TITELBLATT / Ludmilla Bartscht
DAS ERSTE MAL / Helmut Germer
ALL INCLUSIVE / Philip Schaufelberger
WARTESCHLANGE / Evangelos Androutsopoulos
LOVE ON THE BEACH / Peggy Adam
HALTUNGEN/STELLUNGEN / Thomas Müllenbach
YEPPAAAA! / Talaya Schmid
DIE AUSSTELLUNG / Edmond Baudoin
LOTUS / Sang Ya
HOPPER / Luca Bartulovic
LETZTE NACHT / Kirsten Rothbart
DAS 1. MAL / Lika Nüssli
FRESSEN UND GEFRESSEN WERDEN /
Ludmilla Bartscht
OUROBOROS / Shary Boyle
Heft bestellen Schweiz
Deutschland and other countries…
In diesem Sinne, die Redaktion: Talaya Schmid, Christoph Schuler
Die vorliegende Strapazin-Ausgabe erscheint zum
Film Kunst Festival Porny Days
5.– 7.Dezember im Kino Riffraff und in der Amboss Rampe stattfindet.
Heftvernissage: Freitag, 5.Dezember, ab 18 Uhr in der Amboss Rampe,
Zollstrasse 80, 8005 Zürich.
www.pornydays.ch
Papa
Mein lieber Papa, du tust mir weh
Sprach sie
Aber der Papa, der das Feuer seiner
Lokomotive spürte
Ein wenig unterhalb seines Nabels
Schändete
In der Gartenlaube
Unter Schaufelstielen
Die ihn aufreizten
Violette
Die danach heimging
Um zwischen dem verunglückten Mechaniker
Und der rachebrütenden Mutter
Ihre Lektionen für morgen zu lernen
In denen man die Heiligkeit der Familie
anpries.
Violette Nozières, eine 18-Jährige, deren frühzeitiger sexueller Umgang sie mit der Syphilis bedachte, war eine der Heldinnen der Surrealisten. 1933 versuchte sie, ihre Eltern zu ermorden. Die Mutter überlebte, aber der Vater, ein Lokomotivführer, der Violette offensichtlich von früh an missbraucht hatte, starb. Noch im selben Jahr erschien eine Lobpreisung der «Umarmerin der Morgenröte» in Wort und Bild, verfasst u.a. von André Breton, Benjamin Péret (siehe oben), Dali, Magritte, Paul Eluard, Jean Arp und Max Ernst. Auch der immer etwas steife Bündner Bergler Alberto Giacometti trug ein Bildchen dazu bei. Das Buch ist ein aufsehenerregender Versuch, literarisch bis zum Äussersten zu gehen.
Als Violette Nozières in einem belgischen Verlag erschien, war es gut ein Jahr her, dass Louis Aragon, einst frühester und engster Weggenosse, sich von den Surrealisten losgesagt hatte. Man kann davon ausgehen, dass seine damalige Frau, Elsa Triolet, ihren Teil zu dieser Entscheidung beitrug. Sie war eine strenggläubige Stalinistin und hatte für diese surrealistischen Spinnereien keinen Nerv. Aragon war sowieso eher der Typ, der sich von starken Frauen leiten liess. Vorher war er mit der Millionenerbin Nancy Cunard liiert, einer grossartigen Femme fatale, die resolut gegen Rassismus und Faschismus kämpfte. Als sie ihn verliess, trieb sie Aragon damit zu einem Selbstmordversuch. Dann kam Elsa Triolet, aber vorher publizierte er 1928 einen der ergreifendsten pornographischen Romane überhaupt: Le con d’Irène, deutsch nur unzulänglich mit Irène übersetzt. Aragon hat die sehr poetische und sehr anrüchige Geschichte aber unter dem Pseudonym Albert de Routisie veröffentlicht und schreibt unter anderem:
So klein und so gross! Hier fühlst du dich wohl, Mann, der du endlich dieses Namens würdig bist, hier entsprichst du der Stärke deiner Begierden. Fürchte nicht, dein Gesicht diesem Ort zu nähern, und schon kann deine Zunge, die geschwätzige, nicht mehr stillhalten; dieser Ort der Wonne und des Schattens, dieser Vorhof der Glut und in seinen perlmuttfarbenen Grenzen das schöne Bild des Pessimismus. O du Spalte, du feuchte und sanfte Spalte, du geliebter, schwindelerregender Abgrund!
* *
Zwei Jahre später, also 1930, schlugen auch André Breton und Paul Eluard noch einmal zu, um die Reinheit der surrealistischen Lehre zu festigen. Mit ihrem gemeinsamen Werk Die unbefleckte Empfängnis kategorisieren sie die gegenseitige Liebe, die «Zustände der Besessenheit» in diversen Stellungen. Hier drei Beispiele:
26. Wenn der Mann auf einem Stuhl sitzt und seine Geliebte, mit dem Gesicht zu ihm, auf ihm reitet, ist es «Der öffentliche Park».
27. Wenn der Mann auf einem Stuhl sitzt und seine Geliebte, mit dem Rücken zu ihm, auf ihm reitet, ist es «Die Falle».
28. Wenn der Mann steht und die Frau mit dem Oberkörper auf dem Bett liegt, ihre Schenkel um seine Taille geschmiegt, ist es «Das Haupt des Vercingetorix».
Doch dann löst die Politik den Sex ab. Aber das war jetzt genug Männerkram. Schnell noch eine Surrealistin, Joyce Mansour. Die kommt 1953, mit 28 Jahren, von Kairo nach Paris und wird dort schnell eine bekannte Dichterin. Allerdings ist die Zeit unterdessen nicht stehengeblieben und neue Ismen sind aufgetaucht, die sich über Breton und Co. lustig machen: die Lettristen und die Situationisten. Punks und trinkfreudige Jugendliche, die durch das nächtliche Paris ziehen und billige Bars suchen, um diversestem Drogengenuss zu frönen. Offensichtlich ist der Sex nicht mehr so aktuell und scheint als Droge vom Alkohol und Ähnlichem abgelöst. Der neue Nobelpreisträger Patrick Modiano etwa beschreibt das in seinem Roman Im Café der verlorenen Jugend.
Joyce Mansour aber bleibt dem Surrealismus treu, der mittlerweile in die offizielle Kultur, die ja auch immer etwas mit der Libertinage kokettiert, Eingang gefunden hat. Mit 58 Jahren stirbt sie an Krebs.
Die wilde Hingabe der Zuckenden
die hin und hergerissen ist
Zwischen seidenarmigem Schlaf
Und den breiten lasterhaften Narben
Die Streifen zeichnen auf den Grund ihrer
versandeten Augen
Die Magie der Wahnsinn die Einsamkeit
in der Nacht
Er weiss
Der Königsweg des Geschlechts ist und bleibt
DER HASS
* *
Und nun noch zu etwas ganz anderem:
«Vögeln ist schön». Das stand im Jahre 1968 als Graffito weitherum sichtbar an einem Schulhaus in der deutschen Provinz. Es stand eine halbe Stunde dort, dann holte der Direktor die Maler, um die Parole zu überpinseln. Es kam zu einem Sittenskandal, involviert war die damalige Schülerin Ulrike Heider, die nun ein Buch mit ebendiesem Titel geschrieben hat. Darin erzählt sie von der sexuellen Revolution, der sich linksradikal gesinnte junge Menschen der späten 1960er-Jahre verschrieben hatten. Eine Revolution, die aber schlussendlich ebenso wenig stattfand wie die gleichzeitig erhoffte soziale Revolution.
Es war wohl eher bloss eine Welle. Nach der Fresswelle und der Reisewelle im Wirtschaftswunder-Deutschland brandete dann noch die Sexwelle. Zugleich mit der Studentenrevolte und den Forderun-
gen nach einem anderen Zusammenleben und freier Liebe kam mit Oswald Kolle und Co. auch die Kommerzialisierung von Sex und Lust. Die starken neokonservativen Kräfte aber blieben in der Gesellschaft wirksam, vor allem gegen die Homosexualität. Nicht nur diese Kreise diffamieren heute die 68er-Sexrevolte als Brutstätte für Kindsmissbrauch, Inzest und Pädophilie.
Ulrike Heider, Jahrgang 1947, berichtet sehr humorvoll, aber genau und kritisch von den anstrengenden Diskussionen und Feldversuchen von damals bis heute.
* *
Sexarbeit.
Mein einziger Vorschlag für eine schon lange dringend notwendige Reform würde also lauten: Wenn Sexarbeit endlich entkriminalisiert wäre, könnten Sexarbeiterinnen sich viel besser selbst und gegenseitig helfen. Aber warum sollten wir damit bis nach der Entkriminalisierung warten?
