No: 109

  • Christophe Badoux

EDITORIAL

READING VISUALS


QUESTIONNAIRE / Interviews

DAS GESCHRIEBENE WORT

von Wolfgang Bortlik

Schiebezangen, rote Pferde und Trichter im Mondlicht

Was kommt zuerst, das Zeichnen oder das Erzählen?

Diese Frage stellt das neue STRAPAZIN an verschiedene Comic-Künstler. Diese Frage lässt sich selbstverständlich auch an das geschriebene Wort, an die Literatur, an die Philosophie stellen: Was ist zuerst, Text oder Bild? Schwierig zu entscheiden! Was kommt zuerst? Das Huhn oder das Ei? Entsteht der Text aus dem Bild oder schafft der Text das Bild? Ist das Bild der Fünfer und der Text das Weggli? Apfel oder Ei? Der Anfang oder das Ende? Hinz oder Kunz? Die Vorder- oder die Rückseite? Himmel oder Hölle? Hat das Bild einen Namen? Bildet der Text ein Bild?

Hier jedenfalls ein paar Beispiele einer sehr bildbezogenen Literatur. Ror Wolf, einigen vielleicht nur als genialer Fußballdichter bekannt, schreibt seit Jahrzehnten an einem einzigartigen Werk, in dem die Sprache gewaltige Bilder erzeugt. Es hat gar keinen Sinn, das irgendwie beschreiben zu wollen, also lassen wir den Schriftsteller selbst sprechen:

Ich sah damals Fische kalt durch den Wald wandern, auf der Suche nach Flüssen. Vereiste Enten fielen vom Himmel, ich sah eine fleischrote Schnauzenspitze aus dem Erdboden ragen, ich sah abgehäutete Hunde, davonspringend, haarlose nackte Hunde, stumm, ich sah tote Tiere, vom Meer ausgeworfen, fett quellend in allen Pfützen, ich sah glühende Steppen und hörte das Rascheln von langen Schlangen, und als ich einschlief im Winter, kroch mir der Frost in die Ohren. Dann ging ich weiter dahin bis zum Meer.

Das schreibt Ror Wolf in seinem neuen Buch „Die Vorzüge der Dunkelheit“, er (oder der Verlag) nennt es einen Horrorroman bzw. „neunundzwanzig Versuche, die Welt zu verschlingen“. Ich würde diesen Text als Beispiel dafür nehmen, wie man mit dem Schreiben Bilder malt. Außerdem macht Ror Wolf seit vielen Jahren schon ziemlich surrealistische Collagen aus alten wissenschaftlichen Illustrationen, mit denen er seine Texte garniert und so Bilder direkt neben das Textbild stellt.

Diese Welt bestand, wie ich später in einem meiner Aufsätze beschrieben habe, wirklich aus einer Reihe sehr schöner Worte, die mir immer dann einfielen, wenn ich sie nötig hatte. Und ich war ganz sicher, ich zweifelte keinen Moment daran, dass, wenn mir das Wort SCHUHLADEN einfallen würde, ich unmittelbar darauf an einem Schuhladen vorbeikommen würde, oder wenn ich das Wort SCHIEBEZANGE auf die Zunge nähme, würde unverzüglich eine Zange vom Tisch fallen und auf dem Boden liegen.

Ror Wolfs Texte haben neben dem Bildnerischen auch noch eine Melodie, eine unglaubliche Sprachmelodie. Probiert es aus, indem ihr euch die Texte laut vorlest.

Wenn ein Bild viel Geld wert ist, dann handelt es sich zumeist um Kunst:

„Betrachtet man die Wertentwicklung bzw. Wertsteigerung von Kunstwerken in den letzten 40 Jahren, so lässt sich Folgendes festhalten: Kaum eine andere Anlageart hat es vermocht, ein einmal eingesetztes Kapital so nachhaltig zu vervielfachen. Der Wertzuwachs bei Kunstwerken ist konstant und er bringt auch dann noch eine erstaunliche Rendite, wenn andere Anlageprodukte aufgrund wirtschaftlicher Krisenmomente hohe Verluste schreiben.“ Dies gibt eine Galerie in ihrem Kundenprospekt zu bedenken und das erinnert unsereins sofort an die Krise des Kapitalismus, an Betrug und Korruption. Dieser sogenannte Wertzuwachs, der moralisch schon nicht ganz einwandfrei ist, verleitet ja praktisch zum Betrug. Eine bestechende verbrecherische Idee: Wieso nicht Gemälde, also Bilder fälschen? Das heißt, die Bilder werden eigentlich nicht gefälscht. Hat ja keinen Sinn, ein berühmtes Gemälde nachzumalen. Gefälscht wird eigentlich der Maler, dem man faktisch ein Bild unterschiebt, das er nicht gemalt hat, ein Bild, das nun aber unter seinem Namen für viel Geld verkauft werden kann. Am besten nimmt der Fälscher einen nicht so bekannten Künstler, denn für die wirklich großen Namen gibt es zu viele Spezialisten und ihr Werk ist wissenschaftlich gesichtet und gesichert. Eine gute Wahl für Fälscher wäre beispielsweise der rheinische Expressionist Heinrich Campendonck (Krefeld, 1889 – Amsterdam, 1957). Er ist einer der weniger bekannten Mitglieder der berühmten Gruppe „Der blaue Reiter“, aber seine Ölgemälde werden auf dem Kunstmarkt doch für eine gute Million Euro angeboten.

Der Fälscher malt also mit dem klassischen Pinselschwung ein Bild mit dem Titel „Rotes Bild mit Pferden“, das er mit Campendonck signiert. Des Weiteren fälscht er auf der Rückseite des Bildes einen Zettel, der das Gemälde als Besitz einer bekannten deutschen Kunstgalerie der Zwanzigerjahre ausweist. Dann holt er noch eine Expertise ein, um die Echtheit des Bildes zu bestätigen. Möglicherweise wird für dieses Gutachten ein größerer Betrag bezahlt, oder es handelt sich um eine Gefälligkeit. Schwupps, „Rotes Bild mit Pferden“ wird für 2,4 Millionen Euro in einem Kölner Auktionshaus verkauft.

So geschehen im November 2006. Erst vor kurzem ist der Bildfälscher, der ansonsten erfolglose Kunstmaler Wolfgang Beltracchi aufgeflogen. In ihrem Buch „Falsche Bilder, echtes Geld“ enthüllen die Kulturjournalisten Stefan Koldehoff und Tobias Timm die kriminellen Machenschaften des Beltracchi-Clans und seiner Verbündeten. Ein Krimi, bei dem es nicht nur um Gier und Geld als Motiv geht, sondern auch um eine Branche, die von der Marge her dem Waffenhandel oder der Prostitution sehr nahe steht.

