No:146

  • Cover: Lika Nüssli
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EDITORIAL

Ich habe Schuldgefühle gegenüber diesem Word-Programm, welches ich überhaupt nicht beherrsche, und auch gegenüber dem Computer, der ohne mich vermutlich alles viel besser erledigen könnte. Der Katze gegenüber habe ich solche Gefühle weniger, diese Tiere werden überbewertet, aber dafür können sie nichts. Also doch eher der Hundetyp, werden sie jetzt denken. Nein, nein und nochmals nein! Tiere gehören in meiner Welt nicht ins Haus, draussen sind sie doch bestimmt viel glücklicher. Ich würde sogar sagen: Pflanzen, toll! Aber wieso abschneiden und in eine Vase stellen?
Gemäss Definition setzt ein schlechtes Gewissen Selbstreflexion voraus, denn nur so erkennen wir Widersprüche zwischen unserem Handeln und unseren mora­lischen Massstäben. Das bedeutet natürlich auch, dass ein schlechtes Gewissen eine sehr persönliche Sache ist. Wer hohe Wertvorstellungen hat, dem fällt es unter Umständen schwer, diesen gerecht zu werden und Schuldgefühlen zu entgehen.
Im Internet kursieren diverse Texte über das Phänomen des schlechten Gewissens. Mancherorts wird sogar davon abgeraten, auf die eigenen Gewissensbisse einzugehen, denn das Schuldgefühl sei kein gesunder Antrieb. Viel findet sich auch in der Erziehungsliteratur, vor allem über das schlechte Gewissen von Eltern gegenüber ihren Kindern. Auch in diesem Heft finden sich mehrere Beiträge dazu — Familie und Kindheit bieten anscheinend reichen Nährboden für Gewissensnöte jeglicher Art.
Erwachsene haben scheinbar mehr Mühe mit ihrem schlechten Gewissen als Kinder. Klar, mehr Entscheidungen, mehr Verantwortung. Ist ja auch schwierig: Das Kind in uns findet Fliegen einfach cool, aber — na ja, Sie wissen schon — CO², Flugscham et cetera. Genauso beim Essen: Wo kann man heute denn noch nicht-vegetarisch leben, ohne dafür ein schlechtes Gewissen aufgetischt zu bekommen? Falsche Frage? Shame on me. Oder doch eher shame on you? Nun, lassen wir das …

Hoppla, schon wieder viel zu lange auf Instagram prokrasti­niert. Also jetzt weiter im Text. Wobei, hey: Insta — eigentlich ein Superbeispiel für Gewissensgeisselung im Alltag, oder wie sonst soll man auf eine Nachricht wie diese reagieren: BESORGNISERREGENDER MARKT FÜR AFRIKANISCHE GRAUPAPAGEIE WÄCHST. Eigentlich reichen schon fünf Minuten lockeren Scrollens und man hat ein brennend schlechtes Gewissen, nicht gegenüber Instagram, aber allem anderen gegenüber — sich selbst, der unaufgeräumten Küche und den afrikanischen Graupapageien.

Ah, jetzt weiss ich auch wieder, wieso ich überhaupt auf Insta gelandet bin. Eigentlich wollte ich einen Text über Hometrainer lesen. Schlechtes Gewissen, weil er seinen Trainingsplan zu lange hat schleifen lassen, denken Sie jetzt vielleicht. Aber nein: Vielmehr frage ich mich, ob man sich so was in der heutigen Zeit überhaupt generell noch anschaffen darf. Strom verbrauchen, um zu trainieren? Weil man zu bequem ist, um draussen joggen zu gehen? Na ja, wie oben erwähnt, wird man im Netz aber auch schleunigst wieder davon abgebracht, sich von derartigen Gewissensqualen leiten zu lassen. Marketingexpert*innen und vermeintlicher Fortschritt wissen solche kaufhemmenden Gefühle gekonnt zu umschippern. In diesem Sinne: Schiff ahoi und God bless America!
Die Möglichkeiten, um Schuldgefühle zu entwickeln, sind heutzutage grenzenlos. Schauen Sie sich in diesem inspirierenden Heft um, es ist für jede*n was dabei. Und falls Sie am Ende das Bedürfnis haben, sich durch einen kleinen Ablasshandel vom Gewicht des schlechten Gewissens zu befreien, dann unterstützen Sie unsere Arbeit und werden sie einfach STRAPAZIN-Abonnent*in. So geht das.

Herbert Weber
 

Der Dekalog

Merkwürdig, in just diesem Moment, da ich mit Erasmus am Tisch sitze — wir reden wie immer wenig und trinken viel –, just in diesem Moment also, gerade als ich darüber nachdenke, ob es nicht doch das linke Auge Sartres war, das nach aussen schielte, da fällt mir ein, dass ich irgendwann einmal, als Erasmus und ich uns noch nicht kannten und ich noch mit Gogo am Tisch sass und trank — dass ich da an einer Benefizauktion für vergessene Künstler*innen eine originalgetreue Kopie der beiden steinernen Tafeln erstanden habe, in welche die Zehn Gebote eingemeisselt sind. Es handelt sich um eine Kopie jener beiden steinernen Tafeln, die Jahwe — ich weiss nicht mehr genau wann — auf dem Berg Sinai Moses übergeben hat, und die dieser, als er nach 40 Tagen zu seiner Entourage zurückkehrte — die in dieser Zeit das Kalb machte, und um dieses Kalb herumpogte —, jäh zerschmetterte, erzürnt über sein wild um das goldene Kalb herumpogendes Gefolge, woraufhin Moses, diese Krawallbürste, auf Anordnung Jahwes zwei neue steinerne Tafeln als Ersatz für die zerschmetterten herstellen musste.

Warum mir dies gerade jetzt einfällt, da ich mit Erasmus am Tisch sitze und trinke, weiss ich nicht. Denn seit dem Tag, da ich diese Gesetzestafeln erstanden habe, sie mit Didis Hilfe in meine Wohnung getragen (jeder eine) und im Zimmer für an-Benefizauktionen-erstandene-Gegenstände verstaut habe — seit jenem Tag habe ich nur noch einmal an sie denken müssen. Und bei diesem einen Mal habe ich auch nur bedingt an sie denken müssen, denn eigentlich war ich krampfhaft auf der Suche nach meinem Schwert Nortung, das ich auf dem Grünen Hügel dem Siegfried-Darsteller für eine Inszenierung unseres Theatervereins — wir spielten «Robert, der rostige Ritter» — abgegaunert hatte. Dabei stellte ich meine ganze Wohnung und eben auch das Zimmer für an-Benefizauktionen-erstandene-Gegenstände auf den Kopf, wobei mein Blick sekundenkurz die in den schmalen Spalt zwischen zwei Kommoden gestellten Gesetzestafeln streifte und ich mich flüchtig daran erinnerte, wie ich diese an einer Benefitzauktion für vergessene Künstler*innen erstanden hatte.

Ist es mir auch unklar, weshalb mir gerade jetzt, da ich mit Erasmus am Tisch sitze und trinke, einfällt, dass im Zimmer nebenan, dem Zimmer für an-Benefizauktionen-erstandene-Gegenstände, in dem schmalen Spalt zwischen zwei Kommoden diese beiden steinernen Tafeln stehen, so besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass die Plötzlichkeit dieses Einfalls mich beunruhigt und mich die Tatsache, dass ich nicht vermag, sie aus meinem Gedächtnis zu bannen, mehr und mehr zu plagen beginnt.

Gerne würde ich mich, was mein wachsendes Unbehagen betrifft, Erasmus gegenüber offenbaren, doch da wir es uns nicht gewohnt sind, gemeinsam am Tisch zu sitzen und zu reden, lass ich es sein. Was ich jedoch nicht sein lassen kann, ist, an die im Zimmer nebenan liegenden steinernen Tafeln zu denken.