Es gibt gar keinen Grund, warum wir warten sollten, bis sich gesellschaftliche Einstellungen ändern oder bis das Hurenstigma einfach so verschwindet, um einen neuen Weg einzuschlagen. Wir können die Gesetze ändern oder mit anderen Mitteln den Status von Sexarbeiterinnen verbessern oder etwas ganz anderes machen, das wir uns bisher noch gar nicht vorgestellt haben. Die anderen sind zu beschäftigt mit ihren Vorstellungen von uns, mit den Prostituierten aus ihren Fantasien.
Das schreibt Melissa Gira Grant, eine ehemalige Sexarbeiterin, in ihrem Manifest gegen die «Prostituierten-Rettungsindustrie», gegen gewisse feministische Kreise und gegen die Kriminalisierung der Sexbranche.
Sex als Produktivkraft, als Arbeitgeber und Arbeitsplatz («Verrichtungsbox»). So etwas hätten sich die Surrealisten wohl nicht vorstellen können.
* *
Deutsche Ausgaben, die eventuell noch erhältlich sind:
Violette Nozières. Edition Sirene,
Berlin 1986, 61 Seiten
Albert de Routisie (Louis Aragon): Irène. Propyläen Verlag,
Berlin 1969; unverändertes Faksimile Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 1984
André Breton/Paul Eluard: L’Immaculée Conception/Die unbefleckte Empfängnis.
Zweisprachige Ausgabe, Rogner & Bernhard, München 1974
Aragon und Mansour auch in einem lieferbaren Buch:
Geteilte Nächte. Erotiken des Surrealismus, hrsg. von Heribert Becker.
Edition Nautilus Hamburg 2007, 94 Seiten, CHF 15.80
Ulrike Heider: Vögeln ist schön.
Rotbuch Verlag, Berlin 2014, 320 Seiten, CHF 21.30.
Melissa Gira Grant: Hure spielen. Die Arbeit der Sexarbeit.
Nautilus Flugschrift, Hamburg 2014, 190 Seiten, CHF 21.20.
… aber bisher nicht zu zeichnen wagten. Das französische Duo Florent Ruppert und Jérôme Mulot wagt es hingegen immer wieder, den Rahmen traditioneller Erzählweisen formal und inhaltlich zu sprengen. Zuletzt mit dem Buch Un Cadeau, in dem die Seiten nicht umgeblättert, sondern wie ein Paket ausgepackt werden müssen (siehe Rezension im STRAPAZIN 115). In ihrem neusten Werk La technique du périnée (auf Deutsch etwa «die Damm-Technik») befassen sich die Autoren mit dem Thema Sex und Social Media und bringen ihre Ansichten darüber auf abstrakte Weise zu Papier: Die Eröffnungsszene des Buches zeigt zwei nackte Menschen, einen Mann und eine Frau, auf der Spitze eines riesigen Monoliths, jeweils mit einem Samurai-Schwert und einem Dolch bewaffnet. Zusammen springen sie von der Kante und lassen sich – mit der Waffe im Monolith steckend – in die Tiefe rutschen. Hie und da kreuzen sie sich im Fall, und ihre Körper schmiegen sich aneinander. Manchmal sieht man auch nur die Schnittlinie, welche die Waffen in der Wand des Monoliths hinterlassen. Mal laufen sie parallel, mal kreuzen sie sich. Auf diese Weise wird die virtuelle Affäre zwischen dem Künstler JH und Sarah verbildlicht. Sie haben sich über eine Dating-Plattform kennengelernt und treffen sich regelmässig auf Skype, um sich gegenseitig sexuell zu befriedigen. Die Abstraktion dieser virtuellen Beziehung soll laut den Autoren die Empfindungen der beiden besser darstellen, als es explizite Zeichnungen von vor dem Computer masturbierenden Menschen zeigen könnten.
Nach einer Weile sind JH die unpersönlichen Treffen per Computer zu wenig. Er wird besessen von seinem Social Sexbuddy, checkt ununterbrochen sein Smartphone und schlägt schliesslich ein Treffen in Fleisch und Blut vor. Sarah hingegen provoziert ihn mit einem Angebot: Schafft er es, während vier Monaten ohne eine Ejakulation zu masturbieren (mit Hilfe der titelgebenden «Damm-Technik», bei der man kurz vor dem Samenerguss Druck auf den Damm ausübt), darf JH Sarah ins (reale) Bett holen. Es entsteht eine Beziehung, die sich zwischen Verführung und Abhängigkeit bewegt und die JH in seiner künstlerischen Arbeit verarbeitet.
Giovanni Peduto
Ruppert & Mulot: «La technique du périnée».
Dupuis, Collection Aire Libre, 104 S. (französisch),
Hardcover, farbig, EUR 20,50
Was du nicht siehst erzählt die Geschichte einer Trennung. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches – und doch sticht Was du nicht siehst aus der Masse der Neuerscheinungen heraus. Zum einen ist Was du nicht siehst nicht autobiographisch und zum anderen benötigt Luke Pearson für diese Geschichte, für die der heutige Graphic Novelist mindestens 400 Seiten veranschlagen würde, gerade einmal 36 Seiten. Damit erzählt, vermittelt und zeigt er alles, was zum Verstehen notwendig ist, und noch viel mehr.
In seiner Serie Hilda, die sich an eine breite Leserschaft wendet, inszeniert Pearson auf spielerische Weise eine Welt voller imaginärer, magischer und mythischer Wesen, die den Alltag der Menschen durchdringen. In einen vergleichbaren magischen Realismus taucht Pearson auch seine erste Geschichte für erwachsene Leser; auch hier geistern bizarre Wesen und düstere Schatten durch das Leben des verlassenen und liebeskranken jungen Manns, der seine zerbrochene Beziehung Revue passieren lässt, sich seine Fehler vergegenwärtigt und sehnsüchtig auf eine Nachricht von ihr wartet …
Was du nicht siehst ist eine an sich ganz banale Geschichte. Kunstvoll ist, wie Luke Pearson sie erzählt: in kleinen Bruchstücken, fragmentierten Erinnerungsfetzen, skizzierten Gefühlszuständen. Er deutet an, erzählt und bricht sofort ab, bleibt auch bei präzisen Anekdoten vage, wiederholt und variiert wesentliche Momente, kurz: Er beschwört auf eindringliche Weise die Stimmungen, die Gefühle, die Gedanken, die Verunsicherung, die Haltlosigkeit etc., die einen nach dem unglücklichen Ende einer Beziehung durchdringen. Pearson erzählt eine persönliche Geschichte auf eine so offene Weise, dass alle Leserinnen und Leser ihre eigenen Erfahrungen daraus entnehmen können.
Pearson setzt der Versuchung zur ausufernden und gewichtigen Graphic Novel die Kürze und Prägnanz eines Popsongs entgegen. Wie der Popmusiker arbeitet er mit Strophen, Refrains und instrumentalen Übergängen, er spielt mit Klischees, Vereinfachungen und Verkürzungen, er ist manchmal bestürzend banal und dennoch unglaublich tiefsinnig – und erlaubt seinen Hörerinnen und Hörern gerade so die Identifikation. Wie sich in einem gelungenen Popsong Musik, Text und Stimmung zu etwas Grossartigem verknüpfen, verdichten sich in Was du nicht siehst der Text, die Bilder und die Erzählweise zur bewegenden und verstörenden Beschwörung einer Trennung. Niemand würde bestreiten, dass der schönste, universalste, tiefste, berührendste, traurigste, intensivste Herzschmerz in Popsongs zu finden ist und nicht in Rockopern. Genau das schafft Pearson auch in Was du nicht siehst. Er braucht dazu nur 36 kleinformatige Seiten.
Christian Gasser
Luke Pearson: «Was du nicht siehst».
Reprodukt Verlag, 40 S., Hardcover, farbig,
EUR 14 / CHF 21.90
Beim Lesen von Herbert George Wells’ unheimlicher Kurzgeschichte Die seltsame Orchidee muss man unweigerlich an das 80er-Musical Little Shop of Horrors und den gleichnamigen Film denken. Doch im Gegensatz zu dem überdrehten, aber dennoch unterhaltsamen Horrorfilm, löst Wells’ Erzählung über eine gefährliche Orchidee beim Lesen tatsächlich einen gewissen Schauder aus. Dabei hat sich Wells eines besonderen Kniffs bedient, indem er einer harmlosen und schönen Pflanzengattung etwas Mysteriöses und Gefährliches andichtet.
