NO:134

  • Cover: Luigi Olivadoti


FLANIEREN


Flanieren? Ha! Wer flaniert denn heute noch durch die Stadt? Tourist*innen haben keine Zeit dazu, weil sie ständig
Selfies mit Obdachlosen schiessen müssen. Obdachlose sind zu sehr damit beschäftigt, sich in Abfalleimern vor Polizist*innen zu verstecken. Polizist*innen drehen den Kopf nur nach Fahrradfahrer*innen ohne Licht. Und Fahrrad­fahrer*innen ohne Licht starren ununterbrochen aufs Handy und haben null Lust, durch die Strassen zu schlendern, um dem genius loci, dem Geist des Ortes, hinterherzurennen. Tja, die Flaneurin, der Flaneur von heute spaziert lieber durchs Internet und lässt die Gedanken bei diesem oder jenem bunten Anblick verweilen. Nicht digital, sondern ganz real tat dies auch der ­argentinische Schriftsteller Julio Cortazar, der das Flanieren durch sein Pariser Exil so beschrieb: «Wenn ich mich im ­Zustand der Verlorenheit durch die Strassen bewege und zerstreut die Plakate, Wirtshausschilder, Passanten ­betrachte, stelle ich ununterbrochen Beziehungen zwischen Sätzen, Wort­fetzen, Gedanken und Gefühlen her, die sich zu einem ­mentalen System gedanklicher Konstellationen ­verknüpfen.»
Seit Edgar Allan Poes Erzählung The Man of the Crowd von 1840 wird der Flaneur als männliche Person mit Spazierstock beschrieben, entweder dem Bürgertum oder dem Adel angehörig, der anonym mit Vorliebe durch die Gross­städte geht und schweigend beobachtet. Nur Männer?
Die Autorin Lauren Elkin meint bezüglich der Tradition des ausschliesslich männlichen Flaneurs: «Als wäre der Penis eine zum Flanieren unverzichtbare Requisite, als sei er ein ­Spazierstock.» In ihrem Buch Flâneuse – Frauen erobern die Stadt schreibt sie: «Die Flâneuse ist ein entschlossenes, einfalls­reiches Individuum, das sich einlässt auf das kreative Potenzial einer Stadt und auf die befreienden Wahrscheinlichkeiten ­eines befriedigenden Spaziergangs.» Das unendliche Labyrinth der Strassen ist für die Flanierenden wie ein Fundbüro für das, was sie weder verloren noch vermisst haben. Auch wenn sie dort nicht finden, wonach sie ­Ausschau halten, entdecken sie doch immer etwas, was ihnen ­verlockend scheint.
Die in dieser Ausgabe von STRAPAZIN versammelten Künstler*innen sind durch die Strassen ihrer Wohnorte ­flaniert, haben Geschichten dazu erfunden, oder haben notiert und gezeichnet, was sie bei ihren Streifzügen beobachtet und für erwähnenswert gehalten haben.
Wir wünschen viel Vergnügen!

Christoph Schuler


DAS GESCHRIEBENE WORT

Flanieren, Umherschweifen, Dérive

IN GIRUM IMUS NOCTE ET CONSUMIMUR IGNI
Flanieren. Ziellos dahingehen. Hab ich als junger Mann faszinierend, ja geradezu ­revolutionär gefunden (siehe weiter ­unten!). Wenn man noch gut zu Fuss ist und ohne Geld im Sack in grossen, ­fremden Städten unterwegs ist, dann ist man der Flaneur, vielleicht ein Dandy, ­etwas abgewrackt, ein bisschen geheimnisvoll und möglicherweise unterwegs im Auftrag der Revolution. Auch wenn das alles niemanden interessiert, dem man ­unterwegs begegnet (ausser der Guardia Civil in Spanien vor Francos Tod). „Die Schönheit ist auf der Strasse“ ist eine ehrbare Parole aus dem Mai 1968. Die Strassen gehören uns.
Später, in schon reiferem Alter, kriegt das Flanieren so einen eigenartigen Reiz, der aus der eigenen Jugend herüberlappt. Erinnerungen schlagen über ­einem zusammen. Ha, ich bin schon über die Boulevards am linken Seine-Ufer ­flaniert, als da noch Baudelaire und Guy Debord zusammen saufen gingen.
In Wirklichkeit schleppt man sich in späteren Jahren über die Boulevards und durch die Fussgängerzonen der Gross­städte … Moment, kann man in Fuss­gängerzonen überhaupt flanieren? Also man geht gemessenen Schrittes durch die Stadt, gutes Schuhwerk vorausgesetzt. Schlenderdischlender. Normalerweise ­flaniert man ohne Begleitung – weil die ja nur in den nächsten Konsumtempel oder in die Beiz um die Ecke will. Das Warenhaus ist ohnehin der Friedhof des Flaneurs.
Beim letzten Mal, als ich länger in Paris war, litt ich an einer brutalen Blasenentzündung und musste circa alle 30 ­Minuten aufs Klo. Da flaniert man dann äusserst zielgerichtet. Keine Dérive mehr, kein Umherschweifen. Es herrscht vor allem individueller Notstand.
Die ­hygienische Qualität der öffentlichen ­Toiletten in Paris zaubert einem ebensoviele Angst- und Sorgenfalten auf die Stirn wie der nämliche Zustand in den Abtritten der Bars und Bistrots. Eine der schönsten, saubersten und vor allem auch am ­wenigsten besuchten Toiletten von Paris war damals das etwas plüschige Kabinett
im Untergeschoss des Petit Palais, der städtischen Galerie, in welcher der Eintritt überdies gratis war und hoffentlich noch ist.
Heute käme man wohl wegen der Gelbwesten da nicht mehr durch, aber egal. Vielleicht sind solche eher herkunftslosen Revolteure wie die Gilets Jaunes die neuen Flaneur*innen. Oder die Klimakatastrophe-Schüler*innen. Die Strassegehört euch!

Flanieren ist eine Art Lektüre der Strasse
Es ist der Blick des Flaneurs, dessen ­Lebensform die kommende trostlose des Grossstadtmenschen noch mit einem ­versöhnenden Schimmer umspielt. Der ­Flaneur steht noch auf der Schwelle, der Grossstadt sowohl wie der Bürger­klasse. Keine von beiden hat ihn noch überwältigt. In keiner von beiden ist er zu Hause. Er sucht sich sein Asyl in der ­Menge… Die Menge ist der Schleier, durch den hindurch dem Flaneur die ­gewohnte Stadt als Phantasmagorie winkt. In ihr ist sie bald Landschaft, bald Stube. Beide bauen dann das Warenhaus auf, das die Flanerie selber dem ­Warenumsatz nutzbar macht.
Das schreibt Walter Benjamin in Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts.
Man muss das nicht zu verstehen ­versuchen, sondern mitflanieren, dem nachgehen.
Der Benjaminsche Flaneur ist der urbane Gegensatz zum romantischen Wanderer, der gut ein Jahrhundert vorher für Furore gesorgt hat. Etwa Eichendorffs Taugenichts oder der Müller, dessen ganze Lust das Wandern ist. Der Flaneur bewegt sich nicht mehr in einer Landschaft, sondern in der Stadt. In einer Stadt der Boulevards und Passagen. Er flaniert zwischen den Menschen und Gebäuden. Aber er ist davon unabhängig und frei, bis ihm die kommerziellen Passagen und Kaufhäuser den Weg verstellen. Dann verschwindet auch das Dandyhafte am ­Flaneur. Wenn er jetzt nicht stehen bleibt und weitergeht, dann entzieht er sich dem Konsum und der kapitalistischen Verwertung. Und seinem historischen ­Schicksal kann man nicht entkommen.
Im September 1940 floh Walter ­Benjamin aus Südfrankreich vor den Nazis über die Pyrenäen (kein Spaziergang!) und beging nach praktisch schon gelungener Flucht im spanischen Grenzort Port Bou Selbstmord.

„Gebt der Stadt ein bisschen ab von euerer Liebe zur Landschaft“, meinte Franz ­Hessel 1929 in seinem Buch „Spazieren in Berlin“ (Neuauflage unter dem Titel „Ein Flaneur in Berlin“). Hessel, 1880 geboren, lebte länger in Paris und war bis zu seiner Flucht vor den Nazis in Berlin als Lektor im Rowohlt Verlag tätig. Zu­sammen mit Walter Benjamin übersetzte er Marcel Proust. Hessel emigrierte 1938 nach Frankreich, kam ins berüchtigte ­Lager von Les Milles in Südfrankreich und starb 1941 an einem Schlaganfall.
„Ein Lehrbuch der Kunst, in Berlin spazieren zu gehen, ganz nah dem Zauber der Stadt, von dem sie selbst kaum weiss“ und „Flanieren ist eine Art Lektüre der Strasse“, vermerkt Hessel in seinem ­Bilderbuch in Worten, das neben den literarischen und kunstgeschichtlichen Monumenten auch Amüsierbetriebe, ­Fabriken, Mietskasernen und Modeläden beschreibt.
Franz Hessel ist übrigens der Vater des 2016 verstorbenen Stéphane Hessel, der mit „Indignez Vous!“(„Empört Euch!“) vor acht Jahren kurzfristig für ­allerhand Aufruhr sorgte.