Ehrlich gesagt, bin ich gar nicht so sicher, ob ich mich Erasmus gegenüber gerne offenbaren würde, denn, um bei der Wahrheit zu bleiben, ich mag Erasmus nicht besonders und die Gesellschaft Gogos war mir lieber — auch wenn diese sich in ihren Äusserlichkeiten in keiner Weise von Erasmus‘ Gesellschaft unterschied. Auch mit Gogo sass ich am Tisch, wir tranken viel und redeten wenig. Doch da Gogo seit Monaten an einer Konferenz für Ingenieur*innen tagt, die mit der Aufgabe betraut wurde, in der Nordsee zwei gigantische Wellenbrecher zu errichten (den Nacktbader*innen auf Sylt zuliebe), und er ausserdem beabsichtigt, nach dieser Konferenz gleich dort zu bleiben (um selbst Nudist auf Sylt zu werden), muss ich mich mit Erasmus’ Gesellschaft bescheiden. Denn als Gogo die Stadt verliess, zog Erasmus in dessen Haus ein und ist seither mein Nachbar. Und da ich nicht der Mensch bin, der seine Gewohnheiten einfach über Nacht abstreifen kann, ist es eben Erasmus, mein neuer Nachbar, mit dem ich am Tisch sitze, kaum rede und viel trinke. So sehr das Zusammensein mit Erasmus und das Zusammensein mit Gogo sich äusserlich gleichen, so sehr ist meine Neigung zu Erasmus von meiner Neigung zu Gogo eine verschiedene. Eine eigentümlich ablehnende und feindselige Einstellung Erasmus gegenüber, wie ich sie Gogo gegenüber nie hatte, macht es mir schwer, diesem hold zu sein. Übrigens besitzt Erasmus einen nachtschwarzen, schwanzlosen Kater, dem ein Auge fehlt. Weshalb dem Kater ein Auge fehlt, erfuhr ich noch am selben Tag, an dem Gogo wegen der Ingenieur*innen-Konferenz die Stadt verliess und Erasmus mein neuer Nachbar wurde. Weshalb der Kater keinen Schwanz mehr hat, erfuhr ich hingegen — da ich mich nur nach dem fehlenden Auge, nicht aber nach dem fehlenden Schwanz erkundigte — nie. Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser körperlichen Gebrechen mag ich Erasmus‘ Kater sehr, und dieser scheint auch mich zu mögen, er besucht mich oft in meinem Sommergarten und hilft mir dabei, Traueroden für Dadaist*innen zu schreiben. Auch Erasmus‘ Frau — kurioserweise ist mir ihr Name entfallen —, von der ich die Ursache für die Einäugigkeit des Katers erfuhr, mag ich sehr. Sie hat eine wunderbare Kontrabassstimme, bestimmt die Folge der unzähligen Zigaretten, die sie jeweils durch ein tizianrotes Mundstück raucht. Ausserdem soll sie eine virtuose Golfspielerin sein, worüber mich Lou, die Präsidentin des ortsansässigen Golfclubs, in Kenntnis setzte.

Hege ich also Erasmus gegenüber Aversionen, wie ich sie Gogo gegenüber nie empfand, so sind mir seine Frau, deren Name mir kurioserweise entfallen ist, und sein einäugiger, schwanzloser Kater umso lieber. Und allmählich beginnt es mir zu dämmern, weshalb ich gerade jetzt, da Erasmus und ich am Tisch sitzen und trinken, so fieberhaft an diese beiden Gesetzestafeln denken muss, die ich, lange bevor Erasmus und ich uns kannten, als Gogo noch mein Nachbar war, an einer Benefizauktion für vergessene Künstler*innen erstanden habe, und weshalb mir die Plötzlichkeit dieses Einfalls grosses Unbehagen bereitet. Denn ich entsinne mich nun ziemlich genau der in die steinernen Tafeln eingemeisselten Worte des Dekalogs, die ich wegen meines früheren Wunsches, Rabbi zu werden, auch mühelos zu lesen vermag. Es ist das böse Gewissen, das mich plagt — ich begehre Erasmus’ Frau, ich begehre Erasmus’ Kater.

 
 

PFLICHT LEKTüRE


Cyril Liéron/Benoit Dahan: «Im Kopf von Sherlock Holmes. Das Rätsel der skandalösen Eintrittskarte»

Das Gift der Langeweile

Im geräumigen Oberstübchen von Sherlock Holmes reihen sich Regale voller Bücher aneinander, geordnet nach Rubriken wie «Mord», «Gesetze» oder «Gifte»; ein Zettelkasten enthält Notizen zu den laufenden Ermittlungen. Bis unter den gewölbten Dachstuhl ragt ein Regal zum Thema «Verbrechen», davor steht auf einer Leiter in schwindelerregender Höhe eine hochaufgeschossene schmale Gestalt in blauem Anzug und hantiert mit Büchern. In einem Papierkorb vorne rechts im Bild steckt unter anderem ein Buch mit dem Titel Das Sonnensystem.
So stellen sich Szenarist Cyril Liéron und Zeichner Benoit Dahan das Innere des Denkapparats des berühmtesten und genialsten Detektivs der Literaturgeschichte vor. Mit ihrem Comic Im Kopf von Sherlock Holmes haben sie dem Meisterdetektiv einen neuen Fall auf den hageren Leib geschneidert, nämlich Das Rätsel der skandalösen Eintrittskarte: In einer Novembernacht 1890 flutet Sherlock Holmes seine «Hirnmansarde» mit intravenös verabreichter Flüssigkeit zum Ziel der Stimulierung. «Sie wissen doch, Watson», beschwichtigt er den missbilligenden Freund, «was meine kleine Dachkammer wirklich zersetzt, ist das Gift der Langeweile.» Dann aber bringt die Polizei einen Kollegen von Watson in die Baker Street 221 B. Dr. Herbert Fowler trägt ein zerrissenes Nachthemd und einen einzelnen Frauenpantoffel, hat ein gebrochenes Schlüsselbein und eine riesige Gedächtnislücke. Fest steht nur, dass er am Abend zuvor die Theatervorstellung eines geheimnisvollen chinesischen Magiers besucht hat, denn er trägt das aufwändig verzierte Ticket noch bei sich. Holmes’ Ehrgeiz ist geweckt, und er beginnt sein bekanntes Spiel der Deduktion, das Watson und ihn zu einem spektakulären Verbrechen und ebensolchem Finale führt.
Liéron und Dahan nutzen dezidiert die Mittel des Comics. Der sprichwörtliche rote Faden schlängelt sich über die opulenten Seiten und immer wieder durch den gezeichneten Querschnitt des Kopfes von Sherlock Holmes. Die Panels sind in viktorianischer Manier verschnörkelt oder in Vignettenform in einen Stadtplan von London eingefügt. Hier und da werden Leser*innen aufgefordert, eine Seite umzubiegen, gegen das Licht zu halten oder ein Bild auf dem Kopf zu betrachten, um an Holmes’ Erkenntnissen teilhaben zu können. Eine gelungene Comic-Spielerei! 

Barbara Buchholz

Cyril Liéron/Benoit Dahan:
«Im Kopf von Sherlock Holmes. Das Rätsel der skandalösen Eintrittskarte».
Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, 96 S.,
Hardcover, farbig, CHF 35.— / EUR 28

Spring (Hrsg.): «Spring #18 — Freiheit»

Die Flügel der Freiheit

Freiheit — ein grosses Wort mit vielerlei Bedeutungen. «Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was anderen nicht schadet.» So definiert die 1789 von der französischen Nationalversammlung verabschiedete Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte den Begriff. Freiheit — ein Wort, das Flügel verleiht; so liesse sich das Coverbild der aktuellen Ausgabe der Comic-Anthologie Spring zum Thema Freiheit interpretieren. Eine Gestalt mit ausgebreiteten Schwingen scheint durch die Lüfte zu laufen. Von dem weiblichen Körper sind lediglich die angewinkelten Beine und die Wölbung eines Brustkorbs zu erkennen, auf dem provokant zwei rote Punkte prangen. Entblösste Brustwarzen — eine Freiheit, die für Frauen nicht selbstverständlich ist.
Das Zeichnerinnenkollektiv Spring hat mit dieser 18. Ausgabe wieder eine Sammlung von Beiträgen auf hohem Niveau vorgelegt. Zwölf Künstlerinnen setzten sich mit dem Begriff «Freiheit» auseinander, jede auf ihre Weise, was Stil und inhaltlichen Ansatz angeht. Von abstrakt bis figurativ, von phantastisch bis realistisch.
In der ersten Geschichte The Wall zeichnet die in der DDR aufgewachsene Doris Freigofas in plakativ-malerischen Bildern eine rote Backsteinmauer, an deren Zerstörung oder Überwindung sich eine Frau auf mehreren Seiten vergeblich abarbeitet — bis sich am Ende der Blickwinkel weitet und die Mauer sich als ein freistehendes Stück Wand vor blauem Grund entpuppt.
Stephanie Wunderlich erzählt in ihrem Beitrag Eh nichts passiert von unbeschwerter Freiheit, die sie als Heranwachsende jäh verliert, als sie allein auf dem Rad im Wald von einem Mann bedrängt wird und nur knapp entkommt. Die Zeichnungen in geometrischen Formen und Linien drücken deutlich die einengende Angst der jungen Frau aus — am Ende allerdings auch Triumph, als später ihre drei Töchter mit wehenden Umhängen und gereckten Armen am oberen Bildrand fliegen, ganz offensichtlich frei, sich zu entfalten. Zwischen längere Geschichten sind kleine, pointierte Szenen geschaltet, zum Beispiel von marialuisa, die in lockerem Bleistiftstrich die Kehrseite vermeintlicher Freiheit zeigt.
So unterschiedlich die Beiträge der einzelnen Zeichnerinnen sind, bilden sie gemeinsam doch ein grosses Ganzes. Sie werden, wie auch die älteren Spring-Ausgaben, von einem konsequenten Farbschema als grafischer Klammer zusammengehalten. 