Der einsame und farblose Junggeselle Wedderburn sehnt sich nach Abwechslung in seinem tristen Leben und beginnt Orchideen zu sammeln. In der Hoffnung, dass die schrumpeligen Orchideenknollen sein Dasein spannender machen, ersteigert er unbekannte Sorten. Eine seiner Orchideen wird ihm dabei fast zum Verhängnis. Nachdem sich die Orchidee zu einer wahren Schönheit entwickelt hat, beginnt sie Wedderburn in ihren Bann zu ziehen. Wells’ Kurzgeschichte liegt das so genannte Orchideenfieber zugrunde, das im 18. Jahrhundert in England herrschte, nachdem 1818 William Swainson die ersten tropischen Pflanzen nach London gebracht hatte. Orchideen-Sammler in aller Welt zahlten horrende Preise, und so entstand ein neuer Beruf, der Orchideen-Jäger. Die Expeditionen in die Urwälder forderten zahlreiche Menschenleben, während zu jener Zeit gerade mal die Hälfte der Pflanzen die Reisen überstanden.
Die Berliner Illustratorin Katja Spitzer hat sich Wells’ Geschichte angenommen und ein wunderbar phantasievolles und abwechslungsreich bebildertes Tolles Heft geschaffen, für die gleichnamige Reihe der Büchergilde. In der Art und Weise wie Spitzer Figuren und Gegenstände für ihre Illustrationen auswählt und individuell auf den Text abgestimmt zeichnet, kann man erahnen, dass sie bei Volker Pfüller in Leipzig studiert hat. Nichtsdestotrotz hat Spitzer einen originären Illustrationsstil entwickelt, für den sie zurecht bereits unter anderem mit dem Preis Schönste Bücher 2007 und der Goldmedaille des New Yorker 3×3 Magazins ausgezeichnet wurde. Erst Spitzers prägnante Illustrationen verleihen Wells‘ Kurzgeschichte eine leicht humorvolle Nuance und machen die Lektüre der Kurzgeschichte zum wahren Hochgenuss.
Matthias Schneider
H.G. Wells / Katja Spitzer: «Die seltsame Orchidee».
Die Tollen Hefte 42, Edition Büchergilde, 32 S.,
Softcover, farbig,
EUR 16.95 / CHF 24.40
«Ob ich als Frau genauso selbstbewusst durchs Leben geschlendert wäre, Probleme ebenso unerschrocken angepackt hätte ohne Albertines Vorbild? Hätte die Poesie meiner Jugend ohne die Leitlinie Astragalus denselben Biss gehabt?», fragt sich Patti Smith im Nachwort zu Astragalus, dem skandalumwitterten Roman der Französin Albertine Sarrazin, der 1965 unter Vermittlung von Simone de Beauvoir erschienen ist. Zum Skandal wurde das Buch, weil die 1969 im Alter von nur 29 Jahren verstorbene Sarrazin, die leicht als die Protagonistin Anne zu erkennen ist, darin selbstbewusst ihr Leben als Kriminelle und Prostituierte, ihren Ausbruch aus dem Gefängnis – bei dem sie sich das Sprunggelenk, den titelgebenden Astragalus-Knochen, bricht – und ihr Sexleben beschreibt, vorab ihre Liebe zu dem Kleinkriminellen Julien, den sie auf der Flucht vor der Polizei kennenlernt und den sie später heiratet.
Der Roman liegt nun in einer Neuübersetzung vor und wurde gleichzeitig von Anne-Caroline Pandolfo und Terkel Risbjerg als Comic adaptiert. Dabei gelingt den beiden das seltene Kunststück, einem beeindruckenden literarischen Werk, das nicht nur Simone de Beauvoir und Patti Smith tief beeindruckt hat und heute als Schlüsselwerk der feministischen Literatur des 20. Jahrhunderts gilt, in Comic-Form ein eigenständiges Gesicht zu geben. Pandolfo und Risbjerg bebildern nicht einfach die Geschichte Albertine Sarrazins, sondern finden eine Bildsprache, die dem Ton und der Stimmung des Romans ebenbürtig ist. Wortlose Sequenzen fassen umfangreiche Passagen der Romanvorlage zusammen und setzen ganz auf die ausdrucksstarken Blicke, die Anne und Julien sich zuwerfen, und auf die expressiven, düsteren Zeichnungen. Das karge Schwarzweiss des Comics spiegelt die Einsamkeit der Protagonistin, die nach dem Knochenbruch bettlägerig und später auf Krücken angewiesen ist. Sie muss ihre Zeit damit verbringen, auf Julien zu warten, der sie immer wieder an neuen Orten versteckt, bei Freunden und Verwandten.
Gleichzeitig bringen die teilweise unfertig wirkenden Zeichnungen das rastlose Leben der Protagonistin auf den Punkt, das Leben auf der Flucht vor der Justiz und letztlich vor sich selber. Schonungslos offenbart Anne ihre Unsicherheiten und Fehler, ihre Sehnsüchte und Ängste, wirkt dabei jedoch niemals zerbrechlich, sondern wird mit zunehmender Genesung von ihrer Verletzung immer selbstbewusster und lebensfroher. Fast schon friedlich wirkt das Finale, wenn Anne, wieder nahezu geheilt, vor Freude auf das baldige Wiedersehen mit Julien durch ihre Wohnung tanzt, bevor sie verhaftet wird. Das Ende einer Flucht und gleichzeitig der Beginn einer Karriere als Schriftstellerin: Im Gefängnis wird Sarrazin ihre Erlebnisse aufzuschreiben beginnen und dank der Buchtantiemen in den letzten Jahren ihres Lebens mit Julien in Montpellier ein sorgenfreies Leben führen können. Und so sind Annes letzte Worte in Freiheit trotz allem von einem tiefen Optimismus geprägt: «Egal, ich kann laufen. Ich gehe vor dem Kommissar die Treppe hinunter. Fast ohne zu humpeln.»
Jonas Engelmann
Anne-Caroline Pandolfo / Terkel Risbjerg: «Der Astragal».
Schreiber & Leser, 224 S., Softcover, s/w,
EUR 22,80 / CHF 34.90
Albertine Sarrazin: «Astragalus».
Hanser Berlin, 240 S., Hardcover,
EUR 19,90 / CHF 28.90
«Ob ich als Frau genauso selbstbewusst durchs Leben geschlendert wäre, Probleme ebenso unerschrocken angepackt hätte ohne Albertines Vorbild? Hätte die Poesie meiner Jugend ohne die Leitlinie Astragalus denselben Biss gehabt?», fragt sich Patti Smith im Nachwort zu Astragalus, dem skandalumwitterten Roman der Französin Albertine Sarrazin, der 1965 unter Vermittlung von Simone de Beauvoir erschienen ist. Zum Skandal wurde das Buch, weil die 1969 im Alter von nur 29 Jahren verstorbene Sarrazin, die leicht als die Protagonistin Anne zu erkennen ist, darin selbstbewusst ihr Leben als Kriminelle und Prostituierte, ihren Ausbruch aus dem Gefängnis – bei dem sie sich das Sprunggelenk, den titelgebenden Astragalus-Knochen, bricht – und ihr Sexleben beschreibt, vorab ihre Liebe zu dem Kleinkriminellen Julien, den sie auf der Flucht vor der Polizei kennenlernt und den sie später heiratet.
Der Roman liegt nun in einer Neuübersetzung vor und wurde gleichzeitig von Anne-Caroline Pandolfo und Terkel Risbjerg als Comic adaptiert. Dabei gelingt den beiden das seltene Kunststück, einem beeindruckenden literarischen Werk, das nicht nur Simone de Beauvoir und Patti Smith tief beeindruckt hat und heute als Schlüsselwerk der feministischen Literatur des 20. Jahrhunderts gilt, in Comic-Form ein eigenständiges Gesicht zu geben. Pandolfo und Risbjerg bebildern nicht einfach die Geschichte Albertine Sarrazins, sondern finden eine Bildsprache, die dem Ton und der Stimmung des Romans ebenbürtig ist. Wortlose Sequenzen fassen umfangreiche Passagen der Romanvorlage zusammen und setzen ganz auf die ausdrucksstarken Blicke, die Anne und Julien sich zuwerfen, und auf die expressiven, düsteren Zeichnungen. Das karge Schwarzweiss des Comics spiegelt die Einsamkeit der Protagonistin, die nach dem Knochenbruch bettlägerig und später auf Krücken angewiesen ist. Sie muss ihre Zeit damit verbringen, auf Julien zu warten, der sie immer wieder an neuen Orten versteckt, bei Freunden und Verwandten.