The Most Dangerous Game
Kommen wir zum Titel dieses kleinen ­Flanier-Beitrags: In girum imus nocte et consumimur igni. Es handelt sich um ein Palindrom, also um ein Wort bzw. hier einen Satz, den man von vorne und von hinten gleich liest. Übersetzt heisst es: Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt. Das ist der Titel des letzten Films von Guy Debord (1931-1994), Leitfigur der Situationistischen Internationale, aus
dem Jahr 1978. Ein Abgesang auf die ­Jugend sei sein Film, meinte Debord. Der Selbstmord habe viele hinweggerafft (ihn dann auch!), andere hätten der Suff und der Teufel erledigt, auf dem halben Weg ins wahre Leben von dunklen ­Mächten umgeben, die sich in traurigen und spöttischen Sprüchen im Café zur verlorenen Jugend niedergeschlagen hätten.
So um 1952 gab es in Paris die ­Lettristische Internationale, eine künstlerische Avantgarde, deren grosse Errun­genschaft die Entdeckung der Jugend als ­letztes ­revolutionäres Subjekt war. Die Lettristen sahen damals schon aus wie Punks und ihr Lebensentwurf unterschied sich auch nicht stark. Jedenfalls war Paris – eine gewisse Zeit nach Baudelaire und Walter Benjamin – wieder Schauplatz einer wilden Flaniererei. Umherschwei­ferei. Oder „Dérive“, wie es die Nachfolger der Lettristen nannten, die Situatio­nisten-Avantgarde, welche die Kunst überflüssig machen wollte.
„Eine oder mehrere Personen, die sich dem Umherschweifen widmen, ­verzichten für eine mehr oder minder lange Zeit auf die ihnen im allgemeinen ­bekannten Bewegungs- bzw. Handlungsmotive, auf ihre Beziehungen, Arbeits- und Freizeitbeschäftigungen, um sich den Anregungen des Geländes und den ihm entsprechenden Bewegungen zu überlassen …Vom Standpunkt des Umherschweifens aus haben die Städte ein ­psychogeografisches Bodenprofil mit beständigen Strömen, festen Punkten und Strudeln, die den Zugang zu gewissen Zonen oder ihr Verlassen sehr mühsam machen.“
Was Debord hier meint, wurde von der rebellischen Pariser Jugend schon längst umgesetzt. Man schweifte am linken Seine-Ufer umher, mied die Bistrots, in denen sich Frau Beauvoir und Herr Sartre aufhielten und traf sich stattdessen bei Mutter Moineau, in einer düsteren Bar, wo es Kredit und etwas Warmes in den
Bauch gab. Wie nicht anders zu erwarten, suchte die rebellische Jugend die künst­lichen Paradiese: Alkohol, Haschisch und Aether.
Es besteht eine gute Möglichkeit, sich dem sehr sperrigen theo­retischen Schaffen der Situationisten etwas anzu­nähern, sei es nun, um es auch ein ­bisschen zu erahnen oder in der Praxis zu sehen. Ich meine damit die persönlichen Erinnerungen von zwei Angehörigen
der Bewegung: Jean-­Michel Mension, der aus der Lettris­tischen Internationalen,
und Ralph ­Rumney, der etwas später dann aus der Situatio­nistischen Internationalen aus­geschlossen wurde. Die auch sehr ­unterhaltsame ­Lektüre ergibt das Bild einer umherschweifenden Avantgarde, ­welche die Kunst ­abgeschafft hat, indem sie die Kunst lebt. Oder so ähnlich.

Fiktive Flaneure
Ein Paar der eminentesten Flaneure des deutschsprachigen Romans sind die Iberer-Brüder aus Eckhard Henscheids Roman „Die Mätresse des Bischofs“, jenem in ­seiner flattrigen Schönheit und rauschschwangeren Rätselreligiosität fast gross­artigsten Teil der sogenannten Trilogie des laufenden Schwachsinns, die der Autor zwischen 1973 und 1978 geschrieben hat. Jene Brüder mit dem irisierenden Nach­namen Iberer laufen stets dieselbe Route durch ihre Heimatstadt Dünklingen.
Sie sind bekannt unter ihren Übernamen Fink und Kodak und wären einst gute Fussballer gewesen, „primär Techniker“. Derlei erfährt der Erzähler des Romans, ein Aushilfs-Kurpianist namens Siegmund Landsherr, durch allerhand mündliche Quellen, Gequalle und Gequatsche in ­diversen Wirtshäusern und Bars. Fürderhin ist der Erzähler den Brüdern ­verfallen, voll Herzsirren und stets nahe dem „kleinen Schlaganfall der Lust“.
Am Schluss lappt der Roman gar in eine theologische Erotik, indem Fink und ­Kodak Iberer, von Landsherr überwacht, ein Sightseeing in Florenz machen.
Das Personal und die Dialoge dieses Romans sind nahezu unübertrefflich und von grossem literarischen Trost. Und was fast nicht zu glauben ist: Dieses ­Meisterwerk ist im Buchhandel offensichtlich nicht lieferbar.
Wo sind da die Gralshüter der deutschsprachigen Literatur? Die Orgelpfeifen der Literaturkritik? Die Krepp­sohlengehirne, die in den Medien wegen ­irgendwelcher belangloser Schrei­bereien herumnölen dürfen?
Denn ewig flanieren die Iberer-Brüder.

BOOKLIST

Was es dazu alles zum Lesen und Anschauen gibt:

Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1.
Suhrkamp Taschenbuch 1977, 417 Seiten.

Franz Hessel: Ein Flaneur in Berlin.
Verlag Das Arsenal, Berlin 2011. 280 Seiten mit Fotos.

Simon Ford: Die Situationistische Internationale. Eine Gebrauchsanleitung.
Edition Nautilus, Hamburg 2007, 220 Seiten mit Abbildungen.

Wolfgang Scheppe/Roberto Ohrt: The Most Dangerous Game. Dokumente und Werke der Situationistischen ­Internationale in 2 Bänden.
Merve Verlag, Berlin 2018. Zusa. 990 Seiten mit Abbildungen.

Jean-Michel Mension: Wir haben unsere unfertigen Abenteuer gelebt. Eine Jugend im Paris der fünfziger Jahre.
Edition Tiamat, Berlin 2002. 126 Seiten mit Fotos.

Ralph Rumney: Der Konsul.
Edition Tiamat, Berlin 2011. 143 Seiten mit Abbildungen.

Eckhard Henscheid: Die Mätresse des Bischofs. Zweitausendeins, diverse Auflagen, 514 Seiten.

Die letzten drei Titel dürften antiquarisch erhältlich sein!

PFLICHT LEKTüRE

Tim Dinter, Kai Pfeiffer: «Der Flaneur»

Ewiger Wanderer durch die Stadt

Als hellgrau verwaschene, von Schneeflocken weiss ­getupfte Silhouette ragt der Fernsehturm über Hoch­häuser und der Kuppel des ­Berliner Doms empor. Davor die mit wenigen Linien klar umrissene Rückenansicht eines Mannes in Mantel und Schal. «Berlin gibt es nicht. Eine Stadt existiert nur durch den Blick auf sie», heisst es zu diesen ersten Bildern der Comic-Kolumnen Der Flaneur von Kai Pfeiffer und Tim Dinter, und ein Stück weiter: «Ich, der Flaneur, beginne nun meinen Gang als ewiger Wanderer durch die Stadt, die immer neu entsteht vor meinem Blick, dem nichts entgehen darf. Alles ist wert, bemerkt zu werden, alles in dieser Stadt ist schön, und all ihr Reichtum an Unbehagen wird mir ein Genuss sein.» Dieser etwas gestelzte Ton zieht sich durch die in Serifenschrift gesetzten Texte zwischen den Bildern sowie durch die Kommentare des Flaneurs, während die übrigen Sprechblasen in Alltagssprache ­gehalten sind. Das ergibt schöne Kontraste, und von Kontrasten lebt auch die Grafik: Der beobachtende Flaneur bleibt eine lediglich in Umrissen gezeichnete, weisse Figur, mit markanter Haartolle, die Augen hinter einer dickrandigen, runden Brille verborgen. So ­spaziert er durch ein detailliert gezeichnetes urbanes Dekor, begegnet Menschen mit oft karikiert überzeichneten Physiognomien und interagiert gelegentlich mit ihnen.
Tim Dinter und Kai Pfeiffer haben schon früher zusammengearbeitet, zum Beispiel in der Zeichnergruppe monogatari – Bilder für Leser, die sie 1999 an der Kunsthochschule Weissensee gemeinsam mit Ulli Lust, Mawil, Kathi Käppel und Jens Harder gründeten.
Die inzwischen aufgelöste Gruppe veröffentlichte 2001 in Eigenregie den Band Alltags­spionage, Comicreportagen aus Berlin – ein ­schönes, stilistisch vielfältiges kleines Comic-Werk übrigens, das aufzustöbern sich lohnt. Ulli Lusts pointierte Bildkolumnen und ­Mini­reportagen aus Berlin wurden – teils mit ­Bildtexten von Kai Pfeiffer versehen – 2008 unter dem Titel Fashionvictims, Trendverächter bei Avant veröffentlicht.
Dinters und Pfeiffers Serie Der Flaneur ­erschien ursprünglich vom 5. Januar bis 11. Mai 2002 in der FAZ, und zwar im Spalten-Layout, in vertikaler statt horizontaler Abfolge. Diese Gestaltung hat auch der Berliner Verlag Breitkopf Editionen übernommen, der die Strips gesammelt zwischen Buchdeckeln, ­herausgibt. Im Lauf der Monate groovte sich das Comic-Reporterteam mehr und mehr ein, die späteren Kolumnen kommen lockerer daher und überraschen umso mehr.

