des Künstlers in einem Stil, der irgendwo zwischen der Neuen Sachlichkeit – deren literarischem Ausläufer auch Fallada zugeordnet wird –, dem Expressionismus und Karikaturen aus der Zeit der Weimarer Republik angesiedelt ist.
In der Landesanstalt bekam Fallada, wenn auch nur widerwillig, die Möglichkeit, seine Zeit mit Schreiben zu füllen, und so entstand dort neben unzähligen Briefen an seine Familie und kürzeren Erzählungen auch der Roman Der Trinker, eine Reflexion über den Alkoholismus. Der Text erzählt von Erwin Sommer, dessen Geschäfte immer schlechter laufen, während sein Alkoholkonsum immer weiter zunimmt. Er landet nach einigen Abstürzen schliesslich in einer Pflegeanstalt, physisch und körperlich am Ende. Die Parallelen des Romans zu Falladas Leben sind unübersehbar. Hinrichs kombiniert die Entstehung des Romans mit den Bedingungen in der Haftanstalt, das Leiden Falladas an der Welt mit dem Niedergang des Geschäftsmannes Sommer. Beide Biografien gehen ineinander über, verschmelzen in einer Person, die schliesslich den Schuss auf die Ehefrau abgibt. “Hans? Hans? Ha! Ich bin Erwin Sommer, Inhaber eines Landesproduktegeschäftes en gros …”, erklärt er zuvor, selbst nicht mehr Herr über seine Identität.
Fallada, der einerseits während des Nationalsozialismus durchaus Erfolge feiern konnte – sein Roman Wolf unter Wölfen gefiel sogar Goebbels – und sich andererseits selbst zensurierte und auf seichte Unterhaltungsromane zurückzog, statt sich wie in seinem Bestseller Kleiner Mann – was nun? mit den Folgen der Weltpolitik auf das Individuum auseinanderzusetzen, war eine zerrissene Persönlichkeit, wie Hinrichs in seiner Graphic Novel veranschaulicht. Ein Schriftsteller von Weltruhm, der in einer NS-Heilanstalt um Papier und Stift betteln muss. Gebrochen von den politischen Umständen und persönlichen Niederlagen, verliert er sich im Alkohol. “Irgendetwas in mir ist nie ganz fertig geworden, irgendetwas fehlt mir, so dass ich kein richtiger Mann bin, nur ein alt gewordener Mensch”, reflektiert Fallada in Hinrichs Comic gegen Ende seines Lebens. Hinrichs Der Trinker ist ein Werk, das sich sensibel und vielschichtig einer der grossen tragischen Künstlergestalten des 20. Jahrhunderts annähert.
Jonas Engelmann

Jakob Hinrichs: “Der Trinker”.
Metrolit, 160 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 25 / CHF 36.90