Barbara Buchholz

Spring (Hrsg.): «Spring #18 — Freiheit».
Mairisch Verlag, 224 S.,
Softcover, farbig, CHF 28.— / EUR 24

Sylvia Asmus/Jessica Beebone: «Kinderemigration aus Frankfurt am Main»

Flucht vor den Nazis

«Erinnerungskultur ist ein vielstimmiger und vielschichtiger Prozess», schreiben die Herausgeberinnen Sylvia Asmus und Jessica Beebone im Vorwort des Katalogs Kinderemigration aus Frankfurt am Main, «der davon lebt, unterschiedliche Perspektiven und Herangehensweisen miteinander ins Gespräch zu bringen.» Der Katalog erscheint anlässlich einer Ausstellung im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt und der Errichtung des Denkmals Das Waisen-Karussell der Künstlerin Yael Bartana. Die Ausstellung, die noch bis zum Mai 2022 zu sehen ist, zeigt beispielhaft die Biografien von sechs jüdischen Kindern aus Frankfurt, die von ihren Eltern vor der nationalsozialistischen Verfolgung ins europäische Ausland gerettet werden konnten. Anhand von Briefen der Eltern und «Objekten des letzten Augenblicks» — Puppen, Kleidungsstücken, Koffern und anderen Erinnerungsstücken — die sie auf ihrer Flucht bei sich trugen, werden die Schicksale dieser Kinder aufbereitet. Dass dieser hochwertig aufgemachte Katalog auch im Kontext von STRAPAZIN Erwähnung findet, ist der Tatsache geschuldet, dass zu den von den Kuratorinnen erwähnten unterschiedlichen Herangehensweisen und Perspektiven auch ganz selbstverständlich eigens für Ausstellung und Katalog entwickelte Comics gehören, die auf der Basis von Erinnerungen der geflüchteten Kinder biografische Stationen erzählen. So werden Comics zwar mittlerweile auch in der Geschichtsvermittlung und Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen genutzt, dass jedoch Comicbeiträge im Zentrum einer für ein breites Publikum konzipierten historischen Ausstellung stehen, ist eine Seltenheit. Eine solche Offenheit für das Medium Comic in der Vermittlung historischer Ereignisse ist mir zumindest in der erinnerungskulturellen Aufarbeitung des Nationalsozialismus noch nicht begegnet.
Die sechs Comicbeiträge von Illi Anna Heger, Hamed Eshrat, Magdalena Kaszuba, Sascha Hommer, Birgit Weyhe und Ilki Kocery setzen dabei unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte. Während etwa Illi Anna Heger in ihrem Beitrag über Lili Fürst mit der Abreise aus Frankfurt einsetzt und im späteren Leben von Lili die Momente des Glücks und des Schmerzes symbolisch in den Mittelpunkt rückt, zeigt Birgit Weyhe die zunehmende Ausgrenzung von Josef Einhorn in Nazideutschland. Was alle sechs Beiträge eint, ist der sensible Umgang mit den Biografien, denen behutsam eigene Perspektiven und Blicke hinzugefügt wurden und die den Lebenswegen der Frankfurter Kinder bis in die Gegenwart folgen. Die bekannteste von ihnen, Sexualtherapeutin Ruth Westheimer, deren Leben von Magdalena Kaszuba in beeindruckende Bilder umgesetzt wurde, sagt zur Bedeutung des Erinnerns an die Vergangenheit: «Die Erfahrungen meiner Kindheit haben mich zu der Person gemacht, die ich heute bin.» Diese Erfahrungen werden von den sechs Zeichner*innen über ihre je eigenen ästhetischen Zugänge zum Leben erweckt und so an die nächste Generation vermittelt. 

Jonas Engelmann

Sylvia Asmus/Jessica Beebone (Hg.):
«Kinderemigration aus Frankfurt am Main».
Wallstein, 258 S.,
Hardcover, farbig, CHF 30.— / EUR 24.90

Birgit Weyhe: «Rude Girl»

Ein Leben als Oreo

Auf einer Germanistik-Tagung in den USA wurde der Comic-Zeichnerin Birgit Weyhe vorgeworfen, mit ihren Arbeiten kulturelle Aneignung («cultural appropriation») zu betreiben. Sie reagierte beleidigt: «In Zukunft werde ich nur noch über mittelalte weisse Frauen aus Norddeutschland schreiben.» In Rude Girl zeigt Weyhe, dass auf dieses Reizthema auch mit anderen Mitteln als mit beleidigten Gefühlen reagiert werden kann. In einer langen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle und Position als Zeichnerin sowie im Austausch mit der US-amerikanischen Germanistik-Professorin Priscilla Layne entwickelt sie in Rude Girl eine Form, die es ermöglicht, «dass wir als Beobachtende und Lernende die Welt um uns herum wahrnehmen. Dass wir darüber diskutieren, Fehler machen und diese eingestehen können.»
Am Anfang stand die Idee, einen Comic über Priscilla Layne zu zeichnen, deren Biografie Weyhe fasziniert: Aufgewachsen zwischen den Kulturen, zwischen den USA, London, Deutschland und der Karibik, zwischen schwarzer und weisser Lebenswelt, zwischen Punk, Ska und Reggae. Dem schwarzen Umfeld zu weiss, dem weissen zu schwarz, erfindet Layne sich einen Ort, der sich an der Kultur der Aussenseiter orientiert: Sie wird Punk, Skinhead — und bleibt doch ein Oreo, wie ironisch jene Schwarzen genannt werden, die einen «weissen Kern» in sich tragen. Weyhe verwirft schnell den Plan, lediglich das faszinierende Leben von Priscilla Layne festzuhalten, sondern bezieht diese in den Entstehungsprozess ein, lässt sie die fertigen Kapitel kommentieren, was wiederum in Rude Girl Einzug gehalten hat. Im Dialog der beiden stellt sich immer stärker die soziale Herkunft als prägender heraus als die Hautfarbe bzw. sind es gerade die Wechselwirkungen zwischen rassistischen Ausgrenzungen und jenen aufgrund der Klasse, die das Leben von Layne — wie auch das von Weyhe selbst — in bestimmte Richtungen gelenkt haben. Gleichzeitig reflektiert Weyhe über ihre früheren Comics, etwa darüber, wie sie damals Schwarze dargestellt hat, und wie sie dies heute anders machen würde. Dadurch, dass sie jedes Kapitel mit dem Cover eines Musikalbums beginnt, das im Leben von Layne zu bestimmten Zeiten eine zentrale Bedeutung hatte und die keineswegs dem Kanon von Black Music entsprechen, zeigt sie ausserdem, dass Kultur immer vom Dialog lebt, von der gegenseitigen Beeinflussung, von Aneignungen, Übernahmen, Abgrenzungen — die Alben reichen von Michael Jackson über The Cure bis zum Deutschpunk-Sampler Schlachtrufe BRD.
Es sei wichtig, so Weyhe, «dass wir uns nicht komplett begrenzen. Ich wünsche mir stattdessen, dass alle die Freiheit haben können, auch aus der Perspektive eines anderen Geschlechts, einer anderen Hautfarbe, Religion oder Klasse erzählen zu dürfen.» Mit Rude Girl hat sie einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte geliefert und gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie kulturelle Aneignung produktiv erfolgen kann, wenn man sich in diesem Prozess auch als Lernende versteht. 