Ein ganz spezielles Bild ist die Landkarte, die Darstellung der Erdoberfläche oder wenigstens eines Stücks davon. Eine Landkarte ist das Endprodukt eines mehr oder weniger wissenschaftlichen und schriftlichen Prozesses wie jener der Vermessung, Berechnung etc. Das Ergebnis ist dann das Bild, das seinerseits wieder die Grundlage zu imaginären Texten ist. Heute, in den Zeiten von Google Earth, ist der Zauber der Landkarte ein bisschen verflogen, die Imagination beim Betrachten einer Landkarte wird durch dieses absolut realistische Google Arsch zerstört. Heute sehen die Karten alle gleich aus und vor allem sind die weißen Flecken, das Unentdeckte, endgültig verschwunden. Die Welt ist klein. Doch früher – vor der modernen Kartographie – spielten Phantasie, Aberglauben, Furcht, Wunsch und Traum eine beträchtliche Rolle bei der Vermessung der Welt. Da waren den Karten sozusagen keine Grenzen gesetzt. Jetzt gibt es ein sehr schönes Buch, in dem kuriose Karten aus allen Zeiten präsentiert werden. Der Belgier Frank Jacobs zeigt dort ziemlich skurrile und auch komische Machwerke wie Propagandakarten, schwere geographische Irrtümer (Kalifornien als Insel), Karten von Phantasieländern (The Land of Oz, somewhere over the rainbow), Länderumrisse als Karikaturen, die ganze Welt auf einem dreiblättrigen Kleeblatt, die Topographie der Zuneigung (La carte de tendre) und anderes mehr. All diese Landkarten erzählen die unglaublichsten Geschichten, wenn man nur genau hinschaut.

Seit jeher weiß man, dass man Bilder auch aus Schrift machen kann. Quasi der Apfel und das Ei! Irgendwie ist das doch die größte Kunst, das Spiel. Im Jahr 1905 schreibt Christian Morgenstern ein kleines Gedicht und stellt es so dar:

Zwei Trichter wandeln durch die Nacht.
Durch ihres Rumpfs verengten Schacht

fließt weißes Mondlicht

still und heiter

auf ihren

Waldweg

u.s.

w.

Das ist eine perfekte Synthese aus Bild und Text. Diese Ideogramme (Figurengedichte) gab es immer schon, es bietet sich ja an, mit den Worten und Buchstaben zu spielen. Die Sprache stellt sich selbst dar, Lyrik und Prosa benutzen das Visuelle der Sprache, Buchstaben, Laute, Symbole etc. Der Franzose nennt das Calligramme, und Guillaume Apollinaire war ein großer Liebhaber derselben. Heute heißt dergleichen oft konkrete Poesie. Große Vertreter dieser Literarturgattung sind Eugen Gomringer, Friedrich Achleitner, Franz Mon usw.

Und manchmal kommt dieses Spiel mit der Typographie auch in längeren Texten vor, beispielsweise im neuen Roman von Wolf Haas. Der ist gerade erschienen und das gesamte Feuilleton kriegt wieder die Motten. Ich diesmal nicht. Klar macht das Haas leidlich originell, seine Helden in potentiellen Monologen reden zu lassen. Das hat er von amerikanischen Sitcoms gelernt. Warum er dann aber typographische Sperenzchen macht, bleibt unklar. Die sind nur manchmal einigermaßen passend. Da ist nicht allzu viel inhaltlicher oder ästhetischer Wille dahinter, höchstens vielleicht ein bisschen Provokation. „Schaut mal her, was sich der Haas wieder alles traut!“ Na ja, bei seinen Buchverkäufen kann er ruhig diese Chuzpe haben, und der Verlag geht selbstverständlich auf alle Wünsche ein.

Dementsprechend heißt der neue Roman von Haas auch „Verteidigung der Missionarsstellung“. Er handelt jedenfalls von einem halbindianischen Bayern, der sich immer verliebt, wenn eine der hysterischen, Verzeihung, historischen Seuchen der Menschheit ausbricht: Rinderwahnsinn, Vogelgrippe, Schweinegrippe. Zwischendurch gibt Haas Autobiographisches von sich. Wie gesagt: na ja.

Womit wir wieder am Anfang unserer literarischen Recherche sind: Haas oder Wolf? Huhn oder Ei? Himmel oder Hölle?

Playlist:
  • Ror Wolf: „Die Vorzüge der Dunkelheit“ (Horrorroman).
  • Schöffling & Co., 272 S., Hardcover,
  • Euro 24.95 / sFr. 35.40
  • Stefan Koldehoff/Tobias Timm: „Falsche Bilder. Echtes Geld.“ (Der Fälschungscoup des Jahrhunderts – und wer alles daran verdiente).
  • Galiani Berlin, 275 S., Hardcover,
  • Euro 19.99 / sFr. 28.90
  • Frank Jacobs: „Seltsame Karten“ (Ein Atlas kartographischer Kuriositäten).
  • Liebeskind, 124 S., Hardcover,
  • Euro 29.80 / sFr. 38.90
  • Wolf Haas: „Verteidigung der Missionarsstellung“.
  • Hoffmann und Campe, 224 S., Hardcover,
  • Euro 19.90 / sFr. 31.90

DAS MAGAZIN

Art Spiegelman: MetaMaus + Co-Mix (A1/C2)

MetaComics

Als „Geister von Geistern auf dem zerbrechlichen Fundament der Erinnerung“ hat Art Spiegelman „Maus“ bezeichnet, den seit seinem Erscheinen in Buchform 1986 wohl einflussreichsten Comic überhaupt. Seine Bedeutung wird auch daran ersichtlich, dass Spiegelman – nach dem Pulitzer-Preis wieder einmal „als erster Comiczeichner überhaupt“ – im September 2012 mit dem Siegfried-Unseld-Preis ausgezeichnet wurde. Zeitgleich wurde er mit einer Ausstellung im Centre Pompidou und im Kölner Museum Ludwig unter dem Titel „Co-Mix. Eine Retrospektive von Comics, Zeichnungen und übrigem Gekritzel“ geehrt sowie mit einem begleitenden, gleichnamigen Katalog, der einen sehr guten Einblick in das Frühwerk und die Vorstudien zu „Maus“ gibt. Zudem erschien die deutsche Übersetzung von „MetaMaus“, ein Kommentarband zu „Maus“, der so manche literaturhistorische Edition alt aussehen lässt. Neben einer beigelegten DVD – als digitale Version des gesamten „Maus“-Comics, versehen mit Vorskizzen, Querverweisen und Hyperlinks – enthält „MetaMaus“ im Anhang (auf der DVD sogar als Audiodateien) auch Interviews mit Arts Vater Wladek, die einem so einiges über die Entstehung des „Maus“-Comics verraten. Kern des Buches sind jedoch umfangreiche, sich auf über 200 Seiten erstreckende Gespräche, welche die Literaturwissenschaftlerin Hillary Chute über mehrere Jahre hinweg mit Spiegelman geführt hat. Darin gibt er nicht nur über die schwierige Entstehungsgeschichte von „Maus“ und die damit verbundenen psychischen Probleme, seine Einflüsse, Vorbilder und den Umgang mit Kritik Auskunft, sondern legt auch sehr detailliert seine theoretischen Überlegungen zur Ästhetik des Comics dar, die mit zum pointiertesten gehören, was dazu bislang formuliert worden ist. Es geht um die Bedeutung von Panelformen und -formaten, Erzählstrategien, Comics im Museum oder das Verhältnis von historischer Wahrheit und deren Abbildung im Medium Comic. Aber es geht auch um die Last des Erfolges, „Maus“ scheine über ihm zu ragen, wie einst sein Vater es tat, schreibt Spiegelman einleitend. Im Interview beschreibt er, wie ihm „Maus“ wiederholt „enteignet“ wurde, von Protestdemonstrationen in Polen (wegen der Darstellung von Polen als Schweinen) über Zensurdebatten vor dem Hintergrund des Hakenkreuzes auf dem Cover bis hin zu Aneignungen durch Holocaust-Leugner aufgrund der Tatsache, dass Wladek in seinen Erinnerungen manchmal „falsch liegt“, so dass „MetaMaus“ fast wie ein Befreiungsschlag wirkt, sich von all diesen Zuschreibungen zu lösen. Im Gespräch mit Chute sagt Spiegelman, der Druck des Erfolges habe ihn lange davor zurückschrecken lassen, sich auf das Erzählen einer neuen langen Geschichte einzulassen, wenn auch einige Ideen noch immer in seinem Kopf herumspuken. Es ist also zu hoffen, dass „MetaMaus“ auf diesen legendären Comic-Meister wirklich die ersehnte befreiende Wirkung hat, um ein weiteres Großwerk schaffen zu können.