Barbara Buchholz

Tim Dinter, Kai Pfeiffer: «Der Flaneur».
Breitkopf Editionen, 96 S., Hardcover, s/w,
EUR 22 / CHF 26.—

Thorsten Brochhaus (Hrsg.): «WHOA! Comics».
Plem Plem Productions

Vielfalt in der Indie-­Comic-Szene

WHOA! Comics ist ein ­Comic-Heft aus dem ­Bamberger Kleinverlag Plem Plem Productions. Den gründete Christopher Kloiber 2008, um, wie er in ­Interviews erzählt, seine Ideen für Comics unterzubringen, mit denen er bei anderen ­Verlagen abblitzte. WHOA! Comics wurde seine Spielwiese, auf der er sich ­zunächst allein austobte, doch bald liess ­Kloiber andere ­mitmachen. Inzwischen wird WHOA! redaktio­nell von Thorsten Broch­haus betreut, und regelmässig sind verschiedene Comic-Schaffende dabei: Kristina Gehrmann oder Nic Klein, Andreas Butzbach, Hannes Radtke oder Johannes Lott zum ­Beispiel. In Heft 14 waren mit Lara Keilbart, die auch das Editorial beisteuerte, E*phi, Yana Adamovic und Paranoid Polly sogar mehr Frauen als Männer versammelt.
15 Ausgaben WHOA! Comics sind seit 2008 erschienen, alle drei Monate gibt es ein neues, stets liebevoll gemachtes, charmant ­unperfektes und mit Aufsehen erregenden ­Titelbildern versehenes Heft. Ein gigantischer Krake peitscht etwa auf dem von dem ­litauischen Künstler Rimas Albert gezeichneten Cover der aktuellen Nummer 15 mit ­bösem Blick Wasser auf – der stets wechselnde Claim über dem Hefttitel lautet denn auch passend: «schlägt Wellen/Schaum». Der Krake ist der Science-Fiction-Story Einwanderer des Briten Dan Morison entnommen, eine in opulent kolorierten Zeichnungen gehaltene alternative Geschichte der Erde mit öko­logischem Touch.
Im Heft vertreten sind vier weitere Künstler mit je einer Geschichte: Andreas Butz­bach ist «Stammgast» mit seiner Western-Serie Der Typ ohne Hose. In ­kantigen Zeich­nungen in grafischem Stil, in Schwarz, Weiss und Karminrottönen spinnt er die zunehmend abgefahrene Story von Heft zu Heft weiter – ­sicherlich eines der Zugpferde von WHOA!. Der polnische Illustrator ­Sebastian Skrobol erzählt die schauerlich anmutende Liebes­geschichte Das Licht in ­Aquarelloptik und Kontrasten zwischen düsteren Tönen und rosa-­gelbem Lichtschein. Der Südafrikaner ­Gerhard Human schickt in Der verblasste Pfad einen jungen Mann auf eine abenteuerliche Traumreise. Helles Gelbgrün als Grundfarbe der Panels, der ­Zeichenstrich in tiefem ­Rotbraun und helle Schrift in schwarzen Sprechblasen – die ­Gestaltung fällt bei dieser Geschichte ebenfalls ins Auge.
Entdeckungslustigen und allen, die sich für die Vielfalt in der Indie-Comic-Szene ­interessieren, seien die WHOA! Comichefte jedenfalls ans Herz gelegt.

Barbara Buchholz

Thorsten Brochhaus (Hrsg.): «WHOA! Comics».
Plem Plem Productions, 15 Hefte ­erschienen,
28 S., farbig, EUR 4,90

Jean-Marc Rochette, Olivier Bocquet: «Ailefroide: Altitude 3954»

Magische Alpen

Allein der Anblick der ­Alpen, die schneebedeckten Gipfel und die zerklüfteten Grate können einen überwältigen. Wie magisch muss die Anziehungskraft der Gebirge erst für Bergsteiger sein? Von dieser Leidenschaft und der ­Liebe zum Berg handelt der fast 300 Seiten starke Comic von Jean-Marc Rochette und Olivier Bocquet. Meisterhaft setzen die ­Franzosen das Gebirgsmassiv der Ailefroide ins Bild – es befindet sich in den Dauphiné-Alpen und erhebt sich bis zu einer Höhe von 3954 Metern. Selbst wer nicht selber kraxelt, erlebt in diesem Comic die urtümliche ­Faszination der Berge. Es gibt Seiten, die einen ­richtig vergessen lassen, dass man in der Stube sitzt und nicht von einem Gipfel aus in
die Ferne schaut. Bergspitzen, Schneefelder und Hängegletscher erstrecken sich über ganzseitige Panels und vermitteln die stille Weite des Raums unter weitem Himmel. Ganz im Gegensatz dazu zeigen oft kleinziselierte Bilder das geschäftige Treiben in Städten wie Grenoble. Diese Stimmung herrscht auch auf dem Cover der Luxusausgabe – zwei ­winzige Bergsteiger stehen auf einem Gipfel, dahinter türmt sich die Ailefroide auf und der Glacier Noir, der «schwarze Gletscher», der sich, von Schutt überzogen, wie eine Zunge unter dem Massiv hinzieht. Überhaupt begeistert die limitierte, mit sieben Aquarellen und einem Kunstdruck ausgestattete Schwarzweiss-Ausgabe fast noch mehr als die ebenso gefühlvoll kolorierte Normalausgabe. Mit ­einem Gewicht von zwei Kilo und dem grauen Einband in Hochformat wirkt sie selbst wie ein Fels aus dem Herzen des Gebirges.
Das Cover ist sinnbildlich – zu Beginn tastet sich der junge Jean-Marc Rochette durch den Nebel zum Gipfel vor. «An jenem Tag ­verliebte ich mich in die Berge. Das war die absolute Schönheit. Ich hatte nur noch einen Gedanken: Bergsteigen. Bis ganz hinauf.»
Ailefroide: Altitude 3954 ist ein autobio­grafischer Entwicklungsroman und führt die Leser in die 1970er-Jahre. Man begleitet den Jungen auf seinen Routen und fiebert mit ihm mit, wenn er eine Steilwand durchquert oder zum ersten Mal solo einen Gipfel erklimmt. Seine Leidenschaft überträgt sich von Bild zu Bild mehr auf die Leser. Rochette träumt davon, Bergführer zu werden, als er aber einen Bergsturz überlebt, ändert er seine Pläne und wird Maler und Comic-Zeichner.
Rochette ist ein vielseitiger Künstler: ­Edmund das Schwein (Carlsen, 1985) war ein disneyesker Tier-Comic. Die Science-­­Fiction-Serie Le Transperceneige (Schneekreuzer, Jacoby & Stuart, 2013) will Netflix 2019 als Fern­sehserie Snowpiercer senden. In Ailefroide pflegt Jean-Marc Rochette einen realistischen Stil, der den Gegensatz von menschlichen ­Dimensionen und der Magie der Berge bestens ­beschreibt. Fazit: Spitze!

Florian Meyer

Jean-Marc Rochette, Olivier Bocquet: «Ailefroide: Altitude 3954»,
Casterman, 298 S., Hardcover, farbig. EUR 28 / CHF 46,70
Limitierte Luxusausgabe mit 7 unveröffentlichten Aquarellen und einem ­Kunstdruck,
Casterman, 304 S., Hardcover, s/w. EUR 49 / CHF 79.10