Gleichzeitig bringen die teilweise unfertig wirkenden Zeichnungen das rastlose Leben der Protagonistin auf den Punkt, das Leben auf der Flucht vor der Justiz und letztlich vor sich selber. Schonungslos offenbart Anne ihre Unsicherheiten und Fehler, ihre Sehnsüchte und Ängste, wirkt dabei jedoch niemals zerbrechlich, sondern wird mit zunehmender Genesung von ihrer Verletzung immer selbstbewusster und lebensfroher. Fast schon friedlich wirkt das Finale, wenn Anne, wieder nahezu geheilt, vor Freude auf das baldige Wiedersehen mit Julien durch ihre Wohnung tanzt, bevor sie verhaftet wird. Das Ende einer Flucht und gleichzeitig der Beginn einer Karriere als Schriftstellerin: Im Gefängnis wird Sarrazin ihre Erlebnisse aufzuschreiben beginnen und dank der Buchtantiemen in den letzten Jahren ihres Lebens mit Julien in Montpellier ein sorgenfreies Leben führen können. Und so sind Annes letzte Worte in Freiheit trotz allem von einem tiefen Optimismus geprägt: «Egal, ich kann laufen. Ich gehe vor dem Kommissar die Treppe hinunter. Fast ohne zu humpeln.»
Jonas Engelmann
Anne-Caroline Pandolfo / Terkel Risbjerg: «Der Astragal».
Schreiber & Leser, 224 S., Softcover, s/w,
EUR 22,80 / CHF 34.90
Albertine Sarrazin: «Astragalus».
Hanser Berlin, 240 S., Hardcover,
EUR 19,90 / CHF 28.90
In diesem Jahr wurde aller Orten dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 gedacht. Im Juni geschah das auch am Comic-Salon in Erlangen – hinsichtlich Neuerscheinungen von Jacques Tardi und Joe Sacco, die beide eigens angereist waren und in Werkstattgesprächen über ihre Arbeit mit Kriegsthemen sprachen. Nun erscheint im deutschsprachigen Raum mit Henrik Rehrs prämierter Graphic Novel Der Attentäter – die Welt des Gavrilo Princip eine Biographie über den 19-jährigen Mörder von Franz Ferdinand. Das Attentat auf den Thronfolger von Österreich-Ungarn hatte die sogenannte Julikrise zur Folge, die direkt in den Ersten Weltkrieg mündete. Der Däne Henrik Rehr thematisiert die Folgen der Tat kaum, sondern skizziert sie in nur wenigen apokalyptischen Bildern am Ende des Buchs. Ihn interessiert, wie und warum sich ein junger Erwachsener radikalisiert und schliesslich zum Terrorist wird. Damit ist Der Attentäter hochaktuell:
In düsteren Schwarzweiss-Zeichnungen schildert Rehr den sozialen und politischen Hintergrund des bosnischen Serben Gavrilo Princip, der zwischen aufkeimenden Ideen von Anarchie und Nationalismus schliesslich glaubt, mit Gewalt die sozialen und kulturellen Benachteiligungen seiner Landsleute überwinden zu können. In relativer Armut aufgewachsen, ist für Gavrilo bald klar, dass der Feind in der österreichisch-ungarischen Monarchie zu finden ist, die Bosnien-Herzegowina 1911 annektiert hatte. In Sarajevo macht er erste Bekanntschaft mit radikalen Gruppierungen. Schnell sind Sympathisanten und Helfer gefunden. Am Ende reicht die Mitwisserschaft der Tat bis in die höchsten Kreise der serbischen Politik.
Rehrs in bemerkenswerten, mitunter an Stiche oder historische Grafiken erinnernde Zeichnungen umkreisen die politischen Hintergründe anschaulich und liefern zugleich einen allgemeinen Blick in das Entstehen von Terrorismus. Einer von Princips Mittätern sagte während des Prozesses, er wolle, das man Menschen wie sie verstehe und nicht für Kriminelle halte, und erklärt: «Unser Volk schreit, es lebt im Elend, es hat keine Schulen, keine Kultur. Das tut uns weh». Tatsächlich entschuldigt das nichts, aber es erklärt einiges.
Christian Meyer
Henrik Rehr: «Der Attentäter – die Welt des Gavrilo Princip».
Stuart & Jacoby, 224 S., Hardcover, s/w,
EUR 28 / CHF 39.90
Vier Monate lang haben der Szenarist Diego Agrimbau und der Zeichner Lucas Varela 2011 im Maison des Auteurs in Angoulême verbracht, um die Codes des Comics auseinanderzunehmen und gleichsam neu zusammenzusetzen. Was im Ansatz theoretisch klingt, ist im Ergebnis erfrischend, kurzweilig und verblüffend: Mit Diagnostics legen die beiden Argentinier ein Album vor, das auf jeder einzelnen Seite ihre Freude am Experiment verrät und zugleich die Leser mit spannender Erzählweise zu unterhalten weiss.
Diagnosen, wie sie der Titel verspricht, liefern Agrimbau und Varela auf verschiedenen Ebenen: Sie erkunden die unterschiedlichen Darstellungs- und Erzählmöglichkeiten, die der Comic bereithält, mit derselben Sorgfalt wie Ärzte die Erkrankung von Patienten. Der Reiz ihres Albums liegt dabei in den überraschenden Beziehungen, welche die Autoren zwischen Inhalt und Form erzeugen.
Die insgesamt sechs Kurzgeschichten drehen sich jeweils um eine Frau, die an einer Störung der Sinneswahrnehmung leidet. Passend zu jeder Krankheit verändern die Autoren die Bildsprache, die Seitenstruktur, die Farben und das Genre. Die Farben sind durchgehend taktvoll und feinfühlig eingesetzt, aber eigenwillig kombiniert. Die Genres umfassen Unterhaltungsgattungen wie Krimi oder Science-Fiction ebenso wie den ernsten, tagebuchartigen Selbsterfahrungsbericht.
Einen Teil ihrer Geschichten erzählen Agrimbau und Varela in klassischen Bildfolgen. In anderen setzen sie die Panels als Gestaltungsmittel ein, um die Geisteslage der Hauptfigur auszudrücken. So leidet etwa Soledad unter Platzangst. Entsprechend vermag sie sich nur auf der ersten Seite in den Panels zu halten. Danach beginnen die Panels zu wanken, ziehen sich von ihr zurück, bis sie zuletzt abweisende, treppen- und würfelartige Gebilde formen und Soledad ins Leere stürzen lassen (in einer Szene, die zugleich eine Hommage an die Serie John Difool vor dem Incal ist).
Mit ihrem eleganten und klaren Stil schliessen die Argentinier nahtlos an amerikanische Autoren an wie Will Eisner, Scott McCloud, Daniel Clowes oder Chris Ware, die ebenfalls mit scheinbar leichter Feder formales Wissen und analytische Neugier mit grafischer Eleganz und erzählerischem Geschick verknüpfen und zugleich den Geschmack des Publikums treffen.
In Frankreich jedenfalls kam Diagnostics bei der Kritik gut an – als erfinderisch, mutig, beherzt oder gar atemberaubend wurde das Album gelobt, wobei das Lob auch ausdrücklich dem Verlag Tanibis in Lyon galt, der sich dem anspruchsvollen Kunst- und Autoren-Comic verschrieben hat.
Florian Meyer
Diego Agrimbau / Lucas Varela: «Diagnostics».
Editions Tanibis, 72 S., Softcover, vierfarbig,
EUR 17 / CHF 27.20
Dave McKeans Celluloid ist eine einfach aufgebaute Geschichte – einem Paar gelingt es nicht, sich zu einem romantischen Rendezvous zu treffen. Der Mann kann sich nicht vom Büro loseisen, während die Frau frustriert in einer Wohnung oder einem Hotelzimmer auf ihn wartet. Sie stösst auf eine alte Filmspule, legt sie in den Projektor und sieht, wie ein Paar sich beim Sex vergnügt. Bald schläft sie ein und träumt, wie sie mit verschiedenen merkwürdigen Partnern in surrealen Umgebungen Sex hat. Und genau das zeigt McKean in seinem gewohnten Stilgemisch aus Collagen, Zeichnungen und Fotos – mit Einflüssen von Picasso und Klimt bis zu Dubuffet und Arcimboldo – auf den über 200 Seiten des Albums.