Jonas Engelmann

  • Art Spiegelman: „MetaMaus“.
  • S. Fischer, 302 S., Hardcover inkl. DVD, s/w und farbig,
  • Euro 34.– / sFr. 45.90
  • Art Spiegelman: „Co-Mix. A Retrospective of Comics, Graphics, and Scraps /  Une Rétrospective de Bandes Dessinées, Graphisme et Débris Divers“.
  • Flammarion, 104 S., Hardcover, farbig,
  • Euro 30.- / sFr. 59.-

Valerio Bindi / MP5: Der Frevel am Altar der Heiligen Klara (A4)

Sünder

Giovanni ist der Sohn des Camorrista Don Antonio. Nach einigen Jahren im Knast fährt er für seinen Vater Lohntüten aus und wird ab und zu auch als Auftragskiller eingesetzt. Er wird als brutaler, abgestumpfter Charakter gezeichnet und hat im Gefängnis mit anderen Gefangenen zusammen Michele, den Sohn eines anderen Clanbosses, brutal umgebracht. Einzig eine Person kratzt an dieser Fassade: Salvatore – Giovannis Begleiter auf seinen Arbeitstouren. Beim Gedanken an ihn wird selbst die Sprache des aus der Perspektive Giovannis erzählten Comics poetisch: „Wir sind umschlungen, ein einziger Jesus Christus, der Frevel am Altar der Heiligen Klara. Er auf mir, ich bin sein Kreuz, ich bin die Gnade, die er erfleht, ich bin die Gnade, die ich ihm gewähre.“ Giovanni führt ein Doppelleben: Einerseits ist er verheiratet und hat mit seiner Frau Mariasole einen Sohn, andererseits hat er eine heimliche Affäre mit Salvatore und Sex mit fremden Männern, die er jeweils an einem bestimmten Ort – ein Parkplatz in Agnano – trifft. Zwei Welten, die nicht zusammenpassen; die Welt des organisierten Verbrechens, der Camorra und der Gewalt und die Welt seines homosexuellen Begehrens.
Der Comic inszeniert die Notwendigkeit, dieses Begehren vor der Familie zu verstecken, als einen der Gründe für die ausgelebte Gewalt im „normalen“ Leben dieses Kriminellen; Brutalität und unterdrückte Triebe werden oftmals in einen Kontext gesetzt, etwa im Mord im Gefängnis, dem eine Vergewaltigung und die sexuelle Erniedrigung des Opfers vorausgehen.
Giovannis Vater hatte schön länger etwas vom Doppelleben geahnt. Beim einzigen Aufeinandertreffen von Vater und Sohn, bei dem die Darstellung Don Antonios einem Dämon ähnelt, sagt dieser ihm zum Abschied, „dass wir Menschen sind und keine Tiere. Ich soll mir von Mariasole helfen lassen.“ Nachdem der Vater in seinem Argwohn bestätigt worden ist und sich mit seiner Schwiegertochter bespricht, gerät Giovannis Leben endgültig in eine Sackgasse und der Kreis schließt sich zum Auftakt des Comics, wo es heißt: „Diese Geschichte beginnt und endet auf den Klippen von Mergellina.“ Für Giovanni kann es kein Entkommen geben, das Ende ist von Anfang an besiegelt.
Valerio Bindi und MP5 erzählen das schwierige Leben Giovannis in reduzierten Schwarzweiß-Zeichnungen, die spiegelbildlich für die zwei Welten gelesen werden können, zwischen denen sich Giovanni bewegen muss, die keine Zwischentöne erlauben, keine Fluchtwege und keine Versöhnung.

Jonas Engelmann

  • Valerio Bindi / MP5: „Der Frevel am Altar der Heiligen Klara“.
  • Schreiber und Leser, 184 S., Softcover, s/w,
  • Euro 18.80 / sFr. 28.90

Manu Larcenet: Blast 1: Masse (C4)

Blast – die düstere Seite der Erleuchtung

Schaurig ist Manu Larcenets neuer grafischer Roman „Blast“ – und schön ist er auch. Getragen wird er von Sätzen wie diesem: «Stille ist eine Erfindung der Poesie, nicht der Wirklichkeit.» Große Worte sind das sicherlich. Doch drücken sie eine kluge Lebensweisheit aus oder stellen sie nur törichtes Gerede dar?
Mit seiner Dichte an tiefgründigen Aussagen und vielsagenden Bildern fasziniert, berauscht und verstört «Blast» von der ersten bis zur letzten Seite. Von der Rahmenhandlung her gesehen, könnte man «Blast» als Kriminalgeschichte auffassen. Doch selbst wenn Polza Mancini – die Hauptfigur der Geschichte – wie ein Dozent für theoretische Philosophie an einer Kunsthochschule spricht, so stammen seine Sätze aus keiner Vorlesung, sondern aus einem Verhör. Polza Mancini ist dick, stinkt, säuft – vor allem aber sitzt er im Gefängnis. Angelastet wird ihm, dass er eine Frau, Carole Oudinot, lebensgefährlich verletzt haben soll. Mancinis philosophisch und poetisch verdichtetes Reden erfüllt somit den Zweck, der Polizei die Namen, Daten, Orte und Details zu liefern, mit denen sie ihn der Tat überführen können.
Aufgeklärt wird der Fall im ersten von vier oder fünf Büchern nicht. Dafür erfährt man, was Polza Mancini dazu verleitet, sein bürgerliches Leben aufzugeben. Es ist der «Blast». An und für sich bezeichnet der «Blast» die Druckwelle einer Explosion. Für Mancini jedoch geht es um mehr: Wenn der «Blast» eintrifft, dann sieht und erlebt er die Welt, wie sie wirklich ist; nämlich herrlich und unbelastet von jeglicher Moral.
«Blast» ist dunkler und trauriger als Manu Larcenets Gesellschaftssatire «Der alltägliche Kampf» und erinnert stark an die düsteren Comics, mit denen Larcenet zwischen 1997 und 2005 im eigenen Verlag (Les Rêveurs) seine Karriere lancierte. So vielseitig und kunstfertig war er freilich noch nie: Mit einem feinen Auge für die Wirkung symbolischer Formen unterbricht Larcenet immer wieder die Handlung mit seitenfüllenden Stimmungsbildern. Auch scheut er sich nicht, seine Protagonisten zu karikieren oder Polza Mancinis ernst geschilderte Erleuchtungen mit bunten Kinderzeichnungen zu unterlaufen. In diesen Momenten zeigt sich bei Manu Larcenet immer wieder die wilde Anarchie des Punk, den er aber mit seinem subtilen Humor und einer Prise akademischer Gelehrsamkeit zu einem Ganzen abrundet.