Céline Fraipont & Pierre Bailly: Die Mauer

Von allen verlassen

Trotz der Thematik ist kaum zu erwarten, dass mit Céline Fraiponts und Pierre Baillys (die Autoren der Kindercomic-Reihe Kleiner Strubbel) Graphic Novel Die Mauer ein jugendliches Publikum bzw. Leserinnen im Alter der Protagonistin anvisiert werden. Zu düster, zu traurig für Dreizehnjährige, denkt man spontan. Die 13-jährige Rosie ist mit den Gefühlswirren der Pubertät völlig allein gelassen – und das darf man durchaus wörtlich nehmen, denn Rosie lebt tatsächlich so gut wie alleine: Die Mutter ist mit einem Liebhaber durchgebrannt und schreibt sporadisch fröhliche Postkarten aus Dubai, mit denen sie sich arglos nach dem Befinden ihrer Tochter erkundigt. Aber auch der alleinerziehende Vater ist ständig auf Reisen, so dass von Erziehung eigentlich nicht mehr die Rede sein kann. Einzig die beste Freundin gibt Rosie noch Halt. Doch als deren Eltern ihrer Tochter den Umgang mit Rosie verbieten, steht diese ganz alleine da. In ihrer grenzenlosen Einsamkeit, die sie allerdings für sich behält, entdeckt sie den Whisky im elterlichen Wohnzimmer, und folglich geht sie auch immer seltener zur Schule. Eines Tages trifft sie an ihrem Lieblingsplatz, einer ruhig gelegenen Mauer in ihrer Nachbarschaft, den 16-jährigen Jo, der ebenfalls alleine wohnt und vollkommen auf sich gestellt ist. Seine Einsiedelei scheint aber selbst gewählt. Ausserdem zählt er zu einer New-Wave-Clique, mit der er ab und zu durch die Gegend zieht, Drogen nimmt und auf Konzerte geht. Jo zeigt wortlos Verständnis für Rosie, und die fühlt sich sofort verstanden, auch wenn das Verständnis eher ab­strakt ist und vielleicht auch etwas oberflächlich. Aber endlich kümmert sich jemand um sie, zwingt sie zu nichts und stellt nicht einmal dumme Fragen. Die düsteren, auf starken Schwarzweiss-Kontrasten basierenden Zeichnungen machen Die Mauer zu einer todtraurigen und sehr berührenden Erzählung, die einem die Tränen in die Augen treibt. Die Mauer erzählt abseits der Unterschichten-Klischees ausnahmsweise einmal von vernachlässigter Aufsichtspflicht in einer selbstsüchtigen Mittelschichtsfamilie. Und vielleicht ist das ein Thema, das in Zeiten des Selbstverwirklichungsdrangs viel häufiger anzutreffen ist, als man zunächst glaubt. Eventuell kann man das doch dreizehnjährigen LeserInnen zumuten. Die wissen wahrscheinlich besser, wovon die Rede ist.
Christian Meyer

Céline Fraipont & Pierre Bailly: “Die Mauer”.
Panini, 196 S.,
Hardcover, s/w,
EUR 19,99 / CHF 28.90

Reto Gloor: Das Karma-Problem. MS – Eine unheilbare Krankheit übernimmt die Kontrolle

Schwarze Schatten

Im Frühjahr 2010 wird bei dem Basler Comic-Zeichner Reto Gloor Multiple Sklerose diagnostiziert. Anfangs zeigt sich die Krankheit in Gleichgewichtsstörungen, doch die Symptome mehren sich, irgendwann verliert Gloor die Fähigkeit zu zeichnen. Das Karma-Problem ist daher am Computer entstanden. Darin verarbeitet Gloor seinen Umgang mit der unheilbaren Krankheit und seinen Versuch, nicht nur die körperlichen, sondern auch die psychischen Probleme, die damit einhergehen, zu bewältigen.
Im Vorwort schreibt Gloor: “Es ist keine leichte Lektüre entstanden”. Tatsächlich nimmt einen die Geschichte ganz schön mit. Gloor berichtet, wie die Krankheit immer weiter Besitz von seinem Körper ergreift, ihn im öffentlichen wie im privaten Leben immer mehr einschränkt und wie das Unvermögen, weiterhin als Comic-Zeichner zu arbeiten, ihn schliesslich auch seiner Existenzgrundlage und eines Teils seiner Identität zu berauben droht. Gloor wird allerdings an keiner Stelle rührselig, er will kein Mitleid heischen, sondern schildert nüchtern den Verlauf der Krankheit und legt in sachlichem Tonfall sein Innenleben frei. Der Leser nimmt so auf sehr persönliche Weise an seinem Schicksal teil, das einen wohl gerade deshalb so ergreift, weil bei dessen Darstellung auf jegliche Effekthascherei verzichtet wird, was es so realistisch und greifbar macht.
Auch auf der visuellen Ebene wird Gloor niemals plakativ, sondern stellt Gefühle subtil und hintergründig dar. In den teils sehr detaillierten, teils auch flächigen Bildern nehmen tiefschwarze Schatten immer wieder überhand. Die Mimik der Figuren wird oft nur angedeutet, Emotionen werden vor allem durch das Spiel mit Licht und Dunkelheit dargestellt. Aufgrund der packenden Handlung erfasst man zunächst gar nicht alle Aspekte der komplexen bildlichen Umsetzung. Erst bei der wiederholten Lektüre bemerkt man etwa, wie vielseitig und dynamisch Gloor mit den Panels umgeht.
Am Ende gelingt es Gloor, seine Krankheit zu akzeptieren und dadurch zu einer positiven Grundeinstellung zum Leben zurückzufinden. Trotzdem muss man leer schlucken. Reto Gloor legt hier nicht nur eine wunderbar gezeichnete Graphic Novel vor, sondern er weckt auch Verständnis und Mitgefühl, ohne auf die Tränendrüse zu drücken. Sicher werden sich auch andere an MS Erkrankte wiedererkennen. Im besten Fall hilft ihnen – und ihnen nahestehenden Menschen – Das Karma-Problem sogar bei ihrem eigenen Umgang mit der Krankheit.
Jan Westenfelder