Jonas Engelmann

Birgit Weyhe: «Rude Girl».
avant-verlag, 312 S.,
Softcover, farbig, CHF 32.— / EUR 26


Alessandro Tota: «Fratelli»

Jugend

Wie oft haben wir diese Geschichte schon gelesen oder gesehen, in Romanen, Filmen, Fernsehserien, Comics. Und dennoch ist sie immer wieder spannend —ist sie doch eine der wichtigsten Geschichten überhaupt: Der letzte Sommer der Jugend, die Entpuppung — oder auch nicht — zum Erwachsenendasein.
Diese Geschichte erzählt Alessandro Tota in Fratelli, es geht um zwei Brüder, um verkorkste Familienverhältnisse, um einen Kunstdruck von zweifelhaftem Wert; es geht um fehlendes Geld, das man sich notfalls auch auf kriminellem Weg verschafft, um Drogen, von denen man nie genug hat, und um einen Platz in oder am Rand der Gesellschaft.
Alessandro Tota, 1982 geboren, Mitbegründer der stilprägenden italienischen Comic-Zeitschrift Canicola, Autor von Graphic Novels wie Palatschinken und Der Bücherdieb, legte Fratelli bereits 2011 vor; es war sein zweites Werk.
Tota zeichnet die beiden Brüder und ihre Clique als eine Bande orientierungsloser Tagediebe, die Arbeit kategorisch ausschliessen und ihre Zeit lieber mit Playstation, Joints und Ausflügen in halbseidene Unterwelten vertun, immer in der Erwartung, dass sich ihre Zukunft eines Tages von selber manifestiert. Die dazu passende Kulisse ist eine Kleinstadt an der Adria in Berlusconis Italien der späten 1990er-Jahre (mithin Totas eigene Jugendzeit), ein Land auf dem absteigenden Ast, das seiner Jugend nicht genügend Perspektiven zu bieten hat.
Beeindruckend ist, wie klar uns Tota vermittelt, dass das Leben dieser Jugendlichen auf der Kippe steht — jeder Schritt führt sie näher hin zu Kriminalität und Drogen. Trotzdem wirkt die Geschichte nie übertrieben dramatisch, sondern immer beklemmend alltäglich — eine Geschichte eben, wie wir sie ähnlich oft gelesen und vielleicht auch selber erlebt oder beobachtet haben. Tota erzählt auf besonders eindringliche und glaubhafte Weise mit lebensechten Dialogen und in lebendigen, rauen Federzeichnungen. 

Christian Gasser

Alessandro Tota: «Fratelli».
Aus dem Italienischen von Myriam Alfano.
Reprodukt, 160 S.,
Softcover, s/w, CHF 27.50 / EUR 20

Einathan John/Àlàbá Ònájiné: «Lagos — Leben in Suburbia»

Eine schrecklich nette nigerianische Familie

Die Inspiration für Lagos — Leben in Suburbia des Autors Einathan John und des Zeichners Àlàbá Ònájin kommt von den in Nigeria populären TV-Soaps und -Novelas: Viele verschiedene Figuren, viele Verstrickungen und Plot-Wendungen, Dramen und Romanzen, Freundschaft und Neid, Ehekrisen, Tränen, und viel Humor — in diesem Fall durchaus satirisch geschärft. Im Mittelpunkt dieses Sittengemäldes der nigerianischen Mittelklasse steht die Familie Akpoborie, der Vater ist der fundamentalistische Prediger seiner eigenen Freikirche, die Mutter Hausfrau, die jüngere Tochter Keturah wird ungeschickterweise schwanger, der Sohn Godstime entdeckt und erforscht seine Homosexualität. Dumm nur, dass sein Vater mit Vorliebe gegen Schwule und andere Sünder*innen wettert, gleichzeitig aber skrupellos die junge Hausangestellte sexuell missbraucht.
Lagos — Leben in Suburbia liefert einen süffigen Einblick in den Alltag eines mittelständischen Vororts der Millionenmetropole. Nicht materielles und soziales Elend sind Thema dieser Satire, sondern Themen, die sich letztlich nicht sehr von den Sorgen nördlicher Mittelklassen unterscheiden. Die schwungvolle Erzählweise, die vordergründige Leichtigkeit, der Humor, der leicht naive Strich und die bunten Farben täuschen indes nicht darüber hinweg, dass viele drängende und dringliche Fragen angesprochen, gestreift, in vielen Fällen auch vertieft werden: Die Schwulenfeindlichkeit in einem Land, dessen Regierung ein Gesetz gegen Homosexualität erlässt, die Radikalität protestantischer Freikirchen bzw. den fanatischen Islamismus von Terrorgruppen wie Boko Haram, Geschlechterrollen, Chancenungleichheit und anderes mehr. Diese Themen werden nie aufdringlich, sondern immer beiläufig und glaubhaft anhand der verschiedenen Figuren behandelt.
Allerdings macht Einathan John den Fehler, zu schnell zwischen Szenen, Situationen und Figurenkonstellationen zu schneiden und zu zappen; er lässt den Leser*innen kaum Zeit, sich auf eine Situation und die Charaktere einzulassen oder genügend Nähe zu den wichtigen Figuren aufzubauen. Eine Drosselung des Erzähltempos und mehr rhythmische Variationen hätten dieser Graphic Novel gutgetan. Das schmälert das Lesevergnügen allerdings nur wenig, Lagos — Leben in Suburbia ist ein überaus unterhaltsames Album, das einen vielfältigen Blick auf die nigerianische Mittelklasse erlaubt — eine in unseren Breitengraden und gerade in der Comic-Welt viel zu seltene Perspektive auf die afrikanische Realität. 

Christian Gasser

Einathan John/Àlàbá Ònájiné: «Lagos — Leben in Suburbia».
Aus dem Englischen von Lilian Pithan.
avant-verlag, 224 S.,
Softcover, farbig, CHF 35.50 / EUR 25

Stefan Haller: «Schattenmutter»

Tagebücher des Leidens

Schattenmutter ist eher eine ergreifende als erheiternde Lektüre, schon der Einstieg ist unterkühlt: Gleich im ersten Kapitel seiner Graphic Novel lässt uns Stefan Haller in die Innenwelt seiner psychisch und nervlich erkrankten Mutter eintauchen. Wir erfahren, wie sich die bleierne Schwere einer psychischen Störung anfühlen muss, wie sie das ganze subjektive Erleben verändert und jegliche Lebensfreude im Keim erstickt. Eine Mischung aus Angst, Trauer, Schlaflosigkeit, Perfektionismus, Konflikt und Schuld beengt und bedrückt Margrit Haller (1948—2013) und entfremdet sie von den Menschen in ihrem Umfeld. Der Anblick zweier Flaschen im Garten der Nachbar*innen erinnert sie an Babyflaschen und verunsichert sie zutiefst, als wollten ihr die Nachbarn unterstellen, sie sei ein Kind und keine gute Mutter. Der Schatten, der ihre Lebensfreude verdüstert, legt sich auf die ganze Familie und prägt sie. «Bitte nicht stören! Alle beschäftigt, still, allein für sich, das war meine Welt», erinnert sich Stefan Haller. Vieles, was seine Mutter betrifft, bleibt unausgesprochen und rätselhaft. Klärung verschafft er sich erst, als er nach Mutters Tod ihre Tage- und Notizbücher liest (allein 1986 schrieb sie über 2400 Seiten Notizen auf 4,5 kg Papier) und sich mit dem Vater, den Verwandten, Schulfreundinnen und Nachbar*innen unterhält. Seine Einsichten hat Stefan Haller nun in Schattenmutter veröffentlicht. Herausgekommen ist ein dokumentierendes Werk, das sich eng an den Ton der Tagebücher hält. Visuell wird die erdrückende Gefühlslage der Mutter in kleine, dicht gedrängte Panels gepfercht. Demgegenüber stehen die psychiatrischen Informationen sowie die Reflexionen und Erklärungsversuche des Sohnes auf Seiten mit viel Leerraum — Platz für die Gedanken der Leser*innen.
Indem er die individuelle Perspektive seines Erlebens mit psychiatrischen Erläuterungen verbindet und die Perspektiven aller Familienmitglieder einbezieht, gelangt Stefan Haller weit über eine reine Betroffenheitsperspektive hinaus. Im Nachwort schreibt der Schweizer Psychoanalytiker Peter Schneider, dass psychische Krankheiten kein «ganz anderer Zustand» seien, der einer Person von aussen aufgepfropft werde, vielmehr stellten sie ein besonderes Verhältnis einer Person zu sich und ihrer Welt dar. Davon legt Schattenmutter eindringlich und eindrücklich Zeugnis ab.

