Nr:131

  • Cover: Stefan Vecsey

EDITORIAL

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Was gibt es Schöneres, als im Liegestuhl an der Sonne zu liegen, einen Drink in Reichweite und sich gute Reportagen zu Gemüte zu führen? Eben. Und genau darum haben wir für dich, liebe Leserin, lieber Leser eine STRAPAZIN-Ausgabe mit ebenso spannenden wie wahren Geschichten zusammengestellt.

Andrew Greenstone berichtet höchst unterhaltsam aus der Wüste Südkaliforniens über seine Erlebnisse an einem ziemlich verrückten Festival, wo allerlei Ufo­logen, Esoterikerinnen und Verschwörungstheoretiker auftreten, unter ihnen – wer hätte das gedacht – auch unser verschrobene Nationalheld Erich von Däniken!

Sharad Sharma hatten wir auch schon im Heft, allerdings nicht als Autor sondern als Veranstalter von Workshops für engagierte Comic-Amateure, deren berührende Werke wir damals abdruckten. Zu seinem Beitrag im vorliegenden STRAPAZIN meint Sharad, er wolle uns Westler*i nnen damit einen Einblick ins aktuelle politische Geschehen Indiens geben, in ein gewalttätiges Land fern von Yoga und Spiritualität.

Stefan Vecsey ist ein junger Schweizer Comiczeichner, der zurzeit in Hamburg lebt und dort für uns eine Reportage verfasst hat, die ihn von den Bettlern auf der Reeperbahn bis zu den Obdachlosen unter den Brücken führte. Ein reifes Werk, das ihm einige Frostbeulen und kalte schlaflose Nächte bescherte.
Wir sind gespannt auf weitere Arbeiten von Stefan!

Ulli Lust muss man niemandem mehr vorstellen, sie war schon oft in STRAPAZIN vertreten und ihre brillanten autobiografischen Bücher suchen im ­deutschen Sprachraum ihresgleichen. Es ist uns jedes Mal eine Ehre, sie im Heft haben zu dürfen.

Walter Steffek genoss bis vor ein paar Monaten sein Rentnerdasein in der Bretagne, wo er zusammen mit seiner Frau in einem kleinen Fischerdorf von Liebe, Wein und Muscheln lebt, seitdem er in Deutschland seinen Beruf als Drucker an den Nagel gehängt hat. Die Schilderung seiner Erlebnisse als Pêcheur à pied auf der Suche nach Herzmuscheln ist seine erste aber hoffentlich nicht letzte Arbeit als Comiczeichner.

Christoph Schuler


DAS GESCHRIEBENE WORT

Unverborgenheit ist nicht Wahrheit — Reportagen sind Literatur

Von Wolfgang Bortlik

Vor vielen Jahren habe ich Zeitungswissenschaft (München) und Publizistik (Zürich) studiert. Damals beschäftigte man sich noch mit Bertolt Brecht und seiner Radio-Theorie, denn der alte Kommunist wollte das Radio sozusagen umrüsten auf eine Zwei-Weg-Kommunikation. Das hiess, dass der Empfänger – also das Volk, der Proletarier, was immer auch – selbst wieder zum Sender wurde mit seinen Bedürfnissen. Klingt auch heute noch sehr bestechend und modern. Und gab es diesbezüglich nicht auch ähnliche Versuche mit dem Internet?
Mittlerweile erscheinen mir die Journalistinnen und Journalisten aber nur noch als hysterischer Haufen. Fake News? Himmel­arsch, wir sind mit Fake News aufgewachsen und aus uns ist auch etwas Anständiges geworden. Jahrzehntelang habe ich mit meinen politischen Aktionen im Solde Moskaus oder wahlweise Pekings oder Tiranas gestanden und wusste nichts davon. Atomkraftwerke waren stets harmlos und würden viele Jahrhunderte sauberen Strom produzieren. Verschwörungstheorien und Fake News waren ganz normal in der bürgerlichen Presse. Es gab sie schon immer, Papiertiger, so alt wie die Menschheit selbst.
Stattdessen wird jetzt auf Journalistenseite verzweifelt die Wahrheit gesucht. Ich bitte euch! Wahrheit. Das am meisten abgedroschene Konzept überhaupt, so à la Jesus ist Wahrheit. Wahrheit oder Pflicht. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Unverborgenheit ist nicht Wahrheit (um hier endlich einmal Heidegger zu zitieren). Was bitte also?
Es gab dann gegen die allumfassenden kapitalistischen Fake News doch auch noch ein Konzept von objektiver Berichterstattung. Das war damals die sogenannte Alternativpresse. Aber Ende der 1980er-Jahre wurde schliesslich alles an den Markt verscherbelt. Und so ist mittlerweile sogar der Sportteil in den Zeitungen heruntergekommen zu öder Besserwisserei und Meinungsmache.