Reto Gloor: “Das Karma-Problem. MS – Eine unheilbare Krankheit übernimmt die Kontrolle”.
Edition Moderne, 96 S.,
Hardcover, zweifarbig,
EUR 30 / CHF 35.—

Eddie Campbell: The Bacchus Omnibus Edition Volume One

Götter und Gauner

Mit dem Alten Griechenland sind keineswegs auch alle olympischen Götter untergegangen. Ein paar geistern immer noch auf der Erde herum: Hermes widmet sich alten Aufgaben, wie Nachzügler in den Hades zurückzubringen; Theseus – für seine Freunde “Joe” – ist erfolgreicher Geschäftsmann, wenn auch nicht immer ganz ehrlich; und Bacchus, der Gott des Weins und des Rauschs, ist nach wie vor ein Gauner, obwohl er auf seine alten Tage zum Philosophen geworden ist: “Unsterblichkeit ist nicht für die Ewigkeit.”
Es ist bekannt, dass ich Campbell für einen der begabtesten und talentiertesten Zeichner überhaupt halte. Seine Arbeit ist literarisch, emotional, absurd, weise und zuweilen urkomisch. Er ist ein begnadeter Erzähler, Komödiant und Tragöde zugleich, und bedient sich aus einem scheinbar unendlichen Fundus aus Fakten und Trivialitäten, die er aufs Herrlichste miteinander verknüpft. Er ist zudem ein grandioser Stilist, der das Zeug zum Essayisten gehabt hätte. Sein angeborenes Talent, weisse Seiten mit umwerfenden, dynamischen Strichzeichnungen zu versehen, hat ihn wohl zum Comic gedrängt, ein Medium, das er sich zu eigen gemacht hat.
Seinen Rang in der Geschichte des Comics hat sich Campbell längst durch drei absolute Meisterwerke gesichert: From Hell, die Geschichte von Jack the Ripper (mit Alan Moore); die schon etwas ältere, witzige, halb-autobiografische Schnipsel-Sammlung Alec: The Years Have Pants; und natürlich Deadface oder die Bacchus-Stories, eine lose Saga, die seit 15 Jahren in verschiedenen Ländern erschien. Letztere sind Campbells wohl am wenigsten bekannte und unterschätzteste Arbeit. Jetzt wurde die erste Hälfte in einem Band vereint, was ihnen hoffentlich die verdiente Leserschaft beschert.
Die Geschichten beschreiben zu wollen, könnte abschrecken – etwa im Stil von: Ovids Metamorphosen meets Tarantinos Pulp Fiction. Während die Tausenden von Seiten um einen überzeugenden Handlungsstrang herumgewebt sind, ist die eigentliche Erzählform pikaresk, indem sie mit Bruchstücken von Mythen, Erfundenem und unvergesslichen Anekdoten spielt. Bacchus ist ein schelmischer Held, der es mit einer ganzen Galerie bösartiger Figuren zu tun kriegt, etwa The Eyeball Kid (Enkel des vieläugigen Argus) und The Stygian Leech (der stygische Blutegel alias die mächtigste Kreatur des Universums). Bacchus ist ein Superhelden-Comic – und doch viel mehr: Geschichte, harte Kriminalität, Reisebericht, zugleich handelt es sich aber um Memoiren, um Notizen eines Sommeliers. Die Form des Genres wird so komplett überdehnt, parodiert und auf ein neues Niveau gehoben.
Neal Gaiman war es, der die Mythologie in den Comic einführte. Sein Sandman ist eine Tour de force, Bacchus aber mindestens genauso gut. Vielleicht weil er zeitlos menschliche Gefühle wie Gier, Reue oder Furcht erkundet und uns permanent daran erinnert, dass auch Götter nur Menschen sind. Geniessen Sie dieses Wunderwerk mit einem guten Tropfen (das Inhaltsverzeichnis gibt passende Empfehlungen!), im Wissen, dass Volume Two noch vor der nächsten Weinlese herauskommt.
Mark David Nevins