Ruppert & Mulot: “Soirée d’un faune” / „Les week-ends de Ruppert & Mulot“


Abstürze und Affentheater

Das kreativste und inno­vativste Tandem der ­französischen Comic-Szene, Florent Ruppert und ­Jérôme Mulot, wartet im ­deutschen Sprachraum immer noch auf seine Entdeckung. Ihr geniales, in der Edition ­Moderne veröffentlichtes Debüt Affentheater schlug leider keine allzu hohen Wellen, und die mit Bastien Vivès entstehende Serie um eine Bande von Kunstdiebinnen – bei ­Reprodukt als Olympia und Die grosse Odaliske verlegt – wirkt im Vergleich zu ihren anderen ­Arbeiten reichlich altbacken. In Frankreich erscheinen derweil Geniestreiche wie Soirée d’un faune, das mit subversivem Witz die Grenzen des Comics unterläuft und überwindet – und doch auf köstliche Weise narrativ bleibt. Der Abend eines Faunes, so die deutsche ­Übersetzung des Titels, ist inspiriert von ­Stéphane Mallarmés Gedicht L’après-midi d’un faune, das einer der schönsten Kompositionen des Impressionismus’ zugrundeliegt, Claude Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune, die ihrerseits Vaslav Nijinksi zu ­seiner bahnbrechenden Choreographie ­anregte … Zu diesen drei in ihrem jeweiligen Bereich revolutionären Werken gesellt sich nun Ruppert & Mulots Soirée d’un faune – in Form einer 132 × 100 cm grossen faltbaren ­Karte einer Stadt, in der 110 Paare sich in klassischen Balletposen üben, nur un­wesentlich gestört von fast so vielen Szenen ­alkoholischer, gewalttätiger, sexueller und ­anderer Exzesse. Ein kolossales Wimmelbild für Erwachsene, dessen Lektüre und Ent­zifferung sicherlich länger dauert als die Lektüre der 110 Verse von Mallarmés Faun-­Gedicht und der Genuss der 110 Takte von Debussys sinfonischer Dichtung.
Les week-ends de Ruppert & Mulot ist eine schon etwas ältere Publikation, sie kompiliert die Strips, die Ruppert & Mulot ein Jahr lang für die Tageszeitung Le Monde zeichneten. Die Szene spielt sich in einem einzigen ­vertikalen, die Höhe der Zeitungsseite aufgreifenden Bild ab; entweder verdichtet sie einen Moment oder schlüsselt ihn in mehrere Phasen auf. Dank dieses ungewöhnlichen ­Formats spielen Ruppert & Mulot auch an ­ihren Wochenenden mit dem Raum und den Abläufen des Comics und damit mit unseren Lesegewohnheiten und Erwartungen. In erster Linie aber zelebrieren sie auch hier ihren unverwechselbaren Humor: Bissig, böse, grausam, aber zu intelligent, um je die Grenze zu plumpem Zynismus oder simpler Provokation zu überschreiten. Dass es in ­diesen Strips – auch wegen des Formats – oft um Abstürze geht, passt bestens in ihre Welt.

Christian Gasser

Ruppert & Mulot: “Soirée d’un faune”,
L’Association, 1 Seite 132×100 cm, EUR 14

Ruppert & Mulot: „Les week-ends de Ruppert & Mulot“,
Dupuis, 96 S., Hardcover, farbig, EUR 19

Jesse Jacobs: „Crawl Space“

Vögeln in der Maschine

Eine Waschmaschine im Keller eines biederen Vorortshäuschens als Schleuse in ein fantastisches Reich der leuchtenden Farben und abstrakten Fabel­wesen? Die Maschine steht in Daisys Haus, und als Erste nimmt Daisy ihre Freundin Jeanne-Claude mit auf eine Reise auf die ­andere Seite. Die beiden Freundinnen tauchen ein in den Kosmos aus leuchtenden Farben, mutieren selber zu bunten Abstraktionen, freunden sich mit Wesen an, die wie Teekännchen aussehen, geniessen Verwirrung, ­Schwindel und Leichtigkeit im Kopf und das langsame Herunterschweben, wenn sie wieder aus der Waschmaschine klettern. Aldous ­Huxleys Pforten der Wahrnehmung 2.0.? ­Metapher für erste Drogenerfahrungen, für den Versuch, sein Bewusstsein zu erweitern, für die Pubertät und die Suche nach einem ­eigenen Pfad durch eine eigene Welt? Esoterische Sinnsuche? All das schwingt in Jesse ­Jacobs wundersamem Crawl Space mit.
Die Waschmaschine wird zum Mittelpunkt der gelangweilten Vorortsteenager; aus dem intimen und behutsamen Erforschen ­einer faszinierenden Gegenwelt werden lärmige Parties; Paare vögeln in der Waschma­schine, andere besaufen sich und erbrechen in die ­Farbenwelt, wieder andere vermüllen sie und zerdeppern die sensiblen Teekännchen – und diese respektlos negativen Vibrationen wecken gefährliche dunkle Kräfte jenes ­Kosmos. Während Jeanne-Claude immer mehr Schwierigkeiten hat beim Heraus- und Herunterkommen und deshalb auf weitere Trips verzichtet, verliert sich Daisy immer tiefer in dieser psychedelischen Wunderwelt und verliert den Bezug zur Realität …
Crawl Space ist eine eigenartige Fantasie, in der nichts so ganz eindeutig ist. Eindeutig und offensichtlich ist jedoch der Rausch der Farben und Formen, dem sich der ameri­ka­ni­sche Zeichner Jesse Jacobs hingegeben hat, ein Rausch, der ebenso frei ist wie kontrolliert, ebenso inspiriert wie penibel durchgestaltet und der vor allem auf den geometrischen und ornamentalen Seiten auch im Betrachter so etwas wie eine bewusstseinserweiternde Wirkung erzielt – ohne dass man dafür den Kopf in die eigene Waschmaschine stecken müsste.

Christian Gasser

Jesse Jacobs: „Crawl Space“, aus dem ­Amerikanischen von Hannah Friebe.
Rotopol Press, 96 S., Softcover, farbig,
EUR 19 / CHF. 28.—

Terry Moore: „Motor Girl“

Gemeinsam gegen das Böse

Terry Moore, Autor der ­Serien Strangers in Paradise und Rachel Rising, hat sich schon immer als un­orthodoxer Feminist gezeigt. Das ist bei seinem neuesten Werk Motor Girl nicht anders: Die Protagonistin Sam, eine Ex-­Marine, traumatisiert aus dem Irak heimgekehrt, fristet nun ein ruhiges Leben auf einem Schrottplatz. Das ermöglicht ihr eine alte Dame, die den nicht sehr lukrativen Schrottplatz eigentlich nur wegen Sam behält, als eine Art Beschäftigungstherapie, auch wenn es dort – umgeben von staubiger Wüste – recht einsam ist. Doch so einsam wie es scheint, ist Sam gar nicht. Denn sie hat einen treuen, wenn auch ungewöhnlichen Begleiter, Mike der Gorilla, der Sam schon im Irak aus der einen oder anderen Patsche geholfen hat. Doch ausser Sam scheint niemand den Gorilla wahrzunehmen. Als Sam ein paar ­Geschäftsleute in die Quere kommen, weil sie den Schrottplatz kaufen wollen, muss sie ihre altbewährten Fähigkeiten auspacken und wieder in den Krieg ziehen.
Moores wilde Fantastik-Realismus-Mixtur, bei der er auch vor Ufos und Aliens nicht Halt macht, geht komplett in der durchaus politischen Story auf. Dabei spart der Autor nicht an überraschenden Wendungen, und es erscheint fast wie ein erzählerisches Wunder, dass am Ende dennoch keine Fragen offen­bleiben. Mehr noch – bei allen satirischen Übertreibungen sind am Ende grosse Gefühle garantiert. Terry Moores mit dünnem Strich in Schwarzweiss gezeichneter Comic strahlt in jedem Panel den Freigeist von Independent Comics aus. Ein nicht nur politisch super ­korrektes, sondern auch äusserst unterhaltsames Lesevergnügen.

Christian Meyer

Terry Moore: „Motor Girl“.
Schreiber & ­Leser. 216 S.,
Hardcover, s/w, EUR 24,95 / CHF 29.50

Séverine Gauthier, Clément Lefèvre: «Die ­entsetzliche Angst der Epiphanie Schreck»

Angst und Witz im Wunderland

Angst, obwohl von Natur aus nützlich, um Gefahren zu vermeiden, kann ­schrecklich sein, wenn sie so hartnäckig an einem klebt wie ein Schatten, der sich nicht abschütteln lässt, egal, wie sehr man sich ­dagegen wehrt. Dauert ein solcher Zustand an, dann kann Angst zur Krankheit mutieren, zu einer Phobie; einer beängstigenden Furcht vor einer Situation, einem ­Gegenstand, einer Handlung oder sogar vor dem eigenen Körper. Diesem ernsten Thema widmen sich die Franzosen Séverine Gauthier (Text) und Clément Lefèvre (Bild) in Die entsetzliche Angst der Epiphanie Schreck mit Witz, Pfiff und Humor. Auf den ersten Blick erscheint ihr Album niedlich wie ein Kinderbuch, doch entpuppt sich sein Inhalt als unterhaltsamer Comic, der die ­schlimmen Folgen von Angst zu keiner Zeit auf die leichte Schulter nimmt.
Epiphanie Schreck, acht Jahre alt, fürchtet nichts so sehr wie ihren Schatten – und ihre Angst wird immer grösser. Deswegen sucht das Mädchen Doktor Psyche auf. Auf einem ­abenteuerlichen Weg durch einen wilden Wald trifft Epiphanie auf wunderliche Gestalten. Alle wollen ihr helfen, alle scheitern. So weiss der Wegweiser nicht, wohin, weil er seine Ernsthaftigkeit verloren hat. Ebenso wenig kann sie ein Don-Quijote-artiger Ritter retten, und der Zirkus-Dompteur vermag zwar wilde Tiere zu bändigen, aber nicht Epiphanies Angst.
Erst ganz am Schluss steht Epiphanie auf und blickt ihrem Schatten direkt ins Gesicht, statt weiter zu fliehen. Gauthier und ­Lefèvre nutzen die Bildsprache einer surrealen Fabel, um den Heilungsprozess des krankhaft verängstigten Mädchens zu schildern. Wie in Alice im Wunderland und Lewis Carrolls literarischem Nonsens verkörpern die Figuren eher bestimmte Eigenschaften als echte Personen. Dazu gesellt sich ein Hauch von ­Pokémon: Wenn Epiphanie im finalen Showdown ihrem Schatten gegenübertritt, fühlt man sich an das Spiel erinnert, in dem man Taschenmonster fängt und trainiert. Die Fabel der Epiphanie auf eine Stufe mit Lewis ­Carrolls Klassiker zu stellen, wäre allerdings vermessen.
Das Grossartige an Gauthier und Lefèvres «Angst-Comic» ist, dass sie ihre Fabel mit ­einem Augenzwinkern erzählen und einem beim Lesen die Wahl lassen, ob man lieber die ernsten Seiten der Angst reflektieren oder sich einfach an der kauzigen Welt der Epiphanie Schreck erfreuen will.