Florian Meyer

Stefan Haller: «Schattenmutter».
mit einem Nachwort von Peter Schneider.
Edition Moderne, 180 S.,
Hardcover, zweifarbig, CHF 35.— / EUR 29

Matthias Lehmann: «Parallel»

Eine verschwiegende Identität

«Wer ist man denn noch, wenn man alles vergisst?», fragt Karl Kling in Matthias Lehmanns Parallel. Kling ist die Hauptfigur dieser Graphic Novel und ein Mann, der bis ins Pensionsalter seine Identität verschweigt: «Mein ganzes Leben lang wusste ich nicht recht, wo ich hingehöre, geschweige denn zu wem», gesteht er an einer Stelle. Von diesem Gefühl fehlender Zugehörigkeit handelt Lehmanns 450 Seiten starker grafischer Roman — und davon, wie sehr sich Karl Kling danach sehnt, irgendwann nicht mehr leugnen zu müssen, dass er homosexuell ist.
Historisch spielt Matthias Lehmanns Graphic Novel im Deutschland der Nachkriegszeit und bis in die 1980er-Jahre. In einer Zeit also, in der Homosexualität gesellschaftlich nicht akzeptiert und bis 1994 unter Strafe gestellt war. Dabei erstreckt sich Parallel auf zwei Handlungsebenen: Zum einen erfahren die Leser*innen am Beispiel eines Metallgiessers in der Schwerindustrie, wie eine ganze Generation den Krieg, die Trennung Deutschlands und den Wirtschaftaufschwung des Westens erlebte.
Zum anderen geht es um Karl Klings Homosexualität, und was es für ihn bedeutet, dass er sie verbergen muss. Seine erste Ehe etwa scheitert, als ihn sein Schwiegervater, ein angesehener Bürgermeister, zum Teufel jagt, weil er um den guten Ruf seiner Familie fürchtet. Seine zweite Ehe scheitert, die Eltern wenden sich von ihm ab, und nach der Pensionierung droht er endgültig zu vereinsamen.
Matthias Lehman ist ein blendender Zeichner und Erzähler: Kein Wort zu viel, kein Strich zu wenig. Wer Parallel zu lesen anfängt, legt den Band nicht mehr weg. Fein kontrastiert er die semirealistischen Zeichnungen, die ein wohlgeordnetes bürgerliches Lebensumfeld zeigen, mit Klings innerem Zweifeln und Hoffen. Einfühlsam gestaltet sind die Übergänge in Klings Leben: In dem Augenblick, in dem sich Karl Kling, im Auto sitzend, zum x-ten Mal sagt, es sei nun an der Zeit «abzuhauen, um alles hinter mir zu lassen», schneidet ihm ein Güterzug den Weg und die Perspektive ab.
Parallel ist nicht nur ein grosser psychologischer Roman über die Identitätsnöte eines kleinen Mannes im Nachkriegsdeutschland, sondern auch ein Plädoyer der Toleranz gegenüber Menschen, deren Identität von der Norm abweicht. 

Florian Meyer

Matthias Lehmann: «Parallel».
Reprodukt, 464 S.,
Hardcover, s/w, CHF 42.— / EUR 29


Can Dündar & Anwar: «Erdog˘an»

Wolf im Wolfspelz

Politische Comics — auch Sachcomics — sind längst keine Seltenheit mehr. Politische Biografien sind im Comic allerdings noch rar. Vielleicht liegt es am grundsätzlich spröden und oft eher bilderfeindlichen Stoff. Sicher, Hitler und die Nazizeit bilden ein unerschöpfliches und attraktives ikonografisches Reservoir, daher ist das Thema auch häufig in Comics und anderen Medien anzutreffen. Doch wie sieht es mit weniger charismatischen Politiker*innen aus? Der türkische Präsident Erdoğan gibt rein visuell nicht viel her, doch seine steile Karriere bis zum Autokraten wird im Album Erdoğan von Zeichner Anwar und Schreiber Dündar spannend und erhellend geschildert. Der Journalist Can Dündar war als Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet selber Opfer von Erdoğans unzimperlichem Umgang mit seinen Gegnern: 2015 wurde Dündar unter anderem wegen Verdachts auf Spionage verhaftet, dann aus der Untersuchungshaft freigelassen. Kurz darauf entging er nur knapp einem Attentat, worauf er nach Deutschland ausreiste. Ende 2020 wurde er in Abwesenheit zu mehr als 27 Jahren Haft verurteilt — sein Attentäter hingegen erhielt im Sommer 2021 nur eine bedingte Strafe.
Um so erstaunlicher, dass sich Dündar im Comic bei der Darstellung des türkischen Präsidenten deutlich um Sachlichkeit und Neutralität bemüht. Er erzählt dessen Werdegang von 1954 bis zum Jahr 2000, als er seine eigene Partei AKP gründet, mit der er — dank strategischem Kalkül und Durchsetzungsvermögen — bald Ministerpräsident der Türkei wird. Klar wird dabei auch, dass Erdoğan von Anfang an ein antidemokratischer, islamistischer Fundamentalist war, der zwischenzeitlich aus strategischen Gründen die Freundschaft gemässigter in- und ausländischer Partner suchte. Der Comic erzählt nicht nur von Erdoğans Aufstieg, sondern zeigt auch anschaulich das allgemeine Aufkommen des radikalen Islams seit den 70er-Jahren. Auch wenn der Comic nicht darum herumkommt, seitenlang politische Treffen und Diskussionen zu schildern, finden die Autoren einen guten Erzählstrang zwischen Verkürzung und Analyse. 

Christian Meyer-Pröpstl

Can Dündar & Anwar: «Erdog˘an».
Correctiv!, 368 S.,
Hardcover, s/w, CHF 38.90 / EUR 25

Reinhard Kleist: «Starman — David Bowie’s Ziggy Stardust Years»

Cash, Cave, Castro … Bowie

Vor rund 15 Jahren hat sich Reinhard Kleist, der seine Karriere Mitte der 1990er-Jahre mit recht freien, modernistischen Adaptionen von Schauermärchen und expressionistischen Vampir-Epen begann, mehr und mehr auf biografische Stoffe verlagert. 2006 widmete er sich Johnny Cash, ein Jahr später Elvis. Es folgten eine Biografie über Fidel Castro und verschiedene Biografien von Sportlern und ihren ungewöhnlichen Lebensumständen. So zum Beispiel die Lebensgeschichte des Boxers Hertzko Haft, einem KZ-Überlebenden; des schwarzen schwulen Damenhut-Designers und Boxers Emile Griffith, der im Ring unabsichtlich einen Gegner tötete; oder der somalischen Läuferin Samia Yusuf Omar, die bei ihrer Flucht nach Europa im Meer ertrank. Zuletzt widmete sich Kleist ausgiebig der Biografie von Nick Cave, der sich wie Elvis und Cash perfekt für seine groben, expressiven Schwarzweiss-Zeichnungen eignet. Nun ist seine neue, bereits lange angekündigte Musiker-Biografie fertig — zumindest der erste Teil davon. Und die ist, im Gegensatz zu den «Men in Black» Cash und Cave, sehr farbig geraten, weil sie sich mit Glam Rock beschäftigt. Genauer: mit David Bowie. Noch genauer: Mit David Bowie’s Ziggy Stardust Years, so der Untertitel seines neuen Comics Starman, der dann aber doch nicht nur die Jahre seiner bekanntesten Figur, sondern auch dessen Kindheit, Jugend und erste musikalischen Gehversuche skizziert. In den vom allwissenden Ich-Erzähler rückblickend erzählten Szenen aus dem Familienhaus, mit einer verständnislosen Mutter und einem am Wahnsinn kratzenden Bruder, und den frühen Jahren kreativer Selbstfindung, hält sich Kleist sowohl zeichnerisch als auch in der Kolorierung zurück — die Vergangenheit ist in klassischem Sepia gehalten. Bowies Ziggy-Jahre (von Bowie mithilfe seiner Ziggy-Persona als Science Fiction erzählt) hingegen sind in einem wilden, mitunter regelrecht explosiven Strich gezeichnet, der das SF-Thema ebenso aufnimmt wie den Hardrock dieser Bowie-Phase — eine knallbunte Farbpalette, die man sonst in Kleists Werk eher nicht sieht. Genau wie die Rasterfolien sind sie den Superhelden-Comics entliehen, was eine schöne Idee ist, denn schliesslich sieht sich der Bowie jener Zeit nicht nur als «Starman», sondern im Erfolgs- und Drogenwahn auch irgendwie als Superman. Der vorläufige Absturz folgt schon bald und erinnert an Kleists Frühwerk Dorian von 1996. Bowie scheint mit seinem Alter Ego einen Faustischen Pakt geschlossen zu haben. Er wird von seinen Fans bejubelt, hat aber, als ein seine Mitmenschen benutzender Getriebener, seine Seele verloren. Mit Low — David Bowie’s Berlin Years soll es dann in einem zweiten Teil weitergehen. Da hat sich Bowie längst neu erfunden und gefunden und Kleist wird sich in der Mauerstadt der 70er-Jahre wieder mehr auf die Graustufen konzentrieren können. 