Celluloid ist kein traditioneller Comic. Er kommt ganz ohne Worte aus, pro Seite gibt’s nur ein Panel. Eigentlich ist es eher ein Kunstbuch, obwohl durchaus eine Geschichte erzählt wird, aber McKeans beabsichtigt primär, unsere Sinne zu kitzeln und zu wecken. Das Buch quillt über von ineinander verschlungenen nackten Körpern, trotzdem fand ich es nicht besonders erregend, da die Traumszenen etwas steif und klischiert daherkommen, aber das liegt natürlich im Auge des Betrachters. Die wahre Erotik von Celluloid liegt wohl weniger in der Darstellung nackter Haut als in der Sinnlichkeit, mit der McKean sich mit feuchter Farbe und Photoshop vergnügt.
Neben den in satten Farben gehaltenen Mixed-Media-Bildern erzählt McKean die Rahmenhandlung in bezaubernden Schwarzweiss-Zeichnungen, die an Breccia oder Mattotti erinnern. Die beiden Hauptpersonen, in mittlerem Alter, entsprechen nicht dem konventionellen Schönheitsideal – die Frau gleicht eher einer alternden Egon-Schiele-Dame als dem Nacktmodell, das McKean für die fotorealistischen Bilder verwendete. Celluloid endet damit, dass der Mann ins leere Hotelzimmer kommt und sich fragt, wo die Frau wohl sein könnte. Gerne hätte ich etwas mehr über die beiden Charaktere erfahren, über die spürbare Spannung in ihrer Beziehung und warum sie ihre Verabredung nicht einhalten konnten; hätte er den Sex unserer Vorstellung überlassen, wäre das Buch sehr viel erotischer geworden.
McKeans erstes signifikantes Soloprojekt (gefolgt von einer Reihe erfolgreicher Co-Produktionen mit Neil Gaiman) war das vor zwanzig Jahren publizierte Cages. Dieses extrem ehrgeizige Werk erreichte zwar nie das angestrebte Potenzial und blieb als Ganzes hinter der Summe seiner Teile zurück, doch gerade die Teile waren es, die beeindruckten. Voll Vorfreude auf McKeans zweiten Alleingang war ich etwas enttäuscht, dass mich Celluloid weder sehr berührte noch auf der künstlerischen oder literarischen Ebene beeindruckte. Es wirkt wie eine skizzenhafte, breit ausgewalzte Fingerübung, deren Gehalt nicht erreicht, was das hochglänzende Äussere verspricht. Vielleicht wäre es besser gewesen, McKean hätte das Album, wie ursprünglich geplant, in kleiner Auflage und anonym herausgeben.
Mark David Nevins
Dave McKean: «Celluloid».
Fantagraphics, 282 S.,
Hardcover, farbig, $ 35
Ethan Karoshi, ein in Reno (Nevada) lebender Polizist, ist in den Augen seiner Kollegen ein guter, anständiger Mensch, auf den man sich verlassen kann. Er liebt die Ordnung und lebt sein Leben Woche für Woche in klar strukturiertem Ablauf: Montags und donnerstags geht er vor der Arbeit angeln, dienstags und freitags trifft er seine Geliebte. Die übrige Zeit ist er bei seiner Familie. Die kleinbürgerliche Ordnung wird abrupt gestört, als seine Geliebte ermordet aufgefunden wird, erdrosselt mit einer Angelschnur. Spätestens als eine weitere ehemalige Geliebte Karoshis ums Leben kommt, begreift er, dass es sich um einen persönlichen Rachefeldzug gegen ihn handelt. Fortan ist Karoshi gezwungen, einen heiklen Balanceakt zu vollführen: Er muss sowohl den Mörder finden als auch sein Doppelleben vor dem Polizeiinspektor und seinem Partner – die gleichzeitig Schwiegervater und Schwager sind – verdeckt halten. Doch je mehr sich der Strick der verschwörerischen Machenschaften seines Gegenspielers zuzieht, desto wahrscheinlicher ist es, dass seine Existenz zugrunde gehen wird. Der Protagonist droht durch die Anstrengung auszubrennen und – wie sein Name vorankündigt – einen berufsbezogenen Tod zu erleiden (japan. Karoshi: «Tod durch Überarbeitung»).
Der in Berlin lebende Zeichner Mikkel Sommer hat mit dem Franzosen Antoine Ozanam eine packende Pulp-Story geschaffen, die mit ihren gleissend gelben Farben sowohl den heissen Sommer in der amerikanischen Stadt als auch die seelische Landschaft des Protagonisten treffend einfängt. Die Spannung wird durch die immer ausweglosere Situation aufrechterhalten, und man leidet mit dem schwitzenden, immer abgekämpfteren Polizisten mit. Die Geschichte vermag bis kurz vor dem Ende in ihren Bann zu ziehen und funktioniert wie ein guter Fernseh-Krimi. Stimmung und Atmosphäre des Comics erinnern an die US-Serie True Detective. Auch wenn die Auflösung dann doch zu schnell geht und nicht ganz so spektakulär ausfällt, aber nicht mal die erfolgreiche TV-Serie hat dies besser hingekriegt.
Giovanni Peduto
Mikkel Sommer / Antoine Ozanam: «Burn Out».
Avant-Verlag, 96 S., Hardcover, vierfarbig,
EUR 19,95 / CHF 29.90
…auf dem Weg zurück nach Darmstadt. Die 24-jährige Kunststudentin Agnieszka Kwiatkowska war für ein Semester zum Kunststudium in Krakau und hat nach dem Auslandsaufenthalt nicht nur neue Freunde und Ideen, Erfahrungen und Erinnerungen im Gepäck, sondern etwas viel Wichtigeres: den wahrscheinlich besten Moment ihres Lebens, den Moment, den man immer wieder erleben möchte, bis in alle Ewigkeit. Er dauert Mindestens eine Sekunde und höchstens dein ganzes Leben – so der Titel von Paulina Stulins Comic. Die Idee, einen solchen Zeitabschnitt aus der eigenen Biographie auszuwählen, verweist auf das Videokunstprojekt von Jolanda, einer Freundin Agnieszkas in Krakau, bei dem Jolanda Menschen nach eben diesem Ausschnitt aus ihrem Leben befragt hat: «Welchen Ausschnitt würdest du als deinen persönlichen Unendlichkeitsloop wählen?» Vor dem Aufenthalt hätte Agnieszka vermutlich nicht gewusst, welcher Augenblick ihres Lebens diese Bedeutung haben könnte, jetzt, sechs Monate später, muss sie darüber nicht mehr nachdenken, sondern hat ihn gerade am eigenen Leib erfahren. Ihr persönlicher Unendlichkeitsloop dauert ein Semester, das geprägt war von Überschreitungen und Veränderungen. Drogen waren kurzzeitig eine Flucht vor der Einsamkeit der fremden Stadt, ihre Kunst ist selbstbewusster und konfrontativer geworden, auch ihr selbst gegenüber, und die Konflikte mit ihrer dominanten Mutter scheinen sich zu glätten.
Mindestens eine Sekunde und höchstens dein ganzes Leben erzählt behutsam eine leise Geschichte vom Erwachsenwerden und von der Bedeutung der kleinen Ereignisse. Die Bedeutung dieser einzelnen kleinen Begebenheiten in Agnieszkas Leben, die sich zu ihrem persönlichen Loop zusammenfügen, ist für den Leser nicht immer in Gänze nachvollziehbar, doch darum geht es auch gar nicht: Jeder hat schliesslich eigene Erinnerungen, die es wert sind, bis in die Unendlichkeit wiederholt zu werden, Erinnerungen, die nur einem selber gehören und deren Bedeutung sich anderen auch nicht sofort erschliesst.
Ein Bruch in Agnieszkas Loop stellt die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter dar, die 25 Jahre zuvor aus Krakau nach Deutschland gekommen war, heute offenbar mit einer Frau zusammenlebt und deren Erinnerungen immer wieder in Agnieszkas eigene Geschichte hereinbrechen. Hier hätte man als Leser, gerade weil es die Gradlinigkeit des auf Unendlichkeit angelegten Loops unterbricht, manchmal etwas mehr Klarheit gewünscht. Aber warum sollte ein Comic immer alle Fragen beantworten. Am Ende jedenfalls ist Agnieszka im Zug…
Jonas Engelmann
Paulina Stulin: «Mindestens eine Sekunde und höchstens dein ganzes Leben».