Lasst uns also noch einmal zurückgehen in die gute, alte Zeit, als Zeitungen noch florierende Unternehmungen waren und Recherche und Reportage bezahlen konnten. Damals entstand in den USA der New Journalism. Das Bestechendste an diesem „neuen Journalismus“ war die subjektive Haltung der Schreibenden, was Themenauswahl und Betrachtungsweise angeht.
Wenn man sich etwa über die Stimmung und Atmosphäre der 1960er-Jahre in den USA informieren will, gibt es nach wie vor nichts Umfassenderes und Grossartigeres als Joan Didions Artikelsammlung Das Weisse Album, mit dem Untertitel Eine kalifornische Geisterbeschwörung. Andere Vertreter dieses New Journalism waren Tom Wolfe, Norman Mailer, Truman Capote und wohl auch der reichlich unzurechnungs­fähige, aber umso lustigere Hunter S. Thomp­son. Und dann noch Gay Talese.
Talese, 1932 geboren, ist einer der bekanntesten Vertreter dieser „Bewegung“, deren Inhalte er so beschreibt: „umfassend recherchiert, originell strukturiert, eigenständig in Stil und Haltung“. Es handelt sich schliesslich um eine Annäherung des Journalismus an die Literatur.
Talese berichtet also in einer seiner bekanntesten Reportagen aus dem Jahre 1966, dass Frank Sinatra erkältet und dementsprechend schlechter Laune ist. Immerhin muss er singen und eine neue Platte aufnehmen. Gerade die Stimme ist die stärkste Waffe von il padrone, dem Mann, der gleichermassen Showstar wie Mafioso ist, der Sizilianer, der alles in die eigene Hand nimmt. Er, Sinatra, der alle Tiefpunkte seiner schon langen Karriere immer wieder überstanden hat. Aber wenn er keine Stimme mehr hat, was dann?
Taleses Reportagen über die Farm von Charles Manson, das Aktmodell Diane Webber und seinen Fotografen oder über die New York Times sind präzise, elegant geschriebene literarische Texte. Zwölf dieser klassischen Reportagen befinden sich im Buch High Notes, das eben auf Deutsch herausgekommen ist.

Die literarischen Reportagen wurden lange gepflegt, sogar in der Schweiz. Immerhin gibt es hierzulande die Zeitschrift Reportagen mit vielen ausgezeichneten Beiträgen. Für die Tagesmedien allerdings wurden Recherche und langer Text halt zu teuer, weil die Anzeigeneinnahmen einbrachen und kein Geld mehr da war für externe Schreiberlinge.
Doch vorerst soll Mitte der 1990er-Jahre der junge David Foster Wallace im Auftrag von Harper’s Magazine davon berichten, wie es ist, sieben Tage auf einer Luxuskreuzfahrt durch die Karibik zu verbringen. Auf einem riesigen Schiff, auf dem alles glänzt, Essen und Service hervorragend, Spiel, Spass und Landgänge perfekt organisiert sind. Aber was steckt hinter der polierten Oberfläche? Und was sind diese Mitpassagiere für merkwürdige Gestalten, die so eine Reise buchen und auch noch begeistert davon sind? Der leicht klaustrophobische Wallace beobachtet alles ganz genau und berichtet ziemlich lustig darüber. Er stand damals kurz vor dem literarischen Durchbruch, 1996 erschien sein Hauptwerk, der wildwuchernde Roman ­Infinite Jest (Unendlicher Spass). Leider litt Wallace an Depressionen und nahm sich 2008 mit 46 Jahren das Leben.
Seine Kreuzfahrtreportage ist jetzt wieder erschienen. Das ganz Besondere an dieser Ausgabe sind die beigefügten Acryl- und Gouache-Bilder des in Berlin lebenden Illustrators Chrigel Farner. Der sonst so barocke Maler und schon oft im Strapazin abgedruckte Comic-Zeichner hat für dieses Buch mit einer flirrenden Durchsichtigkeit gemalt, was eine ganz besonders schöne bildliche Umsetzung des Wassers ergibt. Selbstverständlich ist das Buch auch prächtig in Leinen gebunden, also quasi ein Schmuckstück.