Eddie Campbell: “The Bacchus Omnibus Edition Volume One”.
IDW – Top Shelf, 560 S.,
Softcover, s/w,
ca. $ 39.99

Kurz und Gut

VON CHRISTIAN MEYER


Ralf König ist eine Art Pionier der deutschen Graphic Novel. Obwohl oder vielleicht gerade weil er unter dem Etikett nur selten aufgeführt wird. Denn als er Der bewegte Mann oder Kondom des Grauens veröffentlicht hat, war im deutschsprachigen Raum von Graphic Novels noch nicht die Rede. Sein neuer Comic Pornstory widmet sich wieder mal dem Thema Sex mit Knollennasen. Ein halbes Leben findet bei König auf 150 Seiten Platz, und das auch noch elegant erzählt: vom Entdecken der väterlichen Pornosammlung auf Super 8 über die studentische Hingabe an VHS-Pornos, dem heimlichen Genuss von DVDs als Familienvater bis hin zur nächsten Generation, wenn der eigene Sohn Pornos guckt – inzwischen per Stream. König erzählt von Perversionen, Moralpredigten, Verklemmtheiten und Heimlichtuereien in so kluger wie unterhaltsamer Form, dass es eine Freude ist.

Ralf König: “Pornstory”.
Rowohlt, 160 S., Hardcover, s/w,
EUR 19,95 / CHF 28.90

 
In Éloi erzählen Younn Locard und Florent Grouazel von einer Schiffsreise Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit an Bord ist Éloi aus Neukaledonien, den der Wissenschaftler Pierre mit nach Frankreich nehmen will. Locard und Grouazel erzählen in aufklärerischem Ton, wie Wissenschaft, Religion und der Staat (in Person des Kapitäns und der Mannschaft) mit dem Fremden umgehen bzw. ihre Interessen verknüpfen. In aufwändigen Schwarzweiss-Zeichnungen und mit Spannung schildern die Autoren ihre parabelhafte Abenteuergeschichte über koloniales Gedankengut.

Younn Locard & Florent Grouazel: “Éloi”.
Avant-Verlag, 224 S., Hardcover, s/w,
EUR 29,95 / CHF 43.90

 
Mit Schwere See, mein Herz legt die umtriebige Olivia Vieweg die Geschichte um die 13-jährige Heidi vor, die sich vom Meer magisch angezogen fühlt und glaubt, in einen Seemann verliebt zu sein. Mit dem Teeniequatsch ihrer Freundinnen scheint sie jedenfalls nichts mehr zu verbinden. Leider fühlt sie sich wegen ihrer ungewöhnlichen Fantasien und ihrer schwindenden Zuneigung zu ihren alten Freundinnen permanent schuldig. Die grosse Verunsicherung spiegelt sich in wackeligen Zeichnungen und beengenden Perspektiven. Beruhigende oder Orientierung stiftende Totalen sind rar in dieser Coming-of-Age-Geschichte.