Florian Meyer

Séverine Gauthier, Clément Lefèvre: «Die ­entsetzliche Angst der Epiphanie Schreck».
Splitter-Verlag, 96 S., Hardcover, farbig,
EUR 19,95 / CHF 33.—

Ed Brubaker / Sean Phillips: “My Heroes Have Always Been Junkies”

Junkie Totenmesse

Comic-Autor Ed Brubaker ist so etwas wie der Frank Miller des Marvel ­Verlags. Er erfand die Figur des ­maskierten Staatsanwalts Daredevil neu und hatte damit grossen Erfolg. Bis in die ­Mainstream-Medien schaffte es seine Geschichte über den Tod von Captain America. Der patriotische Held ist wieder zum Leben erweckt worden und Brubaker hat sich ­inzwischen mit Zeichner Sean Phillips zusammengetan und veröffentlicht seit Jahren sehr erfolgreiche Krimi-Serien wie Criminal, Fatale oder Sleeper. Beide Autoren verbindet eine Vorliebe für realistische, schonungslos ehrliche Geschichten, sei es in den Er­zählungen von Brubaker als auch in Phillips’ Zeichenstil.
Die aktuellste Zusammenarbeit trägt den wunderbaren Titel My Heroes Have Always been Junkies. Die junge Ellie, deren Mutter an einer Überdosis gestorben ist, hat eine allzu romantische Vorstellung von Drogen und ist besessen von Künstlern mit einer Vorliebe für Nadeln und Pillen, wie Vic Chesnutt oder Billie Holliday. Sie kennt Anekdoten zu Sartres oder Van Goghs Drogenerfahrungen. In der Entzugsklinik lernt sie den Dro­genabhängigen Skip kennen und obwohl sie weiss, dass sie auf ihn einen schlechten ­Einfluss ausüben wird, kann sie sich der Liebe für den jungen Mann nicht entziehen. ­Als drogensüchtige Bonnie & Clyde reissen sie aus, brechen in leerstehende Häuser ein und erleben ein kurzes, heftiges Liebesabenteuer. Bis zwei Männer auftauchen, die es auf Ellie abgesehen zu haben scheinen und das Mädchen von ihrer dunklen Ver­gangenheit eingeholt wird.
Auf dem Buchrücken wird die Zusammenarbeit von Brubaker und Phillips mit der von Scorsese und De Niro verglichen.
Das mag vielleicht annähernd auf ihre älteren Erfolgsserien zutreffen, My Heroes… hingegen ist, obschon eine solide Geschichte, kein Meisterwerk. Das Drama wird passend zu einem Krimi in schnellem Tempo erzählt, die Figuren und ihre Motive bleiben aber undurchsichtig. Einzig ihre Coolness dringt an die Oberfläche, auch dank des intensiven und ausdruckstarken Farbkonzepts von ­Phillips’ Sohn Jacob.

Giovanni Peduto

Ed Brubaker / Sean Phillips: “My Heroes Have Always Been Junkies”.
Image, ­Portland USA 2018,
72 S., Hardcover, farbig, $16.99

Maximilian Hillerzeder: „Maertens“

Des Rätsels Lösung

Seine Ambitionen hat er nicht sonderlich hoch­gesteckt – Maertens arbeitet in einem Burger-Laden. Das macht er jedoch sehr pflichtbewusst. Doch viel mehr soll es für ihn nicht sein. In seiner Freizeit guckt und liest er Krimis, und einer der Höhepunkte seines ­Lebens sind die Gewinne kniffliger Preisausschreiben. Entsprechend entgeistert reagiert er, als eines Tages nach Ladenschluss ein Gast mit der Bitte an ihn gelangt, ihm bei einem echten Kriminalfall zu helfen, seine Tochter sei entführt worden, und er, Sandberg, der Vater der verschwundenen Tochter, wende sich an Maertens wegen dessen Ruf als Rätsel-­Experte. Von der Theorie in die Praxis, vom Sofa ins echte Leben zu wechseln, versetzt Maertens in leichte Panik. Trotzdem widmet sich der gutherzige Rätselprofi dem Fall und findet alsbald sogar Spass daran. Allerdings wird das Ganze immer verwirrender und scheint – anders als die ausgedachten Rätsel, denen er sich sonst widmet – überhaupt nicht den Regeln der Logik zu folgen. Das gleiche gilt auch für Maximilian Hillerzeders ­Geschichte: Da lösen sich Figuren im geistigen Leerlauf des Arbeitsalltags auf, Billiglohn­arbeiter rennen als Kürbisse rum, im Call-Center arbeiten nur wie aus Ästen gewachsene Figuren, seine Kollegen im Burger-Laden ­haben Lauch- oder Konsolen-Köpfe. Hillerzeders absurdes Szenario und die kafkaeske ­Story stellen sich gegen die schnöde Ver­wertungslogik der Arbeitswelt. Und das mit einer Fantasie, die dieser grauen, öko­nomisierten Welt haushoch überlegen ist.

Christian Meyer-Pröpstl

Maximilian Hillerzeder: „Maertens“.
Jaja ­Verlag, 160 S.,
Softcover, farbig, EUR 18 / CHF 27.90

Typex: “Andy. A Factual Fairytale. Leben und Werk von Andy Warhol“

Andy Warhol hinter den Spiegeln

Was hätte der Mit­begründer der Pop Art vom ­wuchtigen Comic-Porträt des ­Holländers Typex ­
(Raymond Koot) gehalten? Vielleicht wären ihm die 562 Seiten zu wenig gewesen. Er, der in seinem Film Empire das Empire State Building während acht ­Stunden zeigte. Bestimmt aber hätten die mit silber belegten Seiten des Buches ein Lächeln auf Andy Warhols Gesicht gezaubert, erinnern sie doch an seine Rauminstallation Silberwolken. Vermutlich wäre das erste Kapitel von Andy: A Factual Fairytale zu grau und zu persönlich für den schüchternen, ­wortkargen Künstler gewesen, der nie viel über sich selbst preisgab. Doch grau und traurig muss die Kindheit in der Einwandererfamilie Varhola im US-amerikanische Pittsburgh ­gewesen sein. Nur Comics und die Erzählungen der Mutter aus den Karpaten brachten ein bisschen Farbe in seinen Alltag. Mit dem zunehmendem Erfolg des Protagonisten in der Werbebranche und in der Kunstwelt werden Typex’ Seiten immer wilder, so schrill wie Warhols exzessives Partyleben. Er übernimmt den jeweils für die Periode ­typischen Zeichenstil – psychedelische Flower-Power-Zeichnungen, Romance-Comics von DC oder Marvel, oder die bunten Sonntags-Comicstrips der 1930er-Jahre.
Typex hat fünf Jahre für das Buch recherchiert, gezeichnet und vor Ort mit Ver­wandten und Bekannten gesprochen. Die Stärke des auf Tatsachen basierenden Märchens ist die Mischung von dichtungsreicher Fiktion und biografischen Fakten (inklusive Info­boxen zu den wichtigsten Protagonisten). Es ist bezeichnend, dass der kleine „Andek“ zu Beginn in einem Traum-Dialog mit seinen liebsten Comic-Figuren wie der Romanfigur Alice in einem Spiegel verschwindet und den Weg des Erfolgs einschlägt. In denselben ­Spiegel wird er steigen, wenn er am Ende in seinem Krankenzimmer auf die allenblasen-Operation wartet, von der er nicht mehr ­aufwachen wird. Andy bietet sowohl unterhaltsamen Eskapismus als auch eine detailreiche, packende Biografie des Vermarktungsmeisters der Massenkultur und zeigt seine ­guten, aber auch seine schlechten Seiten. ­Dafür gibt es kein besseres Medium als den Comic, der Warhols Begriff von Kunst am besten ­verkörpert. Ja, Andy Warhol hätte an dieser Comic-Biografie Freude gehabt, obwohl er sie vermutlich nicht zu Ende gelesen hätte.