Jaja Verlag, 116 S., Softcover, s/w, EUR 15
Drei Menschen werden an einem Imbissstand erschossen. Dabei handelt es sich nur um eine Verwechslung. Das ist natürlich ärgerlich, aber das ändert nichts daran, dass die grämliche Erfolgsschriftstellerin Martha Korn, ihr junger Liebhaber Florian Brinkmann und der Budenbesitzer Peter Fischer nun Einreiseformulare für die Fahrt ins Totenreich, den Hades, ausfüllen müssen. Martha ist gelassen: Jahre zuvor kaufte sie, sehr betrunken, einem zwielichtigen Typen ein goldenes Ticket für einen «all-inclusive Aufenthalt im Elysion, dem VIP-Bereich des Hades» ab. Der ungetreue Florian jedoch stibitzt das Ticket, und während er sich an der Seite von Berühmtheiten wie Elvis, Mutter Theresa und Gandhi allerlei Lustbarkeiten und Albernheiten hingibt, muss Martha im Tartaros, in unmittelbarer Nähe zu Sisyphos und Adolf Hitler ihre Bücher Seite um Seite ausradieren. Und Peter Fischer? Er wird Pommes-Fritteur in der Elysiumsküche, entdeckt Florians Betrug und nimmt sich vor, Martha zu erlösen.
So einfach ist das nicht, denn im Jenseits ist Gerechtigkeit ein Fremdwort, statt Gerechtigkeit herrschen Chaos und Willkür, vor lauter Toten hat’s kaum mehr Platz. Die Begegnung mit toten Bekannten ist ernüchternd, weil diese sich an nichts erinnern, vergessene Gottheiten wie Odin, Osiris und Quetzalcoatl grämen sich über ihren Bedeutungsverlust, und die Hades-Bürokratie zeichnet sich durch einen geradezu diesseitigen Mix aus Papierkrieg, unsinnigen Regeln und ignoranten Beamten aus. Und die Heilsversprechen der Religionen? Hades beklagt sich, wie mühsam seine Kunden nach ihrem bösen Erwachen seien, wenn sie weder Auferstehung, Nirwana, geschweige denn willige Jungfrauen vorfänden.
Mit Hotel Hades legt Katharina Greve nach Ein Mann geht an die Decke und Patchwork zum dritten Mal einen ebenso klugen wie amüsanten Comic vor, eine wunderbare Satire der diesseitigen Jenseitsvorstellungen. Der Plot ist verwickelt und gebrochen, doch dank Greves unterkühlt stilisierten Zeichnungen und der dezenten Kolorierung verliert man im labyrinthischen Totenreich nie die Orientierung, sondern erfreut sich 128 Seiten lang an einer durchtriebenen und mit fiesem Humor geschärften Geschichte.
Christian Gasser
Katharina Greve: «Hotel Hades».
Egmont Graphic Novel, 128 S., Hardcover, vierfarbig,
EUR 19,99 / CHF 29.90
Comics, die sich mit Krieg und Konflikt auseinandersetzen, gibt es zurzeit einige auf dem Markt. Aus Gründen der historischen Jährung handeln die Neuerscheinungen in diesem Jahr oft vom Ersten Weltkrieg. Ein Comic über den Zweiten Weltkrieg fällt da fast etwas aus dem Rahmen. Allerdings nicht, wenn es um Omaha Beach geht. Dieser französische Küstenabschnitt in der Normandie spielte eine Schlüsselrolle in der Wende des Kriegs zugunsten der Alliierten. Am 6. Juni 1944, am sogenannten D-Day, landeten dort die Soldaten des V. US-Korps und führten einen entscheidenden Schlag gegen die deutsche Wehrmacht.
Mitten unter den Soldaten befand sich Robert Capa (1913–1954). Als Kriegs- und Reportagenfotograf ist Capa eine Legende. Unvergessen sein Foto des fallenden Soldaten aus dem spanischen Bürgerkrieg. Nicht minder rütteln jene elf Fotos auf, die amerikanische Soldaten zeigen, die durchs Wasser waten, um die deutschen Stellungen über der Omaha Beach zu stürmen – oder zum Strand robben wie auf Capas vielleicht bekanntestem Bild The face in the surf. Zahlreiche Monographien, Biographien und Romane ranken sich um jene Fotos von Robert Capa inklusive Steven Spielbergs Film Der Soldat James Ryan. Nun auch ein Comic.
Zum Jahrestag des D-Day haben der belgische Verlag Dupuis und die – einst von Capa mitgegründete – Agentur Magnum Photos einen schmalen Band herausgegeben, der die Entstehung von The face in the surf erzählt. Dieser umfasst einen Comic- und einen Foto-Teil mit erläuternden Essays.
Formal ist der Band raffiniert gemacht: In dem Querformat teilen sich jeweils zwei Reihen von schwarzweissen Comic-Streifen eine Seite und erinnern so an die klassischen Comicstrips. In erster Linie überzeugt das Szenario von Jean-David Morvan: Hart am Geschehen schildert es die «Arbeitsbedingungen» des Kriegsreporters Robert Capa und vermittelt ein stimmiges Bild, wie das berühmte Foto am Omaha Beach zustande kam.
Eindrücklich sind die Momentaufnahmen – wie jene, als eine Mutter ihren Sohn im Foto des robbenden Soldaten (vermeintlich) wiedererkennt. Auch Zeichner Dominique Bertail gelingen im Einzelnen sehr schöne Szenen: Wie etwa Robert Capa zu Beginn aus der im Nebel verborgenen sizilianischen Landschaft hervortritt. Hingegen vergibt Bertail die Chance, die Schlacht auf der Breite von vier ausklappbaren Seiten zu einem pointierten Panorama zu verdichten.
Als Ganzes betrachtet bleibt Bertails Strich zu konventionell, um dem Vergleich mit Capa standzuhalten: Im Unterschied zu dessen Fotos führen Bertails Bilder nicht mitten ins Geschehen, sondern lassen dem Leser seine historische Distanz. Für den Comic ist das nur bedingt ein Gewinn.
Florian Meyer
Jean-David Morvan, Séverine Tréfouël, Dominique Bertail: «Omaha Beach, 6 juin 1944».
Magnum Photos / Dupuis, Collection Aire Libre, 104 S., Hardcover, s/w,
EUR 15,50 / CHF 23.20
«Ich weiss, mein Blick ist nach hinten gerichtet, nicht nach vorne», sagt der Protagonist in Seths aktuellem Comic Vom Glanz der alten Tage auf der letzten Seite. «Ich weiss, dass es bald zwölf schlägt, aber vielleicht gibt es einen neuen Morgen. Vielleicht ist der Graphic Novel Trend etwas Nachhaltiges.» Vielmehr ist es Seth selbst, der hier spricht, und der Titel des Comics könnte das Künstler-Credo des kanadischen Zeichners nicht besser auf den Punkt bringen. Denn kaum ein anderer Comic-Künstler lässt sowohl narrativ als auch zeichnerisch den Glanz der alten Tage wieder aufleben, ja zelebriert ihn regelrecht.
Inspiriert durch Charles M. Schulz, Jack Kirby, Robert Crumb, Edward Gorey, Hergé und die New Yorker Cartoonisten der 50er- und 60er-Jahre wie u.a. Whitney Darrow Jr., Cobean und Peter Arno hat Seth seinen ganz eigenen unverkennbaren Comic- und Illustrationsstil entwickelt. Seine Bücher sind in Aufmachung und Verarbeitung eine Hommage an die hohe Kunst des Buchdrucks und Buchgestaltung vergangener Tage. Bei der ersten Begegnung mit Seths Werken kann dies den Leser sogar insofern irritieren, dass er sich fragt, ob er nicht doch einen Original-Comic aus den 60er-Jahren in den Händen hält. Vom Glanz der alten Tage ist ebenso in dieser Epoche angesiedelt und handelt von einer fiktiven kanadischen Cartoonisten-Vereinigung, der «Great Northern Brotherhood of Canadian Cartoonists». Mit dem Protagonisten wandelt der Leser durch die inzwischen verlassenen und verfallenen Clubräume der Comic-Zeichner und erfährt manche Anekdote aus der Glanzzeit der damals angesehenen Vereinigung und über die erfolgreichsten Comic-Serien ihrer Mitglieder. Auch wenn man weiss, dass sich Seth in seinen Comics stets fiktive Geschichten über die Comic- und Cartoon-Kultur ausdenkt, so ist man dennoch dazu geneigt, im Internet zu überprüfen, ob nicht doch ein Name oder Comic real ist. Genau dies macht die Geschichten von Seth so besonders, sie sind derart real erzählt und gezeichnet, dass man sie grösstenteils für bare Münze nimmt.