Christian Meyer-Pröpstl

Reinhard Kleist: «Starman — David Bowie’s Ziggy Stardust Years».
Carlsen, 176 S.,
Hardcover, farbig, CHF 38.90 / EUR 25

Matt Madden, «Ex Libris»

An Comics glauben

Wahrscheinlich war es an der Small Press Expo in Bethesda, Maryland, Mitte der 1990er-Jahre, auf dem Höhepunkt der «Mini-Comic-Bewegung» in den USA, dass ich Matt Madden zum ersten Mal traf. Er war ein in sich gekehrter, intellektuell wirkender junger Mann, der an einem Tisch sass und Kopien seiner Mini-Comics verkaufte. Was mich am meisten beeindruckte, war sein unerschütterliches Vertrauen in die Comics — schon nach wenigen Augenblicken des Gesprächs wurde mir klar, dass dieser Mann wirklich an die Kunst der Comics glaubt. Wir sprachen über sein neuestes Projekt (das 1998 unter dem Titel Black Candy veröffentlicht wurde), und nachdem ich seinem Vortrag gelauscht und die paar Seiten durchgeblättert hatte, die er mir zeigte, konnte ich mich nicht erinnern, dass ich jemals von einem noch unfertigen Buch derart begeistert war.
In den fast drei Jahrzehnten, die seitdem vergangen sind, hat sich Madden mit derselben ruhigen Intensität in die Geschichte der Comics eingeschrieben. Er hat Graphic Novels veröffentlicht, als Comic-Redakteur, -Übersetzer und -Kritiker gearbeitet, an der School of Visual Arts gelehrt, ist US-Korrespondent der OuBaPo geworden (auch dank seiner Comic-Adaption von Raymond Queneau), und hat, zusammen mit seiner Frau, der Cartoonistin Jessica Abel, zwei Lehrbücher über das Zeichnen von Comics geschrieben. Anlässlich eines längeren Aufenthalts im Maison des auteurs in Angoulême wurde er gar zum Ritter des Ordens der Künste und der Literatur (Chevalier de l’Ordre des Arts et Lettres) geschlagen.
Ein beachtlicher Lebenslauf, und Maddens neuestes Buch, Ex Libris, ist in gewisser Weise die Krönung seines Schaffens. Stellen Sie sich einen Kriminalroman in Comicform von Italo Calvino oder Jorge Luis Borges vor; eine Geschichte, die eine tiefe Liebe zur Geschichte des Comics in der Art von Dylan Horrocks’ Hicksville und Marc-Antoine Mathieus Faszination für die visuelle Sprache des Comics erkennen lässt — zwei Autoren, auf die Madden in seinem Werk gewitzt verweist. Ex Libris ist eine Feier der genuinen Eigenschaften des Mediums Comics und erzählt gleichzeitig eine ergreifende Geschichte über Selbstfindung und psychische Heilung. Allzu oft wirkt konzeptionelle Literatur oder Kunst hermetisch, bloss das Gehirn und nicht den Geist nährend; Madden tappt nicht in diese Falle.
Comic-Fans werden sich an der Art und Weise erfreuen, wie Madden andere Zeichner*innen zitiert: Es macht grossen Spass herauszufinden, auf welche Künstler*innen oder Bücher er sich bezieht, während er seinen Protagonisten durch die Geschichte des Mediums führt. Ich habe jedenfalls Anspielungen auf Dan Clowes, Julie Doucet, George Herriman, Loustal, David Mazzucchelli, Frank Miller, Art Spiegelman, Osamu Tezuka, Lynd Ward und die Meister von EC Comics gefunden (darunter vielleicht auch Maddens eigene frühere Arbeiten!). Bei einer ersten, oberflächlichen Lektüre war ich besorgt, dass Madden mit seinem Kunststück scheitern könnte, da sein Erzählen anfangs etwas schwerfällig wirkt — er erklärt ein bisschen zu viel, vermutlich für die mit Comics nicht so vertrauten Leser*innen, aber ab der zweiten Hälfte las ich das Buch mit atemloser Spannung bis zum äusserst cleveren Ende, und begann gleich nochmals von vorne.
Mit Ex Libris hat Matt Madden seinen eigenen Klassiker ins Bücherregal der grossen Graphic Novels gestellt. Und wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie vielleicht, wie er selbst, noch mehr und tiefer an Comics glauben.

Mark David Nevins

Matt Madden, «Ex Libris».
Uncivilized Books, 2021, in englischer Sprache. 108 S.,
Hardcover, s/w und Farbe, $ 29.95.

Miguel Vila: «Fiordilatte»

Grüsse aus der Agglo

Die literarische Strömung des Verismus entstand im Italien des 19. Jahrhunderts und veristische Autor*innen strebten nach einer sachlichen, schonungslosen Darstellung der Wirklichkeit einfacher Leute.
Der 1993 geborene Miguel Vila gibt seit wenigen Jahren in veristischer Manier Einblick ins Leben junger Menschen in den Vororten von Padua. Nach seinem Erstling Padovaland (2020) ist nun bereits sein zweites Buch erschienen. Fiordilatte erzählt die Geschichte des jungen Liebespaares Marco und Stella. Sie ist offen, fröhlich, hat eine gute Beziehung zu ihren Eltern und ist sozial gut integriert. Er ist unsicher, unzufrieden, verkorkst und bekommt von seinen Eltern weder Liebe noch Geld. Im Bett läuft es nicht so gut, doch Stella liebt ihn über alles. Die Liebesgeschichte erfährt eine Wende, als Marco die junge Mutter Ludovica kennenlernt, für die Stella babysittet. Er ist fasziniert von Ludovicas Oberweite und schwelgt in sexuellen Fantasien von ihren milchspendenden Brüsten. Anfänglich geht er seinem Fetisch auf Pornoseiten nach, dann nähert er sich einer Eisverkäuferin, und gerät so allmählich in eine verzwickte Situation, bis er sich zwischen bürgerlichem Leben und seinen unterdrückten Wünschen entscheiden muss.
Miguel Vilas Werke entsprechen dem Verismus in vielen Punkten. Wie Padovaland bietet auch Fiordilatte einen schonungslosen Blick auf die heutige Jugend. Er ziehe beim Schreiben seiner Figuren alle Charakterzüge in Betracht, denn es wäre schade, Laster und unangenehme Eigenschaften auszublenden, diese könnten dem Verlauf der Geschichten unerwartete Wendungen geben, sagt er. Ebenso schonungslos sind seine Zeichnungen: Seine Protagonist*innen sind schön, besitzen aber zugleich groteske Makel. Vila sagt, er verfolge beim Zeichnen einen «Realismus der Mängel», den er von Paolo Bacilieri (Fun, Sweet Salgari) übernommen habe. Seine Zeichnungen verweilen immer wieder auf Momentaufnahmen und zeigen Menschen in Randgebieten, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Damit tut er seine Begeisterung für US-Autoren wie Chris Ware und Daniel Clowes kund. In starkem Kontrast stehen die kindlichen Pastellfarben, die in Hellblau, Mintgrün, Rosa und Pink die Seiten dominieren. Die Erzählperspektive ist die eines allwissenden und voyeuristischen Erzählers, der das Geschehen oft von der Vogel- oder Parallelperspektive zeigt und die Lesenden in die Position heimlicher Beobachter*innen versetzt. 

Giovanni Peduto

Miguel Vila: «Fiordilatte».
Canicola, Bologna 2021, in italienischer Sprache. 170 S.,
Softcover, farbig, EUR 19


Cy.: «Radium Girls»

Leuchtende Frauen

Mit einem einzigen Bild gelingt es der französischen Comic-­Zeichnerin Cy., das ganze Ausmass der unglaublichen Ungerechtigkeit auf den Punkt zu bringen, die dieser wahren Geschichte zu Grunde liegt. Der Comic Radium Girls spielt in New Jersey in den Zwanzigerjahren. Es sind die Jahre des Charleston, der Prohibition und der Emanzipation, denn dank dem Kampf der Suffragetten erhielten die Frauen das Wahlrecht und stiegen verstärkt in die zuvor männerdominierte Berufswelt ein. Die Jobs in den Ateliers der US Radium Corporation waren heiss begehrt, da gut bezahlt und einfach. Mit einem Pinsel malten die Frauen die Zifferblätter von Uhren mit Nachtleuchtfarbe an. In dem eingangs erwähnten Bild sieht man jedoch, wie im Obergeschoss Männer in Schutzkleidung die Farbe herstellen, während im Untergeschoss die Frauen ungeschützt damit arbeiten. Die Frauen wurden nicht nur unwissend darüber gelassen, dass die Farbe das tödliche Radium enthält, sie wurden sogar dazu angehalten, den Pinsel vor dem Auftragen der Farbe an den Lippen zu befeuchten. Längst hatten die «Radium Girls» einen neuen Spitznamen erhalten, man nannte sie «Ghost Girls», denn ihre Gesichter und Hände leuchteten in der Nacht. Doch die Frauen fühlten sich modern, unabhängig und stolz, und Radium schien lange Zeit unproblematisch.
Cy. konzentriert sich in ihrem Comic vor allem auf die Freundschaft der Frauen, ihren Zusammenhalt und ihre Stärke, dank der es der Gruppe später gelingt, einen erfolgreichen Arbeitskampf gegen das Unternehmen zu führen. Denn über die Jahre fallen den Frauen die Zähne aus, sie leiden unter unerträglichen Knochenschmerzen, erleiden Fehlgeburten oder sterben einen qualvollen Tod. Die anfängliche Unbeschwertheit hat sich in eine Tragödie verwandelt, in der schonungslos das Leben von Arbeiterinnen aufs Spiel gesetzt wurde. Cy. fängt in ihren Bildern, die sie mit Zeichenstiften erstellt, kongenial die Aufbruchstimmung der Frauen ein, ihre Lebensfreude und Energie, und ebenso deren abruptes Ende. Es ist ein bewegender Comic, der den mutigen «Radium Girls» ein längst überfälliges Denkmal setzt. 