Giovanni Peduto

Typex: “Andy. A Factual Fairytale. Leben und Werk von Andy Warhol“.
Carlsen, ­Hamburg 2018, 562 S.,
Hardcover, ­farbig, EUR 48 / CHF 65.—

Hervé Bourhis, Brüno: „Black & Proud. Vom Blues zum Rap“

Say it loud

Auf kurzweilige Art und Weise erzählen Hervé ­Bourhis und Brüno in Black & Proud die Geschichte ­afroamerikanischer Musik, von den Ursprüngen des Jazz und Blues, über Rock’n’Roll und Funk bis hin zu aktuellem Rap, R&B und HipHop. Ab 1945 widmen die Autoren und Illustratoren jedem Jahr eine Doppelseite mit den jeweiligen musikalischen Ereignissen und ihren Protagonisten, mit ­Anekdoten und einer Übersicht des politischen Geschehens. Jeweils eine herausragende Ver­öffentlichung wird mit Plattencover präsentiert, dazu Illustrationen von weiteren ­Vertretern afroamerikanischer Musik. Rein assoziativ werden Ereignisse und Künstler gegenübergestellt, manchmal mit kurzen ­Comics, in ­denen von besonders eindrücklichen Episoden berichtet wird. Die beiden Musikliebhaber ­beweisen ein ausserordentlich gutes Händchen bei der subjektiven Auswahl ihrer Künstler, wenn man die Fülle an Musikern bedenkt. Grosse Namen dürfen nicht fehlen, wie zum Beispiel der Namensgeber für den Titel ihres Comics, James Brown, aber auch an ­Musiker abseits des Mainstreams wird ­erinnert. In Black & Proud gibt es viel zu entdecken, praktischerweise mit einer Playlist bei einem der grössten Streaming-Anbieter.
Die Publikation zeigt sowohl die Vielfalt und Diversität der afroamerikanischen Musik und ihrer Protagonisten, als auch ihren Wandel. In jeder Epoche gibt es Subgenres, ­Grenzüberschreitungen und Innovationen, die sich kaum oder gar nicht kategorisieren ­lassen. Auch die politischen Positionen spiegeln sich in der Musik wider, von dem ­klagend fragenden What’s going on von Marvin Gaye hin zu James Browns wütend stolzem I am black & I am proud. Gerade die afroamerikanische Musik ist stets auch im Kontext ­politischen und gesellschaftlichen Wandels zu verstehen.

Matthias Schneider

Hervé Bourhis, Brüno: „Black & Proud. Vom Blues zum Rap“,
Avant Verlag, 176 S., ­
Hardcover, vierfarbig, EUR 30 / CHF 39.90

Igort: „Berichte aus Japan: Ein Zeichner auf Wanderschaft“

Auf Wanderschaft in Japan

Als westlicher Comic­Zeichner in Japan eine Stelle zu bekommen, ist so gut wie unmöglich. Dem ­Italiener Igort wurde diese Ehre zuteil – über zehn Jahre lang arbeitete er für japanische Verlage. Seine Eindrücke und Erfahrungen hielt er im ersten Band seiner Berichte aus Japan: Eine Reise ins Reich der ­Zeichen fest. Im Jahr 2015 kehrte er anlässlich einer Ausstellung nach Tokio zurück; be­unruhigt und bestürzt über den Wandel der Stadt begab er sich auf die Suche nach dem Japan, das er ursprünglich kennengelernt hatte und zu dem er bis heute eine tiefe Verbun­denheit empfindet. Seine Erlebnisse und Eindrücke bilden die Basis für den jetzt vor­liegenden zweiten Band seiner Berichte, der wie der erste kein reiner Comic ist, vielmehr ­handelt es sich um ein ausgestaltetes Reisetagebuch. Mit einer Mischung aus Zeichnungen, Texten und Fotos schildert Igort die verschiedensten Begebenheiten und Begegnungen und verbindet diese auch immer wieder mit Momentaufnahmen und persönlichen ­Reflexionen. Dabei gewährt er dem Leser tiefe Einblicke in die japanische Gesellschaft, ihre Kunst, Literatur und ihre Mythen, die bis heute einen grossen Einfluss auf die Kultur Japans ausüben.
Zeichnerisch bewegt sich Igort hier – ganz selbstverständlich und mit traumwandle­rischer Sicherheit – komplett auf japanischem Terrain. Dabei variiert er unterschiedliche ­Stile und Techniken aus verschiedenen Epochen, indem er sie dem jeweils Geschilderten anpasst. So sind einige der Bilder von tra­ditioneller japanischer Kunst beeinflusst und beziehen sich zum Beispiel auf Maler und Holzschnittkünstler wie Hokusai und Hiroshige, während andere den etailreichtum und die feinen, klaren Linien des Manga-Grossmeisters Jiro Taniguchi aufnehmen. Taniguchi war ein guter Freund Igorts, ihm ist das Buch gewidmet und mit einem Besuch bei ihm ­endet es auch. Es war das letzte Mal, dass sich die beiden vor Taniguchis Tod getroffen ­haben.
Igorts Bilder sind allesamt faszinierend, einige sind schlichtweg atemberaubend. Man kann in ihnen versinken und dabei die ­Gedanken schweifen lassen. Die kleinen ­Geschichten sind oft berührend, wie etwa jene von der Telefonzelle des Windes, mittels derer Hinterbliebene mit verstorbenen Angehörigen sprechen können. Dabei strahlen Texte wie Bilder eine geradezu Zen-artige Ruhe aus. Jiro Taniguchi hätte das vermutlich sehr gefallen.

Jan Westenfelder
Igort: „Berichte aus Japan: Ein Zeichner auf Wanderschaft“.
Reprodukt, 184 S., ­
farbig, Euro 24 / CHF 35.—

Julie Doucet: “Dirty Plotte: The Complete Julie Doucet by Julie Doucet”

Die Rückeroberung des Körpers

1999 beendete Julie ­Doucet nach mehr als einem ­Jahrzehnt ihre Karriere als Comic-Zeichnerin. „Ich ­hatte das Gefühl, alles gesagt zu haben. Ich fühlte mich gefangen in den Comic-­Seiten“, erklärte sie später in einem Interview, ­„ausserdem war ich es leid, ständig nur mit Männern zu tun zu haben.“ Viele ihrer ­Comics wenden sich gegen die männliche ­Dominanz in der Comic-Szene und gegen das sexistische Bild der Frau im Alltag, indem sie die Gewalt solcher Bilder beschreiben und sie gleichzeitig zerschlagen.
Ihre Alltagsstories, in der Tradition des amerikanischen Comic-Underground der 1960er- und 1970er-Jahre, weisen oft über diesen Alltag hinaus – der übervolle Tampon der Protagonistin, die an Doucet selbst angelehnt, jedoch nicht mit ihr identisch ist, kann das Blut nicht mehr zurückhalten, ­wodurch ganze Städte überflutet werden; sie hat sexuelle Fantasien mit Elefanten oder ­erschlägt, kastriert und zerlegt Liebhaber. Dennoch hat man selten das Gefühl, dass eine reale Gefahr von der Protagonistin ausgeht, vielmehr wirkt sie selbst, die so freimütig all ihre Träume, Sehsüchte und Fantasien ­offenlegt, permanent gefährdet. Doucets ­Arbeiten pendeln zwischen der Aggressivität, die aus den Bildern spricht, und der Ver­einzelung und Entfremdung, von der die Geschichten erzählen, der Verletzlichkeit, die ihre Offenheit mit sich bringt. Daneben sind die Comics von Doucet durchzogen von einer unterschwelligen Bedrohung, die sich gegen die Hauptfigur richtet, nicht nur in Form ­sexualisierter Männerblicke und Zuschreibungen, sondern auch eingefangen durch einen Zeichenstil, der ihr zunehmend den Raum streitig macht, so vollgestopft und überladen wirken die Panels auf den ersten Blick. Konzentriert man sich auf die Details, wird der Gesamteindruck der Bedrohlichkeit durch die abgebildeten Gegenstände noch verstärkt: es finden sich Scheren, Messer, ­zerbrochene Flaschen sowie Müll. Insbesondere in ihrem Schlüsselwerk, dem zunächst in ­mehreren Teilen in Dirty Plotte erschienenen My New York Diary, hat sie diese Ästhetik ­perfektioniert. Vielleicht hatte sie mit diesem 1998 beendeten Comic tatsächlich alles gesagt – über ihr Leben als Comic-Zeichnerin und über Männer, die ihr den Erfolg nicht gönnen, sie ausnutzen und kontrollieren, weswegen sie im Jahr darauf mit der Welt des ­Comics gebrochen hat. Sie verlegte sich auf Lithografien, Siebdrucke, Collagen und ­Gedichte, die sie aus vorgefundenem Material zusammenbastelt. Ihr Verlag Drawn & ­Quarterly hat nun ihr Comic-Gesamtwerk, ­ergänzt um Interviews, Grafiken und Texte befreundeter Zeichner, in zwei opulenten ­Bänden im Schuber publiziert.