Florian Meyer

  • Manu Larcenet: “Blast 1: Masse”.
  • Reprodukt, 80 S., Hardcover, farbig,
  • Euro 29.- / sFr. 39.90

Jakob Hinrichs: Arthur Schnitzlers Traumnovelle (B1)

Let‘s Swing

Keine Frage, Jakob Hinrichs gehört aktuell zu den interessantesten deutschen Illustratoren. Seine Holzschnitt- und Siebdruck-inspirierten Grafiken finden sich in vielen namhaften internationalen Print- und Onlinemedien. Für die Edition Büchergilde hat der in Berlin lebende Künstler nun auch auf das Zugpferd „Graphic Novel“ gesetzt – und scheitert leider dabei.
Es liegt nicht allein daran, dass sich Hinrichs der Herausforderung stellt, einen Klassiker der Literaturgeschichte zu illustrieren, nämlich Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“, die 1925 erstmals veröffentlicht wurde. Die Geschichte handelt von dem Wiener Arzt Fridolin und seiner Ehefrau Albertine und von ihren sonderbaren und erotisch aufgeladenen Erlebnissen einer Nacht sowie des darauffolgenden Tages. An der Adaption des Stoffes hat sich bereits der Regisseur Stanley Kubrick die Zähne ausgebissen, denn der Text zeichnet sich durch eine spezielle Atmosphäre aus, die zwischen somnambuler Stimmung, surrealistischen Momenten und erotischer Spannung changiert. Kongenial schildert Schnitzler, wie das Ehepaar ihre bisher verborgenen Begierden entdeckt, die aus ihrem Unbewussten hervortreten. So verwundert es nicht, dass Schnitzlers Zeitgenosse Sigmund Freud an ihn schrieb: „So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition – eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe.“
Am Ende des Buches wird dem Leser regelrecht vor Augen geführt, wie schwierig es ist, Schnitzlers Erzählung in Bilder zu fassen. Denn dort ist der Originaltext abgedruckt, der in seiner eindringlichen Schlichtheit den Leser vom ersten Moment an in seinen Bann zieht. Hinrichs Stärke liegt in den Illustrationen, die einzeln und für sich betrachtet zwar ausdrucksstark und markant sind. In einer sequentiellen Aufreihung und auf einer Seite arrangiert, treten die Bilder jedoch in Konkurrenz, was den Lesefluss extrem stört. Zudem erschließt sich einem die retrofuturistische Ästhetik nicht, die der Illustrator für die Novelle ausgewählt hat, da sie die eigentliche Botschaft der textlichen Vorlage überdeckt. Weniger wäre mehr gewesen, wenn Hinrichs den Text zum Beispiel mit Einzelbildern illustriert hätte. Doch Hinrichs ist nicht der erste Illustrator, dem dies widerfährt. In diese Falle sind bereits mehrere seiner Kollegen getreten, die sich an einem Comic versucht haben (oder an dem, was man heutzutage aus Marketinggründen als „Graphic Novel“ bezeichnet). Darüber hinaus sollte man sich vielleicht damit abfinden, dass Schnitzlers „Traumnovelle“ zu den Texten gehört, die man in Bildern weder erzählen sollte noch kann.

Matthias Schneider

  • Jakob Hinrichs: „Arthur Schnitzlers Traumnovelle“.
  • Edition Büchergilde, 160 S., Hardcover, farbig,
  • Euro 24.95 / sFr. 37.90

Adrien Thiot-Rader & Ludovic Rio: „Lignes Noires (B4)

Paris zum Aufklappen

Dass „Lignes Noires“ kein gewöhnlicher Comic ist, wird einem klar, sobald man den kleinen, querformatigen Band in den Händen hält. Dann nämlich stellt man fest, dass er zwei Mal aufgeklappt werden muss, einmal nach links und einmal nach rechts. Vor einem befinden sich jetzt nebeneinander drei 24-seitige Heftchen, die von unten nach oben aufgeschlagen werden. Der Clou dabei: Jedes Heft erzählt eine Geschichte, die mit den jeweils anderen beiden Geschichten zusammenhängt. Alle Geschichten spielen sich zeitgleich ab, und an einigen Stellen kommt es zu Überschneidungen. Diese sind jedes Mal anders dargestellt, je nach Perspektive der jeweiligen Protagonisten.
Inhaltlich ist „Lignes Noires“ ein Krimi, der in Paris spielt. Von der Handlung sei nur so viel verraten: Ein Mann mit einer Tasche unbekannten Inhalts muss dringend aus Paris fliehen. Bevor er die Stadt verlassen kann, wird er jedoch von einem Paar aufgespürt, das die Tasche in seinen Besitz bringen will. Der Mann flüchtet, und es kommt zu einer Verfolgungsjagd mit tragischem Ausgang. Vieles wird nicht erzählt oder nur angedeutet, so dass der Leser immer wieder selbst Details zusammensetzen muss. Wird der Zusammenhang zwischen den ersten beiden Geschichten schnell klar, tappt man bei der dritten eine Weile im Dunkeln, bis man merkt, wie sie mit den anderen beiden verknüpft ist.
Die grau schattierten Schwarzweiß-Zeichnungen, in denen das Schwarz meist dominiert, lassen dabei eine wunderbare Film-Noir-Atmosphäre entstehen. Immer wieder fühlt man sich auch an den typischen Stil des französischen Comic-Zeichners Marc-Antoine Mathieu erinnert, und implizit verweisen die Autoren sogar im Text auf ihn: Drei der Protagonisten heißen nämlich Marc, Antoine und Mathieu. Wer Paris ein bisschen kennt, wird sich außerdem über die authentischen Außenansichten freuen.
„Lignes Noires“ ist aber eben nicht nur und auch nicht vorrangig aufgrund der Handlung oder der Bilder spannend. Das wirklich Außergewöhnliche ist die Umsetzung als Comic-Band, die ein Spiel mit Formen darstellt: auf inhaltlicher Ebene mit der Form der Erzählung, auf physischer mit der Form des Buches.