Olivia Vieweg: “Schwere See, mein Herz”.
Suhrkamp, 116 S., Softcover, zweifarbig,
EUR 14 / CHF 21.90

 
Zweifelsohne gilt Hugo Pratts langlebige Serie Corto Maltese als Comic-Klassiker und er als Mitbegründer des Comic-Romans. Die Qualitäten der Abenteuergeschichten um den titelgebenden Piraten im frühen 20. Jahrhundert sind jedoch auf den ersten Blick nicht unbedingt präsent: eine merkwürdige Einführung der Figur im ersten Band Südseeballade, sein zwielichtiges Wesen, eine undurchsichtige Story. Doch mehr und mehr wird Pratts ungewöhnliche Perspektive zur Qualität, und die Ambiguitäten werden zu einem äusserst spannenden Teil der Geschichte, zumal sich überraschend auch ein gewisser Humor in die teils brutale Story einschleicht. Pratt erzählt unscheinbar vielschichtig, und seine grafische Genauigkeit mündet mitunter ebenso beiläufig in erstaunliche zeichnerische Manierismen, die direkt zu Sin City führen. Die mit langem Atem konzipierte Reihe erscheint in aufwändigen Hardcover-Bänden, jeweils als kolorierte und als original-schwarzweisse “Klassiker Edition” (Schreiber & Leser).

Hugo Pratt: “Corto Maltese – Südseeballade”.
Schreiber & Leser, 200 S., Hardcover,
Farb- oder S/W-Ausgabe, EUR 32,80 / CHF 46.90

 
Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne hat sich in den letzten zehn Jahren mit redaktionellen Formaten und der Einrichtung einer Sonntagsseite mit Comicstrips um die hiesige Szene verdient gemacht. Die Strip-Seite wird seit Jahren von Arne Bellstorf (inzwischen ersetzt durch Olivia Vieweg), Tim Dinter, Mawil und Flix im Wechsel bespielt. Die beiden Letzteren sind die Stars der Szene und legen nun zeitgleich ihre Tagesspiegel-Strips als Sammlung in Buchform vor. Mawils The Singles Collection erzählt pointiert aus Mawils Leben, geht mit seinen Supa-Hasi-Stories aber auch komplett in die Fiktion über. Die stilistische Bandbreite seiner Strips in diesem Album im Plattencover-Format ist schlicht beeindruckend. Flix’ Schöne Töchter, im selben Format wie Mawils Album veröffentlicht, kreist vor allem um Liebesfragen, findet aber mit jeder Geschichte nicht nur einen neuen Aspekt des immer gleichen Themas, sondern auch eine jeweils kluge grafische Art der Umsetzung. Es ist wirklich bemerkenswert, mit welcher Produktivität fern jeglicher Redundanz die beiden in ihren privaten Kosmen kreisen und dabei zugleich die grosse Welt mit hineinnehmen.

Mawil: “The Singles Collection”. Reprodukt,
136 S., Hardcover, farbig, EUR 29 / CHF 42.90
Flix: “Schöne Töchter”. Carlsen, 128 S.,
Hardcover, farbig, EUR 24,99 / CHF 35.90

 
Joe Sacco ist einer der bekanntesten Vertreter der Gattung Comic-Reportage. Seit vielen Jahren bereist der Journalist Krisengebiete und hat bislang Comics über Gaza, Palästina, Bosnien, den Irak oder über Indien veröffentlicht. Nun folgt eine Sammlung über den Krieg in Sarajevo. Wie immer stolpert Sacco durch die Wirren des Konflikts und macht keinen Hehl daraus, dass er nicht immer den Überblick hat. Die Metaebene ist stets eingebaut, die eigene Per­spektive wird thematisiert. Und dennoch ergibt sich in den beiden kürzeren Geschichten aus den 90er-Jahren und der längeren Story Der Fixer von 2001, die der Band versammelt, ein intensives und erschütterndes Bild des Konflikts zwischen Serbien und Bosnien. Die überbordenden Zeichnungen sind durchdrungen vom Chaos der Kriegswirren. Die Absurditäten des Krieges erfasst Sacco ebenso wie dessen Tragik. Zynismus ist ihm hingegen gänzlich fremd.