Jan Engelmann

Julie Doucet: “Dirty Plotte: The Complete Julie Doucet by Julie Doucet”.
Drawn & Quarterly 2018, 596 S.,
zwei Bände im ­Schuber, $ 120

Liana Finck: „Passing for Human: A Graphic Memoir“

Schattenjagd

Anfangs letzten Jahres war es so weit – endlich ­eröffnete auch ich einen ­Instagram-Account, damit ich auf dem Laufenden bin, womit sich Künst­ler*in­nen und Zeichner*innen beschäftigen, die ihre Arbeiten dort veröffentlichen.
Eine glückliche Entscheidung, denn dadurch stiess ich auf Liana Finck, die es sich ­offenbar zur Aufgabe gemacht hat, den traditionellen Cartoon ins 21. Jahrhundert zu ­führen. Das Genre der Cartoons, also Ein-Bild-Witze, wie man sie aus dem New Yorker oder Esquire kennt, mit berühmten Vertretern wie Charles Addams, Peter Arno oder Gary ­Larson, wird in Fincks Händen zum perfekten Medium, um die Ängste unserer Zeit zu ­illustrieren – heimliche, bittersüsse Einblicke in die Seelen verunsicherter Millennials, die sich mit ihren Selbstzweifeln und Frustrationen herumschlagen und auf der Suche sind nach Beziehungen mit Tiefgang und dem Sinn des Lebens. Fincks Witzzeichnungen sind einfach – fast schon grob – gezeichnet und absolut brillant.
Deshalb war ich entzückt, als ich entdeckte, dass Finck bereits eine dicke Graphic Novel veröffentlicht hat, Passing for Human. Ich erwartete ein Werk mit demselben ­boshaften Unterton wie in ihren Cartoons, war aber überrascht, auf anspruchsvolle, ­tiefgründige und hervorragend erzählte ­Comics zu stossen. Passing for Human – mit dem Untertitel A Graphic Memoir – ist eine Autobiographie, deren Stimmung an Laurence Sterns Tristram Shandy erinnert: In der ersten Hälfte des Buches, die sich vor allem um Fincks Eltern und deren schwierige Lebens­umstände dreht, scheint die Erzählerin die Welt aus einem leicht verschobenen ­Blickwinkel zu betrachten, jedes Kapitel beginnt mit der Überschrift «First Chapter». Oberflächlich gesehen, scheint sich das Buch mit gewohnten Comic-Themen wie Aussen­seitertum und komplizierten Liebesbe­ziehungen zu ­beschäftigen, aber im Kern geht es um tiefere emo­tionale und psychologische Probleme – um die Suche nach sich selbst, um Selbstfindung und Selbstzweifel und nicht ­zuletzt auch darum, Kreativität und Anders­artigkeit unter einen Hut zu bringen.
Unterdessen habe ich das Buch bereits dreimal gelesen, es ist ein stilles Comic-­Meisterwerk, das ebenso vertraut wie absolut neuartig wirkt. Finck zeichnet in einem freien, manchmal kratzigen Stil (eine Mischung aus R.O. Blechman und Edward Gorey), aber die Struktur ihrer Geschichten ist dicht und kontrolliert, auch dann, wenn er an magischen Realismus gemahnt. Es sind weniger Me­moiren als eine Art mutige Beichte, durchaus ­tröstend für ähnlich denkende Leser*innen: Wer bin ich? Warum bin ich anders? Warum habe ich den Drang, Dinge zu erschaffen? Wie und wann werde ich das Glück finden? Schwierige Fragen, aber Finck beantwortet sie selbstsicher: «Ich zeichne nicht, weil ich
gerne zeichne. Ich zeichne nicht, weil ich gut zeichnen kann. Ich zeichne, weil ich einst ­etwas verloren habe … und nur durch das Zeichnen werde ich es wiederfinden.»

Mark David Nevins

Liana Finck: „Passing for Human: A Graphic Memoir“,
Random House, 2018, 240 S.,
fast durchgehend schwarzweiss, $ 28

Marion Fayolle: „Die schwebenden Liebenden“

Das Leben ist ein Reigen

Die gerade einmal ­30-jäh­rige Französin Marion ­Fayolle überrascht und ­fasziniert mit einer ­erfrischenden Comic-Erzählung, die auf verschiedenen Ebenen ungewöhnliche und neue Wege geht. Fayolle hat für Die schwebenden Liebenden ein sich wiederholendes ­Erzählkonzept entwickelt, welches sie jedoch bei Bedarf mit einer Leichtigkeit aufbricht, dass es eine Freude ist, sich ihrem Bilder- und Liebesreigen hinzugeben. Nichts ist, wie es scheint. Realismus und Surrealismus geben sich ein Stelldichein, und die surrealen ­Elemente demaskieren die vermeintliche ­Realität. Die schwebenden Liebenden handelt von einem notorischen Fremdgeher, der sich als Opfer inszeniert. Gefühle haben bei ihm nur eine kurze Halbwertszeit und ewige Liebe gibt es sowieso nicht, so dass die ­aktuelle Liebelei bloss für einen Augenblick genügt. Es ist gleichzeitig amüsant und tragisch zu ­sehen, wie der vermeintliche ­Regisseur des Liebes­reigens sich selbst sieht und inszeniert. Ein besonderer Kunstgriff gelingt Fayolle in ihrem Comic, indem sie ihren Protagonisten am Ende seine Affären als Theaterstück aufführen lässt. Dabei sind die Frauen die Schauspielerinnen, denen er seine Worte in den Mund legt, die Hauptrolle gehört natürlich ihm selbst. Schon das Cover des Comics ver­deutlicht die bigotte Welt des Protagonisten. Wird er begehrt, wendet er sich ab; wendet sich wiederum die Frau ab, dreht er ihr den Rücken zu. Fayolle vermischt Elemente des Tanzes, des Theaters und des Comics zu ­einer der interessantesten Publikationen des letzten Jahres und besticht darüber hinaus mit Illustrationen von höchster Qualität. Dabei lässt sie ihre Figuren rezitieren, tanzen und singen, man vergisst zeitweise, dass man ein Buch in den Händen hält, und sich nicht in einem französischen Musikfilm ­befindet.

Matthias Schneider

Marion Fayolle: „Die schwebenden Liebenden“,
Avant Verlag, 256 S.,
Softcover, vierfarbig, Euro 35 / CHF 42.80

Kurz und Gut

CHRISTIAN MEYER-PRÖPSTL

Nach Nomaden hat Jan Vismann mit Hutta wieder ein ästhetisch aussergewöhnliches Werk vorgelegt: Quietschbunt und extrem detailreich verschränken sich Story und ­Bilder in vielen visuellen Extravaganzen ganz vortrefflich. Erzählt wird die Geschichte von Jan und seinem langweiligen Alltag. Sein Freund Locke hingegen will nur Abenteuer. Als Jans Stelle in der Fabrik wegrationalisiert wird, tut sich eine Chance auf. Und am Ende erfahren die Leser*innen sogar, wer dieser merkwürdige Locke ist …
Mit Familienjuwelen, ursprünglich als Webcomic erschienen, erzählen Joris Bas ­Backer und Nettmann von den Abenteuern der Kindererziehung. Ähnliches kennt man, doch ist dieses Buch aus mehreren Gründen speziell: Zum einen wechseln die beiden Elternteile sich als Erzähler ab, und das nicht nur perspektivisch, sondern auch in sehr unterschiedlichem Stil. ­
Während Nettmann mit Collagen und Super­helden-Identitäten das Familienleben ­stilisiert, erzählt Bas Backer konventionell in Strips. Seine Geschichte ist aber anders als die vieler Eltern, weil er Anna hiess, als er das Kind bekommen hatte, inzwischen aber als Joris zweiter erziehender Vater ist. Zwischen nächtlichen Koliken und vollgeschissenen Windeln also auch jede Menge Gender-­Trouble.

Jan Vismann: „Hutta“.
Jaja Verlag, 88 S.,
Softcover, farbig, EUR 14 / CHF 21.90

Joris Bas Backer / Nettmann: „Familien­juwelen“.
Jaja Verlag, 128 S.,
Hardcover, ­farbig, EUR 19 / CHF 28.90

Enki Bilal galt in den 70er- und 80er-Jahren neben Künstlern wie Moebius, Jacques Tardi oder Schuiten/Peeters als Erneuerer des Comics. Seine Politparabeln aus jener Zeit sind klug, fantastisch und schwarz­humorig. Daran schliesst die Science-Fiction-Trilogie Alexander ­Nikopol an, die in einem faschistischen Frankreich angesiedelt ist. Die Geschäfte der Unsterblichen, der erste Band (1980), erinnert noch sehr an Bilals Politthriller der 70er-Jahre, die weiteren Bände Die Frau in der Zukunft von ’86 und Äquatorkälte von ’93 verweisen stilistisch bereits auf Bilals Spätwerk, das sich u.a. durch weniger Text und Action, dafür mehr philosophische Exkurse auszeichnet.