Jan Westenfelder

  • Adrien Thiot-Rader & Ludovic Rio: „Lignes Noires”.
  • Éditions Polystyrène, 72 S., Softcover, s/w,
  • Euro 16.–

Bill: Krrpk 1. Krrpk doit mourir (C1)

Fremde Welten

„Krrpk“ ist eine neue Serie des französischen Zeichners Bill, der mit richtigem Namen Benoit Boucher heißt. Mit Gobi (Baptiste Gaubert) hat er schon die „Zblu Cops“ und mit Jerry Frissen die Serie „Lucha Libre“ erschaffen. „Krrpk“ ist seine erste Arbeit in Eigenregie.
Krrpk ist ein kleiner Außerirdischer aus dem Volk der Bleearg, der soeben seinen Heimatplaneten verlassen hat, um sein Glück auf dem Planeten Grook zu versuchen. Er ist so liebenswert wie naiv und sicher auch nicht der Hellste. Umso mehr leidet er von Anfang an unter den unfreundlichen, arroganten und oft auch rassistischen Bewohnern des Planeten, den Grookos. Krrpk schlägt sich trotzdem durch, so gut er kann, und versucht, sich den unwirtlichen Verhältnissen anzupassen. Er kämpft mit der Bürokratie, wohnt in einem Loch, muss immer wieder die Avancen seiner Vermieterin abwehren, gerät an einen falschen Freund, mit dem er all sein Geld verjubelt, geht Betrügern auf den Leim und bekommt nur die übelsten Jobs angeboten. Obwohl ihm niemand hilft und jeder versucht, irgendwie von ihm und seiner Gutmütigkeit zu profitieren, erträgt er all das mit bewundernswerter Geduld und unerschütterlichem Optimismus.
Nur damit kein falscher Eindruck entsteht: Es handelt sich hier keinesfalls um eine Leidensgeschichte, und die Erzählung kommt auch vordergründig überhaupt nicht moralisch daher. Vielmehr werden die einzelnen Episoden mit viel – oft bösem – Witz erzählt und unterhalten einen vorzüglich. Trotzdem ist „Krrpk“ auch eine Parabel, die Fremdenfeindlichkeit, Vorurteile gegenüber Andersartigem und Ausbeutung Schwächerer thematisiert. Vieles erinnert einen dabei an unsere Welt, und einige der geschilderten Episoden haben die meisten wohl auch schon so oder ähnlich erlebt. Vielleicht hatte Bill auch einen Migranten vor Augen, der sich weit weg von zu Hause ein besseres Leben erhofft und versucht, sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden und zu integrieren. Außergewöhnlich ist hier, wie er es schafft, diese Thematik mit so viel, wenn auch oft schwarzem oder skurrilem, Humor zu versehen. Dieser Kontrast kommt auch in den konturlosen Zeichnungen und ihren knallbunten Farben zum Tragen, die an Kinderbücher erinnern und einen gewollt harmlosen Rahmen für den ernsten Hintergrund bilden. So ist Bill mit „Krrpk“ ein Solo-Debüt gelungen, das großen Spaß macht und beste, intelligent gemachte Unterhaltung bietet.

Jan Westenfelder

  • Bill: „Krrpk 1. Krrpk doit mourir”.
  • Shampooing, 126 S., Softcover, farbig,
  • Euro 12.50

Caleb Melby, JESS3: Steves Welt. Der Weg zur iPhilosophie (B3)

Steve Jobs – oder was der Apple-Computer dem Zen verdankt

Eigentlich ist „Steves Welt. Der Weg zur iPhilosophie“ eine gelungene und spannende Graphic Novel. Wie der Texter Caleb Melby und die Zeichner Noah Smith und James Callahan die zen-buddhistischen Ursprünge von Apples Geschäfts- und Design-Philosophie aus der Beziehung des Apple-Gründers Steve Jobs zu dem Zen-Meister Kobun Chino herausschälen und in wenigen Episoden vortragen, das hat schon Klasse. Nur eben ist „Steves Welt“ überhaupt kein Comic, sondern ein professionell umgesetztes Kommunikationsprojekt, in dem eines der meistgelesenen Wirtschaftsmagazine Amerikas mit einer Kreativagentur zusammenspannt, die fast jede namhafte Marke aus der Social Media-, Sport- und Pop-Szene zu ihrem Kundenstamm zählt – außer Apple … Zwar sind gewisse Anleihen beim zeitgenössischen amerikanischen Comic-Roman in «Steves Welt» unverkennbar, dennoch basiert «Steves Welt» kaum auf einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Medium Comic und wohl noch weniger auf einem künstlerischen Impuls.
«Wir gingen viele unterschiedliche Stile durch, bevor wir uns auf eine gemeinsame Richtung einigten», sagt der künstlerische Leiter des Projekts, Christian Day, in dem – nach Hollywood-Mustern aufgebauten – «Making of»-Anhang. Das sind nicht die Worte eines Comic-Autors, hier spricht das Marketing, das Märkte in Segmente zerschneidet, um Zielgruppen mit vordefinierten Verkaufsbotschaften zu bedienen.
In dieser Denkweise ist eine bestimmte Art des Zeichnens und Erzählens kein Wert an sich, sondern eine jederzeit abwählbare Technik, die man auswechselt – sobald sich der Geschmack jener, die man erreichen will, ändert. In ebendiesem Sinn ist «Steves Welt» kein Comic, sondern einfach jene Form der Visualisierung, die dem Projektteam am besten geeignet schien, um Steve Jobs’ Auffassung von einem ansprechenden, den Absatz unterstützenden Design darzustellen. Lesenswert ist das Ganze, wie gesagt, trotz allem.

Florian Meyer

  • Caleb Melby, JESS3: “Steves Welt. Der Weg zur iPhilosophie”.
  • Hoffmann und Campe, 80 S., Softcover, farbig,
  • Euro 17.99 / sFr. 29.80

Weitere Informationen zu „Steves Welt“ (engl. „The Zen of Steve Jobs“) und seiner Entstehung finden sich im Blog des Forbes-Journalisten Caleb Melby sowie auf der Website der Kreativagentur JESS3.

Cyril Pedrosa: Portugal (A3)

Wo findet die Hochzeit statt?