Dem aktuellem Comic sind zudem ein paar Photos mit Artefakten vorangestellt, welche die Ehrungen des Comic-Vereins abbilden sollen. Seths Comics sind eine nostalgische Reise in die Vergangenheit, wie sie schöner nicht sein könnte.
Matthias Schneider
Seth: «Vom Glanz der alten Tage».
Msw Medien Service, 136 S., Hardcover, zweifarbig,
EUR 25 / CHF 36.90
David hat Krebs. Damit muss er erst mal zurechtkommen. Aber auch seine Frau Paula, seine kleine Tochter Tamar und seine erwachsene Tochter Miriam aus erster Ehe müssen ihren Umgang mit Davids Krankheit finden. Judith Vanistendael erzählt ihre berührende Familiengeschichte Als David seine Stimme verlor zwar auch mit Dialog, aber tatsächlich erzählen die Bilder nicht nur in den vielen wortlosen Passagen einen Grossteil der Geschichte, sondern sind auch in den dialoglastigeren Momenten sehr vielsagend und ergreifend.
Judith Vanistendael: «Als David seine Stimme verlor».
Reprodukt, 280 S., Hardcover, farbig,
EUR 34 / CHF 49.90
Eine sympathische junge Frau, irgendwo in der Provinz im Westen Frankreichs: Madie und die Liebe erzählt von einer jungen Ärztin, die nach vielen Jahren erfährt, dass ihre tot geglaubte Jugendliebe lebt. Das Gefühlschaos belastet ihre aktuelle Beziehung. Das Autorenteam Mercier, Filippi & Raymond erzählt seine Geschichte unspektakulär und schildert eher die alltäglichen Zwischentöne der Beziehungen zwischen den Menschen.
Mercier, Filippi & Raymond: «Madie und die Liebe».
Carlsen, 128 S., Softcover, farbig,
EUR 17,90 / CHF 26.90
Leopold Maurer widmet sich nach Miller & Pynchon und Mann am Mars mit Kanal den absurden Auswüchsen in der Politik: Die Kanzlerin (nein, Maurer ist Österreicher, sie ist also nicht Merkel nachempfunden), eine arrogante Alkoholikerin, die alle um sich herum für Trottel hält, plant einen Kanalbau, um das Meer in ihr Binnenland zu bringen. Der Irrsinn soll ihr Wählerstimmen bringen, da Arbeitsplätze locken, die Wirtschaft allgemein angekurbelt wird und Seeluft sowieso guttut. Maurer zeichnet schlicht, aber pointiert und formuliert ebenso scharfsinnig Dialoge, welche die mitunter absurden Zusammenhänge in der Politik satirisch spiegeln.
Leopold Maurer: «Kanal».
Luftschacht, 104 S., Softcover, s/w,
EUR 15,50 / CHF 20.90
Literaturadaptionen sind zurzeit en vogue: Von Klassikern bis zur Gegenwartsliteratur werden aus Romanen Graphic Novels. Tim Dinter hat sich nun Sven Regeners Herr Lehmann angenommen. Was hätte überflüssig sein können, entfaltet mit der Zeit einen doch faszinierenden Sog. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Dinter die Stimmung des Berlin zur Zeit der Wende – zwischen Ziellosigkeit und Kneipenalltag – mit seinen grauen Zeichnungen sehr gut einfängt.
Tim Dinter / Sven Regener: «Herr Lehmann».
Eichborn, 240 S., Hardcover, s/w,
EUR 19,99 / CHF 29.90
Dass Hergé zu Beginn seiner Karriere nicht gerade politisch korrekt war, ist allgemein bekannt. Paradebeispiel ist der Band Tim im Kongo, der vor latentem Rassismus und kolonialistischer Arroganz nur so strotzt. Der südafrikanische Zeichner Anton Kannemeyer, Mitbegründer des einzigen südafrikanischen Comic-Magazins Bittercomix, nimmt den Band als Vorlage für viele seiner Cartoons und Kurzgeschichten, die den Rassismus im Land und die Apartheid thematisieren. Drastisch, schwarzhumorig und makaber sind seine Geschichten und Cartoons. Letztere entstehen oft als grossformatige Gemälde und hängen in Museen, u.a. dem MOMA. Die Kollektion Papa in Afrika enthält Arbeiten aus den letzten sieben Jahren.
Anton Kannemeyer: «Papa in Afrika».
Avant-Verlag, 64 S., Softcover, farbig,
EUR 19,95 / CHF 29.90
Mari Yamazaki erzählt mit PIL ein in den frühen 80er-Jahren angesiedeltes Coming-of-Age-Drama: Nanami ist ein grosser Fan des Post Punks von Public Image Ltd. Die ästhetischen Freiheiten von John Lydons Band stehen im Kontrast zu den Restriktionen, die Nanami in der Schule erfahren muss. Ihr verschwenderischer Grossvater, mit dem sie zusammenwohnt, macht ihr das Leben zusätzlich schwer und droht, das für die geplante Englandreise gesparte Geld anderweitig zu verprassen. Der Manga setzt sich mit seinem Realismus von vielen Werken des Genres ab. Trotzdem mag sich existentielle Tiefe nur bedingt einstellen.
Mari Yamazaki: «PIL».
Carlsen, 192 S., Softcover, s/w,
EUR 16,90 / CHF 25.90
Die besten Feinde vom Historiker und Islam-Wissenschaftler Jean-Pierre Filiu und dem Zeichner David B. erzählt von der langen und verworrenen Geschichte zwischen Amerika und dem Islam. Der erste Teil widmet sich der Zeit von 1783 – dem Jahr, als die gerade entstandene amerikanische Nation erstmals gegen islamische Piraten im Mittelmeer vorging – bis ins Jahr 1953, als der CIA den iranischen Premier Mossadegh stürzte und den iranischen Schah zurück an die Macht brachte. Der zweite Teil führt die Geschichte bis ins Jahr 1984 fort, kurz nach dem Ende des ersten Libanonkriegs. David B. bebildert Filius Text mit drastischen, surrealen Motiven, welche die verworrene und folgenreiche Geschichte plastisch illustrieren und den Hintergrund für die aktuellen Konflikte in Nahost anschaulich werden lassen. Um Stoff für einen dritten Teil müssen sich die Autoren wahrlich keine Sorgen machen.
Benoît Sokal: Canardo –
der alte Erpel und das Meer». Schreiber & Leser, 48 S., Softcover, farbig, EUR 12,95 / CHF 19.90
Canardo geht in die 22. Runde! Den abgehalfterten Enten-Detektiv mit Trenchcoat und Alkoholproblem – frei nach Bogart – hat Benoît Sokal 1978 ins Leben gerufen und seitdem halbwegs regelmässig (zunächst in Kurzgeschichten und dann in nunmehr 22 Alben) auf Gaunerjagd geschickt. Die Politsatire Der Alte Erpel und das Meer ist zwar gewohnt kurzweilig und anspielungsreich in Szene gesetzt, wird es aber nicht zum Klassiker bringen. Dafür ist die Story zu sehr um politische Seitenhiebe bemüht, und Canardo selber spielt eigentlich nur eine Nebenrolle.
David B. & Jean-Pierre Filiu: «Die besten Feinde», 2 Bände.
Avant-Verlag, je 120 S., Hardcover, s/w,
EUR 19,95 / CHF 29.90
Alan Moore & Kevin O’Neill: «Die Liga der aussergewöhnlichen Gentlemen: Century». Panini, 260 S., Softcover, farbig, EUR 29,99 / CHF 41.90
Mit dem sechsten Band Wilde Jagd erfährt Jeff Lamires postapokalyptisches Drama Sweet Tooth um eine Seuche und ein Hybridwesen seinen Abschluss. Nach dem fünften Band mit einer mystischen Backstory ist das Finale nun von der Endschlacht geprägt. Die Serie vermittelt angesichts der Brutalität einerseits und der moralischen Implikationen andererseits ein höchst zwiespältiges Lesevergnügen. Der Humanismus von Lemires Essex County kommt hier jedenfalls nur sehr düster zum Vorschein.
Befreiter kann man in Alan Moores und Kevin O’Neills Die Liga der aussergewöhnlichen Gentlemen über Gewalt und menschliche Abgründe sinnieren. Mit Century erscheint nun der dritte Teil, der die zuvor einzeln erschienenen Stories 1910, 1969 und 2009 zusammenfasst: Die mit literarischen Anspielungen gepflasterte, magische Superheldengeschichte ist ein intellektuelles Vergnügen, das weder auf Action und Popgestus noch auf existentielle Tiefe verzichtet und auch visuell immer wieder grenzüberschreitend ist.