Matthias Schneider

Cy.: «Radium Girls»,
Carlsen Verlag. Aus dem Französischen von Christiane Bartelsen. 136 S.,
Hardcover, farbig, CHF 29.90 / EUR 20

Tomi Ungerer: «It’s all about freedom»

Ungerers Leichtigkeit des Strichs

Es war die spontane Leichtigkeit des Strichs, mit der es Tomi Ungerer gelang, die Aufmerksamkeit der Betrachtenden zu erwecken. In seinen frühen Arbeiten, vor allem in den Kinderbüchern, die er für den amerikanischen Markt entwickelte, kann man noch sehr gut seine traditionellen Vorbilder erkennen. Zur gleichen Zeit tobte er sich als Illustrator für Plakate von Musik-Festivals wie Monterey Pop oder Filme wie Dr. Seltsam aus, die ihn in den USA bekannt machten. Doch mit den Büchern The Underground Sketchbook und The Party, in denen sich Ungerer die New Yorker Schickeria schonungslos vornahm, verletzte er ein gesellschaftliches Tabu. Fortan wurde Ungerer vom FBI observiert, und seine Kinderbücher wurden verboten. Aus dem einstigen Land der unbegrenzten Möglichkeiten zog der gebürtige Elsässer zunächst nach Kanada und später nach Irland, um freier leben und arbeiten zu können. Diogenes wurde sein Hausverlag, für den er unzählige Covers entwarf und wo seine unkonventionellen Kinderbücher ein Zuhause fanden und zu Weltruhm gelangten. Der nun erschienene Katalog It’s all about freedom präsentiert einen Querschnitt durch alle Schaffensphasen des Künstlers, von seiner Kindheit bis hin zu späten Collagen und Objekten. Thematisch werden unter anderem die Verbindungen zwischen Motiven aus seinen Kinderbüchern und seinen politischen Büchern aufgezeigt, und aus dem unerschöpflichen Fundus seines kreativen Schaffens sind bisher nicht veröffentlichte Werke und Werkgruppen zu sehen. Ungerers Drang nach künstlerischer Freiheit ist selbst in seinen Auftragsarbeiten zu finden, denn glatt und gefällig waren auch sie nie. Zu sehr war er stets politisch und gesellschaftlich engagiert, ob als Vietnamkrieg-Kritiker, Pazifist oder später als überzeugter Europäer. In seiner künstlerischen Vielfalt und Unbeirrbarkeit ist Ungerer weiterhin eine zeitlose Inspirationsquelle. 

Matthias Schneider

Tomi Ungerer: «It’s all about freedom».
Hatje Cantz Verlag, 264 S.,
Softcover, farbig, CHF 51.20 / EUR 44

Andreas Kiener: «Unvermögen»

Haben Androiden elektrische Teddybären?

Wir befinden uns im 23. Jahrhundert, ein grosser Teil der Erde ist überflutet, fast alle Säugetiere sind ausgestorben. Der Grossteil der Menschen lebt inmitten von Ruinen, Schutt und Müll, nur die Mächtigen und Wohlhabenden gehen ihren Geschäften in High-Tech-Wolkenkratzern nach. In dieser dystopischen Zukunftsvision bewegen sich die sechsjährige Ali und ihr Android Rob, der aussieht wie ein riesiger Teddybär. Ali ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die aus Angst vor einem mächtigen Wissenschaftler geflohen ist — warum und wohin, ist nicht bekannt. Rob steht ihr dabei zur Seite, seine Programmierung setzt ihm jedoch Grenzen. So soll er Ali zwar vor Gefahren beschützen, darf ihr aber nicht aktiv bei der Suche helfen, weil ihre Mutter ihm einen entsprechenden Befehl gegeben hat.
Die furchtlose Ali und der treue Rob wachsen einem schnell ans Herz, und allzu gerne folgt man ihnen auf ihrem Abenteuer und fiebert mit ihnen mit. Dabei wird mitunter mehrere Seiten lang kein Wort gesprochen, die Bilder erzählen eine eigene Geschichte, vom Gegensatz zwischen technischem Fortschritt und wachsender Ungleichbehandlung der Menschen, von der immer grösseren Kluft zwischen Reich und Arm. Wie etwa auf den beiden Doppelseiten, denen auch das Cover entnommen ist und die einen sekundenlangen, lautlosen Fall darstellen. Dieser geschieht wie in Zeitlupe — während die Leser*innen vor Spannung den Atem anhalten. Überhaupt beeindrucken besonders die ganz- und doppelseitigen Bilder mit ihren vielen Details, die den Einfluss von Science-Fiction-Filmen wie Blade Runner oder Das fünfte Element offenlegen.
Unvermögen ist nach Odysseus, einer Neuerzählung der antiken Sage, der zweite Comic-Band des in Luzern lebenden Zeichners und Illustrators Andreas Kiener. Die Geschichte von Alis Suche nach ihrer Mutter schildert er so mitreissend, dass dabei fast nicht auffällt, wie subtil er auch mit Farben umgeht. So unterstreicht er mit verschiedenen, den Bildern unterlegten Pastelltönen die jeweilige Stimmung. Ausserdem zeichnet sich seine Erzählweise durch einen feinen Humor und eine gewisse Leichtigkeit aus, so dass die düstere Grundstimmung zwar bedrückend, aber nie erschlagend wirkt. Das macht Lust auf eine hoffentlich baldige Fortsetzung.

Jan Westenfelder

Andreas Kiener: «Unvermögen».
Edition Moderne, 160 S.,
Hardcover, farbig, CHF 39.— / EUR 32

Jared Muralt: «The Fall. Kapitel 8: Dunkle Wasser»

Blut an der Bordwand

Es gibt vermutlich zwei Sorten Fans von Jared Muralts postapokalyptischer Comic-Serie The Fall: Die einen kaufen jedes Einzelheft, sobald es erscheint, weil sie so schnell wie möglich wissen möchten, wie die Geschichte weitergeht. Die anderen warten auf die Sammelbände, die jeweils drei Teile zusammenfassen, weil die im Regal besser aussehen und die Einzelhefte sowieso viel zu schnell durchgelesen sind. Bislang sind zwei dieser Alben erschienen, bei den Einzelheften ist Muralt mit Dunkle Wasser aber bereits bei Kapitel 8 angelangt.
Schon das Cover erzeugt Gänsehaut: In nächtlichem Nebel sehen sich zwei Menschen in einem kleinen Ruderboot einem gespenstisch wirkenden Schiff voller schwer bewaffneter Männer gegenüber. Im Lauf der Geschichte erfährt man, dass es sich bei dem Schiff um den Schaufelraddampfer «Blümlisalp» handelt, der auch real existiert und seine Kreise hauptsächlich für Touristen auf dem Thunersee dreht. In Muralts Geschichte wird er jedoch mithilfe von Flugabwehrkanonen und Suchscheinwerfern zu einem Kriegsschiff umfunktioniert, und die Besatzung ist den beiden Personen im Ruderboot — man ahnt es — nicht unbedingt freundlich gesonnen. Eine der beiden ist übrigens Sophia, die jugendliche Tochter der Familie, um die sich die Geschichte von The Fall dreht und deren Überlebenskampf die Leser*innen seit Beginn der Serie verfolgen. Hier ist sie gerade dabei, den Thunersee zu überqueren, um ihren Vater aus der Gefangenschaft der Seeländer zu befreien.
Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden, ausser dass später literweise Blut die Bordwand besudeln wird, was bei Tageslicht einen eindrucksvollen Effekt ergibt. Am Ende dieses Kapitels gibt es dann wieder einen Cliffhanger, der einen vor Spannung schier verrückt werden lässt, so dass man Muralt «Zeichne schneller!» zurufen möchte. Zu welcher der eingangs erwähnten Fan-Kategorien sich der Schreiber dieser Zeilen zählt, dürfte damit klar sein.