Hat Cyril Pedrosa mit seinem endlosen Selbstfindungstrip sogar seinen deutschen Verleger eingelullt? Anders lässt sich die peinliche Fehlinformation auf dem edlen Hardcover-Umschlag mit Halbleinen-Rücken, Simon Muchat besuche die Hochzeit einer Cousine in Portugal, kaum erklären. Eine Hochzeit findet in „Portugal“ tatsächlich statt, ausgiebige und ermüdende 85 Seiten lang, aber in Frankreich. Das titelgebende Land bildet den geographischen Rahmen für die beiden anderen, die Hochzeit einrahmenden Kapitel: Zunächst Simons Besuch eines portugiesischen Comic-Festivals, dann seine Spurensuche bei seinen portugiesischen Verwandten.
Eigentlich verspricht das doppelte Thema von „Portugal“ einiges: Der Comic-Autor Simon Muchat steckt in einer Schaffens-, Lebens- und Identitätskrise. Diese hofft er zu bewältigen, indem er sich dem verdrängten portugiesischen Hintergrund seiner Familiengeschichte stellt – sein Großvater Abel floh vor Armut und Diktatur nach Frankreich – und damit seinen eigenen portugiesischen Wurzeln.
Diese Versprechen werden jedoch nur zum Teil eingelöst. 250 großformatige Seiten sind zu viel für den Stoff bzw. das, was Pedrosa daraus macht. Simons Sinnsuche mäandert und dümpelt vor sich hin, Pedrosa verliert sich in geschwätzigen Abschweifungen und spätestens, wenn man den Eindruck hat, die Geschichte drehe sich im Kreis, und nicht mehr nachvollziehen kann, worum es eigentlich geht, verliert man das Interesse und die Geduld.
Das ist umso ärgerlicher, als Cyril Pedrosa nicht ohne Talent ist. Der 1972 geborene Franzose (mit portugiesischen Wurzeln) kann durchaus erzählen, er kann Dialoge schreiben, und er ist ein eleganter und vielseitiger Zeichner. Wie zuvor „Drei Schatten“ und „Auto-Bio“ scheitert aber auch „Portugal“ an einer gewissen Selbstgefälligkeit, vor allem aber am Fehlen von erzählerischer Stringenz und womöglich auch inhaltlicher Substanz. Man hätte Cyril Pedrosa einen Co-Autor zur Seite gewünscht oder einen unnachgiebigen Lektor. Dann hätte aus Simons Sinnsuche eine auch für den Leser Sinn machende Lektüre werden können.

Christian Gasser

  • Cyril Pedrosa: „Portugal“.
  • Reprodukt, 264 S., Hardcover, farbig,
  • Euro 39.– / sFr. 52.50

Zito, Trov, Weiser, Maybury: D.O.G.S. of Mars (C3)

Von Hunden und Marsmenschen

Die Mars-Station „International Mars Base Bowie“ beherbergt eine Menschenkolonie, die damit beauftragt ist, aus dem unfreundlichen Planeten eine neue Heimat für die Erdbewohner zu machen. Das sogenannte „Terraforming“-Projekt wird von einer Militäreinheit namens „Division of Global Survey“ (D.O.G.S.) geleitet. Doch die Mission wird schon bald eine Nebensache in diesem Sci-Fi-Comic und der New-Frontier-Traum verwandelt sich in einen Albtraum. Ein blutrünstiges, außerirdisches Monster hat sich in der Kolonie eingenistet und macht den neuen Besetzern das Leben schwer. Wer jetzt an Ridley Scotts „Alien“ denkt, denkt richtig. Alle Komponenten des Science-Fiction-Klassikers von 1979 sind vorhanden: Menschen an einem begrenzten und abgelegenen Ort (wo sie niemand schreien hört), ein außerirdisches Wesen, das menschliche Körper als Wirt für die Fortpflanzung missbraucht, Waffen, viel Blut. Es macht Spaß, für einmal die futuristische Horrorgeschichte auf gedruckten Seiten zu sehen. Obwohl Tony Trovs, Johnny Zitos und Christian Wesiers Plot nicht viel hergibt (vielleicht gerade, weil drei verschiedene Leute daran gearbeitet haben), die Spannungen zwischen den ums Überleben kämpfenden Protagonisten ist dennoch unterhaltend. Der Aufbau und die Sequenzen haben oft filmische Eigenschaften. Vor allem attraktiv sind die Zeichnungen des US-Amerikaners Paul Mayburys, die halb von Mangas, halb von französischen Zeichnern inspiriert zu sein scheinen. Die Bilder sind – passend zum kolonialisierten Planeten – in einem konstanten Rotton gezeichnet. Mit dem Fortschreiten der Geschichte wird immer klarer, dass die Überlebenschancen gegen null sinken. Diese Aussichtslosigkeit drückt sich auch in den Zeichnungen aus, die immer unübersichtlicher und unleserlicher werden. Ob vom Künstler gewollt oder nicht, sie erschweren das Lesen. Der Comic wurde ursprünglich als E-Book vom amerikanischen Anbieter digitaler Comics „ComiXology“ in den Handel gebracht und ist nun – nach bescheidenem Erfolg – auch in Papierform erhältlich.

Giovanni Peduto

  • Zito, Trov, Weiser, Maybury: „D.O.G.S. of Mars“.
  • Image, Berkeley, 120 S., Softcover/E-Book, farbig,
  • $ 6.99

Michael Cho: Back Alleys and Urban Landscapes (B2)

Comic-Street-View

Der Kanadier/Koreaner Michael Cho hat als eigentlicher Comic-Zeichner noch wenig vorzuweisen. Abgesehen von ein paar wenigen kurzen Geschichten (z.B. in der Anthologie „Best American Comics“ oder einer Kinder-Krimi-Serie) arbeitet er hauptsächlich als Illustrator. Aufgefallen ist er mir durch die Gestaltung eines Buchcovers in der Penguin-Classics-Serie (Literaturklassiker des englischen Penguin-Verlags mit von Comic-Zeichnern gestalteten Covers). Darauf sieht man die Eigenheiten von Chos Stil sofort: gute Farbkombinationen und ein Retro-Stil, der an amerikanische Cartoonisten aus den 1950/60ern erinnert. Es ist dieser cartoonhafte Stil, der eher an einen Comic-Zeichner als einen Illustrator denken lässt. Cho verbindet die beiden Künste gekonnt. In „Back Alleys and Urban Landscapes“ wagt sich Cho noch nicht an eine ausgedehnte Comic-Geschichte heran, sondern präsentiert – wie es der Titel sagt – urbane Landschaften seiner Umgebung in Toronto. Wirklich urban sind die Bilder nicht, da es sich meist um Hinterhöfe mit kleinen Backsteinhäusern handelt. Cho, dem Landschaften und Gebäude lange nur als sekundäres „Bühnenbild“ für seine Figuren dienten, hat seine Übungen für Landschaftszeichnungen seit 2006 bis heute nun in diesem Buch versammelt. Menschen kommen hier nicht vor. Die Protagonisten sind kleine Seitenstraßen, Häuser, Zäune, Telefonmasten, überfüllte Abfalleimer und Bäume. Beim Durchblättern erkennt man die Veränderung seines Stils im Laufe der Jahre: von den gröberen, mit Filzstift gezeichneten düsteren Nachtaufnahmen zu den farbenfrohen und klaren Gouache-Zeichnungen. Die menschenleeren Seitengassen wirken gespenstig und leider auch leblos. Leblos, weil es auf den stark symmetrisch angeordneten Bildern wenig zu entdecken gibt, und man darum das Buch in nur kurzer Zeit durchgeblättert hat. Auf den ersten Blick wirken die Bilder sehr schön, aber schon bald merkt man, dass nicht viel dahintersteckt. Dass man mit urbanen Städtelandschaften mehr machen kann, haben Künstler wie Paul Madonna (Strapazin Nr. 88) oder der Schweizer Grrrr (Strapazin Nr. 85) bewiesen. Einzig aus Chos Gabe, gute Farbkombinationen zu kreieren, könnte man noch etwas lernen.