Enki Bilal: „Alexander Nikopol – Gesamtausgabe“.
Carlsen, 184 S.,
Hard­cover, ­farbig, EUR 40 / CHF 55.90

Anfang der 60er-Jahre hat Harper Lee in ­ihrem einzigen Roman Wer die Nachtigall stört … ihre Kindheitserinnerungen aus dem rassistischen Alabama der 30er-Jahre veröffentlicht: Scout und Jem wachsen ­unbeschwert als Kinder des alleinerziehenden Anwalts Atticus auf, bis ein Gerichtsfall ­den Rassismus aus den Bürgern der Kleinstadt kitzelt. Fred Fordham bleibt mit seiner ­Adaption eng am Original und lenkt nicht mit extravagantem Stil von der textreichen ­Geschichte ab, sondern stellt die soliden ­Zeichnungen ganz in den Dienst des Lese­flusses.

Harper Lee / Fred Fordham: „Wer die ­Nachtigall stört …“.
Rowohlt, 288 S.,
Hardcover, farbig, EUR 20 / CHF 30.90

Super Mutant Magic Academy von Jillian Tamaki (Ein Sommer am See) ist eine nerdige College-Serie, die als Onepager online erschien und nun als dicker Sam­melband vorliegt. Neben kleinen Zaubereien steht vor allem der Teenager-Alltag im ­Vordergrund. Skurril und intellektuell werden die Nöte der Schüler*innen durch­leuchtet, wobei nicht immer jeder Gag ­zündet. Natürlich wähnt man sich die halbe Zeit auf Hogwarts, aber auch andere ­Fantasy-Klassiker fliessen ein.

Jillian Tamaki: „Super Mutant Magic ­Academy“. Reprodukt, 280 S., Soft­cover, s/w, EUR 24 / CHF 35.90 Nicolas Mahler hat seine langjährige Freude an japanischen Monsterfilmen wieder­entdeckt, als er über ein Buch des Special-­Effects-Meisters Eiji Tsuburaya stolperte. Die Fotos im Buch, mit Studioaufnahmen von Monster-Darstellern in Gummikostümen in der Teepause, haben schliesslich zu Das Ritual geführt, wo er den Tricktechniker als peniblen Handwerker darstellt, der kaum ­Interesse an der Handlung, und schon gar nicht an einer wie auch immer gearteten ‚Message‘ hat. Ein surrealer Einblick in einen L’art-pour-l’art-Kosmos, der sicher auch viel über den Zeichner erzählt.
Nicolas Mahler: „Das Ritual“.
Reprodukt, 64 S.,
Hardcover, s/w, EUR 14 / CHF 21.90

Die von Editions Glénat angestossene Reihe mit ungewöhnlichen Abenteuern der Disney-Figuren Micky und Donald, erzählt von ­renommierten Autoren, geht in die nächste Runde. Petrossi und Dab’s erzählen in ­Mickys Reisen durch die Zeit von unfreiwilligen Zeitreisen. Micky wird mit jedem Schlag auf den Kopf unwillkürlich in eine andere Zeit versetzt; gut, dass immerhin sein Handy funktioniert. Lewis Trondheim und Keramidas sind mit Donald’s ­Happiest Adventures bereits zum zweiten Mal dabei. Und wie im Erstling Mickey’s ­Craziest Adventures tun die Autoren so, als ­hätten sie einen Fundus verschollener ­fleckiger Hefte gefunden. Inhaltlich geht es um nichts weniger als das Geheimnis des Glücks, und die Suche danach verschlägt ­Donald ausgerechnet in eine Diktatur. ­Donald für ­einmal philosophisch und politisch!

Petrossi / Dab’s: Mickys Reisen durch die Zeit“.
Egmont Comic Collection, 56 S.,
Hardcover, farbig, EUR 29 / CHF 42.90

Lewis Trondheim / Keramidas: „Donald’s ­Happiest Adventures“.
Egmont Comic ­Collection, 48 S.,
Hardcover, farbig, EUR 29 / CHF 42.90

Biografien

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Luigi Olivadoti
wurde 1983 im schweizerischen Grabs geboren, wuchs im Fürstentum Liechtenstein auf, ­studierte ­Kommunikationsdesign in Zürich und visuelle ­Kommunikation an der Hochschule Luzern.
Er lebt als freischaffender ­Illustrator in Zürich und hat zahlreiche Aus­­zeichnungen gewonnen, zuletzt den IBK-Förderpreis.
www.luigiolivadoti.li
Instagram.com/luigiolivadoti/

 

Samuel Schuhmacher
*1993 lebt als freischaffender Comic-Zeichner und Maler im schweizerischen ­Winterthur. Er wuchs in einem klassischen Schweizer Einfamilienhausquartier auf und konnte als Kind nur einschlafen, wenn er dem Kabarettisten Emil lauschte. Später studierte er Illustration in Luzern, heute erfindet er Geschichten, die man eigentlich gar nicht mehr erfinden muss, „weil sie überall sind“, wie er sagt. Um sich die langweilige Zeichenarbeit etwas ­spannender zu gestalten, ist er stets an einer Auslotung des Begriffs Comic interessiert. Beispiele dafür sind ­seine scrollbare Bildergeschichte Sackgass und sein Instagram-Comic-Adventskalender von 2018.
samuelschuhmacher.ch
Instagram.com/samuel_schuhmacher/
sackgasscomic.ch

 

Simone Baumann
geboren 1997 „im gar unschönen Horgen“, wie sie sagt, lebt zurzeit in Zürich, ist ­Autodidaktin und publiziert schon seit etwas mehr als drei Jahren im ­Eigen­verlag ihr Comic-Heft 2067, immer mit autobio­graphischen, absurden ­Comics. Zu ihrer Arbeits­weise sagt sie: „Ich sitze an einem schrägen Pult, ­zeichne, und höre die immer gleichen CDs. Ich freue mich schon mächtig auf meine Pension und das Jahr 2067, wenn ich tot unter den Zeich­nungstisch fallen ­werde, während Nick Cave weiter aus dem CD-Player jammert.“
simonefloriane.tumblr.com
Instagram.com/simoneflorianecomix

 

Timothy Hofmann
lebt in Lugano, wo er 1987 geboren ist. Seit frühester Jugend faszinierten ihn das Geschichtenerzählen und Zeichnen und schon bald erwachte ­seine Leidenschaft für Comics, Karikaturen sowie zeitgenössische Kunst. Diese unterschiedlichen Aus­drucksformen versucht er unter einen Hut zu bringen. Er sagt dazu: «Die Unterschiede zwischen einem ­Gemälde und einer Installation erzählen ebenso eine Geschichte, wie es satirische Comics oder Animationsfilme tun. In meinen Werken spiele ich mit den ­Beziehungen zwischen zwei verschiedenen Disziplinen, um Identität zu hinterfragen und ausserhalb ­vorge­gebener Pfade etwas Originäres zu schaffen».
creattivati.ch/timothy-hofmann

 

Philip Schaufelberger
Philip Schaufelberger, Jahrgang 1981, freischaffender ­Illustrator in Bern, zeichnet und illustriert für allerlei ­Medien und arbeitet an sequenziellen Geschichten, für die er unter anderem den Gender und Diversity Preis und das Comic-Werkjahr der Deutschschweizer Städte ­erhielt. www.schaufelberger-illustration.ch
Instagram.com/das_lip

 

Martin Panchaud
1982 in Genf geboren, lebt heute in Zürich. Comic-Studium in Saxon, Wallis, Grafik­studium in Genf. Nach Abschluss seiner Studiengänge entwickelte er seinen ureigenen abstrakten Erzählstil, der von Infografik und Comics beeinflusst ist, und wendet diesen in Reportagen, Kurzgeschichten und fast endlos langen Erzählungen an, wie z.B. in 22nd ­Victory (100 X 400 cm) und swanh.net (27 × 12 300 cm). 2018 erhielt er die Auszeichnung Comic Förderpreis der Deutschschweizer Städte. Zurzeit arbeitet er an seiner Graphic Novel La couleur des choses.
www.martinpanchaud.ch
Instagram.com/martinpanchaud

Lika Nüssli
1973 geboren und wuchs im Restaurant Schäfli in Gossau, Kanton St.Gallen, auf. Nach ­einer Ausbildung zur Textildesignerin studierte sie ­Illustration an der Hochschule für Design + Kunst in ­Luzern. Seit 2003 arbeitet sie als freischaffende ­Künstlerin in St.Gallen. Sie nennt sich «Grenzgängerin», zeichnet, malt, illustriert und hat in den letzten Jahren das Performance-Zeichnen für sich entdeckt und ­weiterentwickelt – ihre grossformatigen Zeichnungen mutieren zu begehbaren Rauminstallationen, immer in Bezug zur Situation vor Ort. Zeichnen bedeutet für sie «ein Statement abgeben. Themen wie Politik und Gesellschaft ebenso aufnehmen wie meine persönliche Geschichte, und sie so fassbar machen.»
Seit 2017 lädt Lika Nüssli jeden Monat einmal zum gemeinsamen Zeichnen ins Kunstmuseum ­St.Gallen ein, sie unterrichtet ebenda an der Schule für Gestaltung, gibt Workshops im In- und Ausland und ist Mitherausgeberin von Strapazin.
Im März 2018 ist ihre erste Graphic Novel Vergiss dich nicht im Verlag Vexer erschienen.
www.likanuessli.ch
Instagram.com/likanuessli