Jeff Lamire: «Sweet Tooth – Wilde Jagd».
Panini, 176 S., Softcover, farbig,
EUR 19,99 / CHF 29.90
Der von Christian A. Bachmann herausgegebene Reader Bildlaute und laute Bilder untersucht die Darstellungsweise von Klangereignissen in Comics. Als Beispiele dienen den acht Autoren für ihre Aufsätze unter anderen Chris Ware, Alan Moore oder Frank Miller, untersucht wird aber z.B. auch Stripsody, ein auf Comic-Soundwords basierendes Vokalstück der Avantgarde-Komponistin Cathy Berberian von 1966.
Christian A. Bachmann (Hg.): «Bildlaute & laute Bilder».
Ch. A. Bachmann Verlag, 184 S., Softcover, farbig & s/w,
EUR 25
Helmut Germer
*1953 im deutschen Freiburg, lebt und arbeitet in Zürich als Grafiker und Illustrator für Agenturen, Redaktionen, Verlage und lehrt an der Schule für Gestaltung in Basel.
«In meiner Kindheit fesselten mich die Bildergeschichten von Wilhelm Busch und die Comics von Hal Foster, insbesondere die Darstellungen der jüngeren weiblichen Protagonisten. Es dauerte aber noch ein paar Jahre, ehe ich mich selbst daran machte, in der Realität den Ursachen für die Schraffuren in den Zeichnungen auf den Grund zu gehen. Die Faszination für die gezeichnete Version des Lebens schmälerte das aber nicht. Auch wenn ich heute einen erotischen Comic oder Cartoon sehe, geniesse ich es, mich dabei vom tabulosen zeichnerischen Ausleben einer fremden Fantasie überwältigen zu lassen.»
www.germer.ch
Philip Schaufelberger
*1981 im schweizerischen Wetzikon, erhielt 2002 seinen Diplomierten Gestalter in Zürich und arbeitet seither als Illustrator, Layout- und Storyboard-Zeichner für Werbeagenturen. 2010 schloss er den Bachelor of Arts in Illustration in Luzern ab. 2014 erhielt er am internationalen Comic-Festival Fumetto das Comicwerkjahr der 5 Deutschschweizer Städte.
«Während der Pubertät masturbierte ich zu selbstgezeichneten erotischen Comics. Verliebt war ich aber damals in die Figur Ellen Ripley. Es gab für mich nichts Attraktiveres als eine Frau, die ein fünf Meter grosses Alien verprügelt. Eine Ausgabe von Druuna vermochte dies auch nicht zu ändern, bot jedoch Ersatz für die selbstgezeichneten Geschichten …»
www.daslip.ch
Evangelos Androutsopoulos
«Ich wurde in Finnland geboren und lebte ab 2002 in Helsinki. 2006 begann ich in Athen mit der Produktion von Minicomics. In London studierte ich bis 2014 Illustration. Seither arbeite ich als freier Illustrator und Zeichner von Cartoons. Verschiedene meiner Comics wurden in Kleinverlagen und Anthologien publiziert. Die erste Comic-Figur, die mich erregte, war vermutlich eine von Don Rosas Enten.»
www.evancomics.tumblr.com
Peggy Adam
*1974 in Frankreich, studierte an der Kunsthochschule von St-Etienne, in Toronto (OCAD) und an der Ecole Supérieure de l’Image in Angoulême. Heute lebt sie in Genf, wo sie sich in verschiedenen kulturellen Projekten engagiert und Plakate, Flyers sowie Kataloge gestaltet. Daneben gibt sie an französischen und schweizerischen Schulen Malunterricht für Kinder.
«Meine ersten erotischen Fantasien betrafen Rahan, die athletische Hauptfigur in Held der Vorzeit von André Chéret. Ich war schwer beeindruckt, als ich las, dass Chéret seinen eigenen Körper als Vorlage für Rahans Aussehen genommen habe. Doch dann sah ich ein Foto des Zeichners – er war alt, bärtig und fett … Comic-Zeichner oder -Helden spielen in meinen erotischen Fantasien seither keine Rolle mehr!»
www.peggy-adam.com
Thomas Müllenbach
*1949 in Koblenz, Deutschland, lebt und arbeitet in Zürich und Gaboin, Frankreich. Professur für Malerei und Zeichnung an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).
www.thomasmuellenbach.com
Talaya Schmid
*1983, lebt und arbeitet in Zürich. Am Goldsmith College in London gründete sie das offene feministische Kollektiv Berta Koch, mit dem sie u.a. am Salon international d’art contemporain in Marseille und an den Swiss Art Awards in Basel auftrat. Zudem arbeitet sie als Verlagsleiterin für STRAPAZIN. Sie ist Mitbegründerin des alternativen Sexfilmfestivals Porny Days, das 2014 zum dritten Mal in Zürich stattfindet.
«Meine ersten Wichsvorlagen waren Comics von Robert Crumb.»
www.bertakoch.ch, www.talayaschmid.ch
Edmond Baudoin
«Ich wurde 1942 in Nice geboren, aber erst später – in einem 50 km nördlich gelegenen Dorf – begann ich zu träumen. Ich schöpfte aus diesen Träumen und machte daraus 60 autobiographische Comic-Alben. Auch wenn ich 300 Jahre alt werde, schaffe ich es wohl nicht, alle Träume in meine Bücher einfliessen zu lassen. Aber so alt werde ich wohl nicht …
Meine erste Comics-Wichsvorlage war Daisy Duck.»
www.edmondbaudoin.com/edmond_baudoin.html
Sang Ya
*1983, lebt in Wuxi, China. Sein erster erotischer Comic, im Alter von 14 Jahren gezeichnet, geriet in die Hände seines Lehrers, der ihn am Elterntag Yas Eltern übergab. «In der Primarschule fand ich verschiedene Manga in der Bibliothek, z.B. City Hunter von Tsukasa Hojo. Diese Comics erregten mich, aber ich wusste noch nicht, was Masturbation ist. Zum ersten Mal masturbierte ich zu Black Brain von Sagano Heruma.»
Luca Bartulovic
«Geboren bin ich 1988 in der Stadt, aufgewachsen im Wald. Bei einer Sekte ging ich in die Schule und ohne richtigen Abschluss in den Vorkurs und an die Hochschule Luzern, um Illustration zu studieren. Und dann haben wir bald schon mal ein kleines Comic-Magazin gemacht, ich und die zwei Freunde, die mich jeden Morgen wecken müssen, weil ich nicht aufhören kann zu träumen.
Zum feuchten Träumen haben mich schon immer die Abenteuer aus der Feder Milo Manaras gebracht.»
www.bartulovic.ch
www.ampelmagazin.ch
Kirsten Rothbart
Kirsten kam auf die Welt. Dann war lange Zeit nichts. Heute studiert sie in Kassel Comic und Illustration. Aber nicht mehr so lange, denn sie macht gerade ihren Abschluss. Am liebsten mag Kirsten, wenn es bunt ist und voll, und sie mag Muster – und irgendwie Melancholisches. Über das, was nach dem Studium kommt, macht sie sich lieber noch nicht so viele Gedanken. Kirsten hatte nie wirklich einen Comic-Schwarm. Aber Lucky Luke.. das wäre schon eher ihr Typ.
www.kirstenrothbart.tumblr.com
Lika Nüssli
*1973. «Nach einer Ausbildung zur Textildesignerin studierte ich Illustration an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern.
Seit 2001 bin ich freischaffende Künstlerin in St. Gallen. Ich zeichne, male, illustriere und mache Performances; in den letzten Jahren habe ich auch das Live-Zeichnen entdeckt.
Seit 2012 unterrichte ich Illustration und Zeichnen an der Schule für Gestaltung in St.Gallen und im Frühling organisiere ich immer die Comic-Lesungen am WORTLAUT.
Mit etwa zwanzig Jahren habe ich angefangen, die Comics von Ralf König zu lesen, und ich wünschte mir, schwul zu sein. Aber das erste Mal eins runtergeholt hab ich mir zu BLACK HOLE von Charles Burns.»
www.likanuessli.ch
Shary Boyle
*1972 in Scarborough, Ontario (Kanada). Ihre Skulpturen, Zeichnungen, Malereien, Installationen und Performances drehen sich stets um die ganze Bandbreite psychologischer, sozialer und emotionaler Gegebenheiten. In ihren handwerklich perfekt gearbeiteten Porzellanfiguren vermischen sich Traditionen historischer Porzellanmanufakturen und animistische Mythologien zu einer ureigenen symbolischen Sprache.
www.sharyboyle.com