Giovanni Peduto

  • Michael Cho: „Back Alleys and Urban Landscapes“.
  • Drawn and Quarterly, 80 S., Softcover, farbig,
  • $ 19.95

Hannes Binder, Giuseppe Zironi: Antonio Ligabue. Von der Qual eines Künstlerlebens (A2)

Italiens Van Gogh

Antonio Ligabue gilt als der bedeutendste Vertreter der italienischen „Art Brut“. Der Schweizer Schabekarton-Spezialist Hannes Binder und der italienische Autor Giuseppe Zironi erweisen mit der illustrierten Biografie „Antonio Ligabue. Von der Qual eines Künstlerlebens“ dem größtenteils in Vergessenheit geratenen Künstleraußenseiter ihre Ehre. 1899 in der Schweiz geboren, wird Ligabue mit 18 Jahren in eine psychiatrische Anstalt zwangseingeliefert, und ein paar Jahre später aufgrund von Tätlichkeiten gegenüber seiner Pflegemutter in das Land seines Vaters nach Italien ausgewiesen. In der Emiglia Romana zieht sich Ligabue in die Wälder zurück, lebt dort in einer Hütte und malt wie ein Besessener. Ligabue ist ein Getriebener, der an seinen Versuchen, sich in die Gesellschaft zu integrieren, stets scheitert. Der Maler Marino Mazzacurati entdeckt das Talent des Ausnahmekünstlers und unterstützt ihn, lädt ihn in sein Atelier ein und macht ihn mit Kunstsammlern bekannt. Doch auch Mazzacurati verzweifelt an Ligabues Unberechenbarkeit, ihre Freundschaft zerbricht. Als Ligabue 1961 seine erste große Ausstellung hat, erlangt er als „italienischer Van Gogh“ nationale Berühmtheit. Mit dem plötzlichen Ruhm und Geld ist Ligabue jedoch völlig überfordert, er stirbt 1965 in einem Armenhaus.
Binder und Zironi bringen dem Leser die außergewöhnliche Biographie Ligabues, die von extremen Höhen und Tiefen geprägt ist, äußerst nahe. Binder hat für die Bildebene ausdrucksstarke, zum Teil surrealistische Schabekartonbilder geschaffen, die Zironis Text illustrieren. Während der Text eine objektive narrative Erzählebene einnimmt, versuchen die Bilder die subjektiven Eindrücke des Künstlers Ligabue zu vermitteln. Kein Wunder also, dass diese zwei „Erzählstile“ nicht harmonisch ineinander übergehen, sondern – im Gegenteil – dem Leser eher sperrig und brüchig erscheinen. Ob von dem Autoren-Zeichner-Gespann gewollt oder ungewollt, es ist wahrscheinlich die passendste Möglichkeit, das innere Zerwürfnis des Künstlers Ligabue mit seiner Außenwelt darzustellen. Dem Künstler nicht unähnlich stolpert man durch seine Biographie, eckt an, stößt sich und verzweifelt an dem sich stetig wiederholenden Scheitern an gesellschaftlichen Konventionen. Die geistige Umnachtung ist Ligabues Fluch und Flucht zugleich, wie Binder und Zironi eindrücklich vermitteln.

Matthias Schneider

  • Hannes Binder, Giuseppe Zironi: „Antonio Ligabue. Von der Qual eines Künstlerlebens“.
  • Jacoby & Stuart, 152 S., Softcover, s/w,
  • Euro 29.- / sFr 39.90

Kurz und Gut

von Christian Meyer

Craig Thompson ist mittlerweile durch seine Werke „Blankets“ und „Habibi“ weithin bekannt. Sein nun erstmals auf Deutsch erschienenes Debüt „Mach‘s gut, Chunky Rice“ ist wie „Blankets“ autobiographisch inspiriert, auch wenn die Hauptfigur eine Schildkröte ist. Es geht um Enttäuschung, Trennung, Abschied und den Schritt in die große, weite Welt. Thompson erzählt in wilden Linien und befremdlichen surrealen Szenarien von elementaren Gefühlen – traurig und schön zugleich.

  • Craig Thompson: „Mach‘s gut, Chunky Rice“.
  • Reprodukt, 128 S., Softcover, s/w, Euro 16.- / sFr. 23.40

Marzena Sowa wurde als Kind „Marzi“ genannt. Jetzt hat sie ihrem Freund Sylvain Savoia ihre Kindheitserlebnisse aus dem Polen der Jahre 1984 bis 1987 erzählt, der daraus eine so süße wie bittere Anekdotensammlung machte. Die Hauptfigur ist ästhetisch am Manga orientiert, der Rest der Zeichnungen sortiert sich zwischen Realismus und Funny ein. Allein die Episodenstruktur und der umfangreiche Erzähltext verhindern, dass man noch mehr in die Geschichte eintaucht.

  • Marzena Sowa & Sylvain Savoia: „Marzi“.
  • Panini, 224 S., Hardcover, farbig, Euro 24.95 / sFr. 35.40

„Goliath“ von Tom Gauld ist andersherum erzählt. Nicht zeitlich andersherum, sondern moralisch umgedreht. In der kurzen, schlicht gezeichneten Geschichte ist Goliath ein naiver, gutmütiger Tropf, den seine eigenen Leute ausnutzen und der zum Opfer von Davids Ehrgeiz wird. Gaulds Perspektivwechsel ist so einfach wie überraschend.

  • Tom Gauld: „Goliath“.
  • Reprodukt, 96 S., Softcover, zweifarbig, Euro 15.- / sFr. 21.90

Nach „Grenzfall“ widmen sich Susanne Buddenberg und Thomas Henseler mit „Berlin – geteilte Stadt“ nochmals dramatischen Ereignissen in der DDR. War in „Grenzfall“ das nahende Ende der Mauer Thema, ist es nun die gesamte Zeit vom Mauerbau bis zur Öffnung der Grenzen. Der Band erzählt detailliert verschiedene wahre Episoden. Dass sich das Buch an Lehrer und Schüler richtet, verbergen die Autoren nicht. Erzählt wird ebenso sachlich wie didaktisch, zudem ergänzt ein Begleittext jede Episode.