Jan Westenfelder

Jared Muralt: «The Fall. Kapitel 8: Dunkle Wasser».
Tintenkilby, 36 S.,
Softcover, farbig, CHF 12.— / EUR 15.80

 

Biografien

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Christoph Fischer
*1976, lebt und arbeitet als Zeichner, Illustrator und Dozent in Luzern. Nebst Reportagen aus Chicago oder vom Bahnhofplatz Luzern (STRAPAZIN Nr. 115) interessiert ihn der Blick aus seinem Atelier-Fenster (Buch Teufelskreisel Kreuzstutz, Auszug in STRAPAZIN Nr. 92). Infolge davon schuf er für den Verkehrskreisel die Figur «Heinz», die den lokalen Strassenwischer zeigt. 2020 erschien im Christoph Merian Verlag die Traumprotokolle Während ich schlief.
www.christophfischer.ch

Fern Liberty Kallenbach Campbell
*1995 in New York, lebt und arbeitet in Halle (Saale), Deutschland. Fern studierte Kommunikationsdesign an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein und absolvierte 2021 ihren Bachelor mit Fokus auf Illustration bei Georg Barber (ATAK). Ferns Arbeiten wurden unter anderem in Berlin, Halle, Braunschweig, Erfurt, Prag, Moskau und London ausgestellt.
@fernlibertykraut

Alex Diel
*1992, hat einen Master in Kommunikationsdesign der Hochschule für angewandte Wissenschaften FHWS in Würzburg, wo er in den Feldern Kunst, Illustration und Grafik arbeitet. Zurzeit widmet er sich verschiedenen Comic-Projekten und veröffentlicht demnächst ein Buch bei 100for10.
@alexdielalexdiel

Julia Trachsel
gelangte über ihre Ausbildung zur Primarschullehrerin zur Hochschule für Design & Kunst HSLU in Luzern, wo sie Illustration Fiction studierte, fasziniert vom Gestalten mit Wort und Bild. Heute ist sie Redaktorin beim Comic-­Magazin Die Notbremse und arbeitet auch noch in einem Kindergarten, wo sie sich Inspirationen für ihre Arbeit als selbstständige lllustratorin holt. Schuldgefühle, sagt sie, habe sie höchstens angesichts ihrer Langeweile, die sie viel zu wenig pflege.
www.thewallofshame.ch
@juliatrachsel

Christiane Haas
*1985, studierte Kommunikationsdesign in Darmstadt und Illustration an der Hochschule Burg Giebichenstein in Halle. Sie lebt und arbeitet als freie Illustratorin in Leipzig und ist Mitbegründerin der offenen Risographie-Druckwerkstatt Riso Club, wo sie bis 2018 arbeitete. 2013 erschien im Hermann Schmidt Verlag ihr Buch Ich bin etwas komplett Neues; 2019 Natürlich bist du glücklich, wenn du keine Erwartungen hast im Avant Verlag. Am liebsten skizziert sie alltägliche Beobachtungen und Erlebnisse.
www.christianehaas.de
@haas.christiane

Jan Bachmann
*1986, hat in Berlin Film studiert und zeichnet seither Comics. Bisher von ihm erschienen sind Mühsam, Anarchist in Anführungsstrichen (2018), Der Berg der nackten Wahrheiten (2019) und Der Kaiser im Exil (2021). Ein Buch über den Schweizer Alt-Bundesrat Adolf Ogi ist definitiv nicht geplant.
@janbahmani
www.editionmoderne.ch

Céline Guichard
*1970, lebt im Südwesten Frankreichs. Bis Ende der 90er-Jahre beschäftigte sie sich vor allem mit Malerei, bevor sie sich Anfang 2000 der Web-Art und dem Zeichnen widmete. In den letzten 15 Jahren hat sie für zahlreiche Zeitschriften gearbeitet, darunter Hôpital brut, La tranchée Racine, Minchõ und Hey! Bisher hat sie 23 Monografien bei verschiedenen Verlagen veröffentlicht und arbeitet regelmässig mit Graveur*innen, Siebdrucker*innen und Schriftsteller*innen zusammen.
celineguichard.name
@Celine_guichard_images

Fred Fivaz
*1973 in Genf, mitten in der Ölkrise. Ein bisschen Schweizer, ein bisschen Franzose, ein bisschen Grafiker, ein bisschen Zeichner — Fred Fivaz arbeitete in Frankreich und der Schweiz, dann in Kanada und schliesslich wieder in der Schweiz. Er zeichnet Theaterplakate, Schallplattenhüllen, Kinderbücher, temporäre Signaletik, Comics und anderes, von dem er noch nicht einmal weiss, dass es existiert.
www.fredfivaz.ch
@fredvivaz

Nicolas Sourvinos
*1976, aufgewachsen im Laufgitter bei Mutti in der Küche im schönen Toggenburg, machte eine Ausbildung zum Textilentwerfer und später den Master in Grafik. Er wollte immer nach NY, hat es aber erst nach Zürich geschafft. Er sei, sagt er, für ambitioniertes Nichtstun, Müssiggang und die Schönen Künste stets empfänglich. Arbeit u.a. im Textilienentwurf, in der Grafikmeierei, im Sozimilieu, als Badmeister und zurzeit in der Theaterrequisite.
www.1zu0.ch

Marco Arrigoni
*1989, wohnt in Aarau. Lehre als Polygraf, Arbeit in einer Werbeagentur in Zürich. 2016 schloss er das Filmstudium an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK ab und entschied sich, seine Leidenschaft für Comedy zum Beruf zu machen. Seitdem arbeitet er bei der Late-Night-Show SRF Deville als Autor und Regisseur und schreibt und realisiert eigene Sketches, Memes und Pointen. Daneben veröffentlicht er seit 2021 Cartoons auf Instagram.
@seichnungen
FB: seichnungen
twitter: seichnungen

Luisa Zürcher
*1998, studierte Animation an der Hochschule Design & Kunst HSLU in Luzern, jetzt arbeitet sie in St. Gallen als Künstlerin und Filmemacherin. Ihr Abschlussfilm Sisch wies isch läuft an verschiedenen internationalen Filmfestivals und gewann den zweiten Platz am Ostschweizer Kurzfilmwettbewerb 2021.
@s_isch_wies_isch
@__loisel__
Vimeo: Luisa Zürcher

Ruedi Widmer
*1973 in Winterthur, ist gelernter Grafiker und arbeitet als Cartoonist und Satiriker. Aufenthalte auf der Redaktion der Titanic schärften sein Humorverständnis. Widmers Serie Die letzten Geheimnisse einer rationalen Welt erscheint seit 2000 im Winterthurer Landboten. 2003 begann er mit Cartoons und Kolumnen für Die Wochenzeitung WOZ, seit 2007 zeichnet er auch für den Zürcher Tages-Anzeiger. Sein letztes Buch Widmers Weltausstellung erschien 2018 im Rotpunktverlag.
www.ruediwidmer.ch
@ruediwidmercartoons
FB: ruewid

Manuel Stahlberger
*1974, Liedermacher aus St. Gallen, ist derzeit mit seiner Solo-Show Eigener Schatten unterwegs in schweizerischen Kleintheatern. Er tourt auch mit seiner Band durch die Musikklubs, hat 2009 den Salzburger Stier gewonnen und 2021 den Schweizer Preis Darstellende Künste. Für das Ostschweizer Kulturmagazin Saiten zeichnete er von 1998 bis 2005 die Comicserie Herr Mäder.
www.manuelstahlberger.ch

Silvano Frei
*1996, lebt in Luzern und studiert dort Philosophie und Kulturwissenschaften.

Vanessa Hatzky
*1989, studierte in Bern, Luzern und Hamburg Illustration und anderes. Sie lebt meistens in Neapel, sonst in der Schweiz. Zurzeit gönnt sie sich eine brotjob-freie Zeit und zeichnet.
www.vanessahatzky.ch
@vanessahatzky

Herbert Weber
*1975, studierte Fotografie an der Hochschule für Kunst und Design in Zürich. Er lebt und arbeitet als Techniker und freier Künstler in St. Gallen. Fotografie und die Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen sind inhärenter Teil seines Schaffens. Ansonsten fährt er Rennrad, spielt gerne Boule und verbeugt sich auf der Matte.
www.herweber.ch
@lechienmalade

Lika Nüssli
*1973, lebt und arbeitet in St. Gallen. Ihr künstlerisches Schaffen bewegt sich zwischen Illustration, Malerei, Performance, Text und Installation. In ihren — oft auch narrativen — Arbeiten materialisieren sich ihre Gedanken über die Welt zu politischen, gesellschaftskritischen, aber auch persönlichen Statements. Lika Nüssli ist Mitherausgeberin von STRAPAZIN und illustriert Bücher für verschiedene Verlage. Im März 2022 erscheint ihre neue Graphic Novel Starkes Ding bei Edition Moderne.
www.likanuessli.ch
@likanuessli