Joe Sacco: “Sarajevo”. Edition Moderne, 176 S.,
Softcover, s/w, EUR 26 / CHF 33.90

 
Ebenfalls autobiografisch und journalistisch geprägt, aber mit mehr künstlerischer Freiheit erzählt Nicolas Wild in Also schwieg Zarathustra von einer Reise in den Iran. In Paris lernt er die iranische Architektin Sophie kennen. Ihr Vater wurde in Genf umgebracht. Nun will sie mit ein paar Freunden in den Iran reisen, um das Vermächtnis des Vaters – ein grosses Kulturzentrum – einzuweihen. Nicolas Wild schliesst sich ihnen an und erlebt ein Iran der Intellektuellen und der Kultur, lernt aber auch das Alltagsleben auf der Strasse und schliesslich die uralte Religion des Zoroastrismus kennen. Leichtfüssig berichtet Wild von einem uns nur wenig bekannten Land und dringt in Zeitsprüngen auch in dessen Geschichte ein.

Nicolas Wild: “Also schwieg Zarathustra”.
Egmont, 224 S., Softcover, s/w, EUR 19,99 / CHF 28.90

 

Biografien

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Martina Walther
*1983 in Konolfingen, Schweiz. Lebt und arbeitet in Luzern und Bern. Studierte an der Hochschule Luzern Illustration Fiction und schloss mit der Arbeit “Transit” ab. Seit August 2014 arbeitet sie als freie Illustratorin. Im neu erschienenen Buch “Zeichner als Reporter”, Christoph Merian Verlag Basel, findet sich eine Arbeit von Martina Walter.
www.martinawalther.ch

Noyau
*1963 in Neuchâtel als Yves Nussbaum. Lebt seit 1986 als Maler, Zeichner und Illustrator in Zürich. Es ist der offizielle Illustrator der Zauberlaterne/ Lanterne magique eines Kinoprogramms für Kinder und war der Art Director des Musikmagazins Vibrations. Seine letzten publizierten Bücher sind “L’œuf”, mit Anna Sommer, éditions Actes Sud BD, das Kinderbuch “Tierweg 1” mit Matto Kämpf, Verlag Der gesunde Menschenversand, beide 2014, und “L’art de vivre”, Les Cahiers dessinés, 2015.
www.yvesnoyau.ch

Christoph Abbrederis
*1961 in Bregenz, Österreich, lebt und arbeitet nun in Wien. Illustrations- und Graphikstudium an der Universität für Angewandte Kunst, Wien. Zeichnungen für die Werbung und diverse Magazine und Zeitungen; u.a. The New York Times, The New Yorker, Cosmopolitan. Buch- und Kinderbuch-Illustrationen (Piper Verlag, Residenz, La Galera), seit 1980 Comics in STRAPAZIN und seit 2004 täglicher Webcomic „Das tägliche Scheitern“.
www.abbrederis.com

Christoph Fischer
*1976 in Luzern. Studierte an der Hochschule Luzern Illustration. Arbeitet seit 2002 als selbständiger Zeichner und Illustrator in Luzern. Von seinen Beobachtungen aus seinem Atelier entstand das 2008 bei der Edition Patrick Frey erschienene Buch “Teufelskreisel Kreuzstutz”. 2010 erkundete er im Rahmen eines Atelierstipendiums die afro­amerikanischen Westside von Chicago zeichnerisch. Das letzte Mal im Strapazin konnte man Arbeiten von Christoph Fischer in der Reportagennummer Nr. 115 sehen, mit gezeichneten Szenen vom Bahnhofplatz in Luzern.
www.christophfischer.ch