  • Susanne Buddenberg & Thomas Henseler: „Berlin – geteilte Stadt“.
  • avant verlag, 100 S., Softcover, s/w, Euro 14.94 / sFr. 21.90

Charles Burns scheint nach „Black Hole“, seinem Opus Magnum der 90er-Jahre, mit einer neuen Reihe seinen Ruf als Meister der Teen-Angst bestätigen zu wollen. Die ersten beiden Bände „X“ und „Die Kolonie“ zeigen Dougs Beziehung zu seinem Vater und seiner Ex-Freundin. In klaren, kontrastreichen Farbzeichnungen wechselt die Geschichte zwischen den Alltagserlebnissen und Dougs Albträumen, die David Lynchs „Eraserhead“ Konkurrenz machen. Verstörend gut.

  • Charles Burns: „X“ & „Die Kolonie“.
  • Reprodukt, 56 S. Hardcover, farbig, Euro 18.- / sFr. 25.90

„Chronik einer verschwundenen Stadt“ erzählt von der Liebe der Pariser Unternehmensberaterin Dibou und des ägyptischen Künstlers Golo zu dem Örtchen Qurna. Fünfzehn Jahre lang hat das Paar den Ort immer wieder bereist, schließlich auch dort gewohnt und mit den Kindern im Dorf Projekte durchgeführt. Als die Regierung anfängt, ihren Masterplan zum Tourismus in und um Luxor zu realisieren, beginnt die Zwangsumsiedlung des Dorfs, von dem heute kaum noch etwas übrig ist. Der Band setzt mit seinen lebendigen, farbigen Zeichnungen und den eingestreuten Fotos der Dorfbewohner und der Projekte mit den Kindern aus dem Dorf ein eindrucksvolles Denkmal.

  • Dibou & Golo: „Chronik einer verschwundenen Stadt“.
  • avant verlag, 200 S., Hardcover, farbig, Euro 24.95 / sFr. 35.-

„Im Land der Frühaufsteher“ umkreist mit einer Rahmenhandlung den Tod von Azad Hadji im Jahr 2009. Der Asylbewerber starb unter rätselhaften Umständen an starken Verbrennungen. Paula Bulling lernt einige Afrikaner in den Asylheimen in Sachsen-Anhalt kennen und beschließt, einen Comic über ihre Lebensbedingungen zu machen. Sie besucht einen Afroshop, besucht ihren Freund Farid, erlebt den täglichen Rassismus auf der Straße, stößt auf den Fall von Hadij, geht auf eine Demo, diskutiert mit einem Freund über die Erzählperspektive ihres Comics. Der schnoddrig-unsaubere Zeichenstil passt perfekt zu dem tastenden Erzählstil – ein spannendes Debüt.

  • Paula Bulling: „Im Land der Frühaufsteher“.
  • avant verlag, 120 S., Softcover, s/w, Euro 17.95 / sFr. 30.-

François Schuiten ist vor allem durch seine mit Benoit Peeters realisierten Comics der Serie „Die geheimnisvollen Städte“ bekannt. Mit seinem in detaillierten Schwarzweiß-Bildern gehaltenen Solo-Werk „Atlantik 12“ knüpft er erzählerisch dort an: Ein alter Lokomotivführer stellt sich gegen den Fortschritt und versucht in einer zunehmend überschwemmten Landschaft seine Dampflok gegen die fortschreitende Einführung der Seilbahn zu retten. Ein fantastisches, retrofuturistisches, ebenso technikverliebtes wie zukunftsskeptisches Szenario. Die Altherrenfantasie in Person eines mysteriösen, leicht bekleideten jungen Mädchens hätte es aber nicht gebraucht.

  • François Schuiten: „Atlantik 12“.
  • Schreiber & Leser, 88 S., Hardcover, s/w, Euro 22.80 / sFr. 34.90

Marc-Antoine Mathieu ist bekannt für seine philosophischen, die Möglichkeiten des Mediums ausschöpfenden Geschichten. Mit „3 Sekunden“ wagt er ein neues Experiment: Multiperspektivisch umkreist er eine Ereignisabfolge von 3 Sekunden über vielfältigste Spiegelungen im Raum – ein ständiges Ein- und Auszoomen. Dass bei dieser erstaunlichen Fingerübung die Story in den Hintergrund tritt, ist verschmerzbar.

  • Marc-Antoine Mathieu: „3 Sekunden“.
  • Reprodukt, 80 S., Softcover, s/w, Euro 18.- / sFr. 25.90

Derzeit gibt es wieder vermehrt Comics in Museen: Das Museum Ludwig in Köln widmet sich bis zum 6. Januar 2013 Art Spiegelman. Im Mittelpunkt steht neben seinem Klassiker „Maus“ auch die komplexe, selbstreflexive Arbeit „Im Schatten keiner Türme“ über den 11. September 2001. Ralf Königs neuestes Werk „Elftausend Jungfrauen“ ist eine tabufreie Bearbeitung der Legende der berühmten Stadtpatronin Kölns. Zur Buchveröffentlichung ist eine begleitende Ausstellung „Ralf König: das Ursula-Projekt“ vom 13. Oktober bis zum 9. Februar 2013 im Kölnischen Stadtmuseum zu sehen.

Leider gerade vorbei ist die Hendrik Dorgathen gewidmete Ausstellung „Serious Pop: Comics, Zeichnungen, Animationen“ im Kunstmuseum in Mülheim an der Ruhr. Die zur Ausstellung erschienene, umfangreiche Sammlung „Holodeck – Skizzen 1968 – 2012“ ist jedoch weiterhin erhältlich und gibt einen tiefen Einblick in Dorgathens Werk im Grenzbereich von Comic, bildender Kunst und Illustration.

  • Ralf König: „Elftausend Jungfrauen“.
  • Rowohlt, 192 S., Hardcover, s/w, Euro 18.95 / sFr. 29.90
  • Hendrik Dorgathen: „Holodeck – Skizzen 1968 – 2012“.
  • Edition Moderne, 240 S., Hardcover, farbig, Euro 36.- / sFr. 45.-

„Das Nest“ erzählt von der Emanzipation der jungen Witwe Marie und der Homosexualität ihres besten Freundes Serge in einem kleinen Dorf in der Wildnis Kanadas. In den Bänden 5 und 6 – „Montreal“ und „Ernest“ – nimmt sich Marie eine Auszeit und geht erstmals in die große Stadt. Das Dorf muss derweil ohne ihr kleines Lebensmittelgeschäft auskommen. Außerdem zeigt sich, dass der Dorfpfarrer für Serges gleichgeschlechtliche Neigungen mehr Verständnis aufbringt, als man vermutet hätte. „Das Nest“ von Régis Loisel und Jean-Louis Tripp ist auch noch nach sechs Alben eine unglaublich liebevolle, humanistische Erzählung.

  • Régis Loisel & Jean-Louis Tripp: „Das Nest: „Montreal“ & „Ernest“.“.
  • Carlsen, 72 S., Hardcover, farbig, Euro 18.- / sFr. 25,90