Camille Perrochet
*1988 in Lausanne, Schweiz. Studierte Illustration an der Hochschule Luzern für Design & Kunst. Nach verschiedenen Erfahrungen im Bereich Graphic Design arbeitet sie seit 2014 als freischaffende Illustratorin in Bern. Sie hat drei Bilderbücher herausgegeben: “The Man with the Big General Notions”, “Roberta” und “Mélusine, fée bâtisseuse”. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in Japan und an der Biennale für Illustration in Bratislava ausgestellt.

Patrick Savolainen
*1988 in Malaga, Spanien. Arbeitet und lebt in Bern. Studierte an der Hochschule der Künste Bern und an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Freischaffender Autor und Gestalter. Gründete 2012 zusammen mit Sabine Affolter das Büro Affolter/Savolainen.
www.affoltersavolainen.ch

Rosa Guggenheim
*1980. Studium der visuellen Kommunikation an der Hochschule der Künste Bern. Sie lebt und arbeitet als Grafikerin und Zeichnerin in Zürich. Ihr erstes Bilderbuch “Die Vogelforscherin” erschien im Niggli Verlag und ist zurzeit vergriffen. Bis es neu herausgegeben wird, kümmert sich die Autorin in ihrem Atelier um die Alters­vorsorge und übt daneben fleissig russisch.
www.guggenheim.li

Lina Müller
*1981 in Burgdorf, Schweiz. Studierte Illustration an der Hochschule Luzern. Seit 2007 arbeitet sie freischaffend in den Bereichen Kunst und Illustration in Luzern und Altdorf. Sie arbeitet für Kunden wie NEON, DIE ZEIT, Reportagen, Opernhaus Zürich, Migros Magazine und viele andere. 2014 hat sie zusammen mit Luca Schenardi das Buch “berri Jazz”, mit einer Sammlung von Tusche- und Filzstiftzeichnungen einer Reise durch Frankreich und Spanien herausgegeben.
www.linamueller.com
Luca Schenardi
*1978 in Altdorf, Schweiz. Studierte an der Hochschule Luzern Illustration Fiktion. Lebt in Altdorf und arbeitet als freischaffender Illustrator und Künstler in Luzern. Sein bislang grösstes Werk “An Vogelhäusern mangelt es jedoch nicht” erschien 2012 als Buch bei der Edition Patrick Frey.
www.lucaschenardi.ch

David Sandlin
*1956 in Belfast, als Sohn einer Irin und eines Amerikaners. Heute lebt und arbeitet Sandlin in New York als freier Künstler, Dozent für Siebdruck und Illustrator, unter anderem für den New Yorker, New York Times und RAW. Seine Arbeiten wurde auch in “The Best American Comics” 2012 und 2009 publiziert. In STRAPAZIN ist er bereits in den Nummern 40, 53, 80, 93 und 102 vertreten.
www.davidsandlin.com

Sophia Martineck
*1981 in Naumburg, Deutschland. Sie studierte in Berlin, New York City und Liverpool Visuelle Kommunikation und Illustration. Sie lebt und arbeitet als Illustratorin, Designerin und Comiczeichnerin in Berlin und zeichnet für Verlage, Zeitungen sowie für Auftraggeber aus Wirtschaft und Kultur wie The New York Times, Le Monde Diplomatique, Jüdisches Museum Berlin usw. Letztes Jahr erschien das Buch “The Adventures of Sherlock Holmes by Arthur Conan Doyle” bei Rockport Publishers. 2013 erschien in der Büchergilde Gutenberg das Tolle Heft “Die Fliege” und 2012 im Avant-Verlag ihr erstes Buch “Hühner, Porno, Schlägerei”.
www.martineck.com/d