W. C. Heinz alias Wilfred Charles Heinz, geboren 1915, gestorben 2008, schrieb für die 1950 eingestellte New York Sun und danach als freier Autor für alle möglichen Magazine. Berühmt wurde er für seine Sportreportagen, aber er schrieb auch einen Roman über einen jungen Boxer. Dafür wurde er von Ernest Hemingway über den grünen Klee gelobt.
Heinz hat eine der ergreifendsten Sportreportagen aller Zeiten geschrieben, eine ganz kurze Geschichte nur, weniger als 1000 Wörter. Tod eines Rennpferdes erschien 1949 und ist die Geschichte eines zweijährigen Pferdes mit dem Namen Air Lift. Es entstammt einer Familie von berühmten Siegern und läuft sein erstes Rennen. Das Publikum, die Presse, die Pferdewetter, alle sind sie gespannt auf das Abschneiden des vielversprechenden Tieres. Doch das bricht sich bei seinem allerersten Auftritt gleich ein Bein und muss notgeschlachtet werden. Air Lift ist eineinviertel Stunden nach seinem ersten Start tot.
Diese und andere klassische Sportreportagen sind im Sammelband Die stille Saison eines Helden abgedruckt. Das Buch trägt den Titel einer berühmten Reportage von Gay Talese über den alternden Joe DiMaggio, den berühmten amerikanischen Baseballhelden und Ex-Mann von Marilyn Monroe, der sich vier Jahre nach ihrem Tod 1962 noch immer in Kummer verzehrte.
Eine weitere Geschichte in diesem Band handelt von den Crow-Indianern, die in ihrer miserablen Reservation eine grandiose Faszination für Basketball entwickeln. Doch von all den tollen Spielern, welche die Crow haben, schafft es keiner bis an die Spitze. Tragischerweise erliegen sie früher oder später der Trunksucht.

Es ist ja jetzt auch schon wieder ein paar Monate her, dass Juventus Turin einigermassen unglücklich im Viertelfinale der Fussball Champions League gegen Real Madrid ausgeschieden ist. Besonders tragisch war, dass das entscheidende Tor für Madrid ein Penalty in der 97. Spielminute war, den viele Schiedsrichter oder eben auch Fussballfans nicht gegeben hätten. Der berühmte Torwart der Turiner, Gigi Buffon, sprach danach jedenfalls davon, dass der Schiri statt eines Herzens einen Abfallkübel in der Brust trage. Weithin hallte das Schluchzen und knirschten die Zähne. Derartige Tragik erweicht selbstverständlich über alle Massen das Herz des Fussballromantikers.
In Italien wird Juventus von den einen eher despektierlich „Alte Dame“ genannt, andere schwärmen von Juve als „La Fidanzata“, die Verlobte. Kein anderer Club in Italien hat so viele Trophäen, Tragödien und Skandale erlebt. Wahrscheinlich auch, weil er seit fast 100 Jahren von der Fiat-­Besitzerfamilie Agnelli professionell geführt wird.
Die deutsche Journalistin Birgit Schönau ist eine profunde Italien- und Fussballkennerin und hat eine äusserst kurzweilige Geschichte von Juve und seinem Verhältnis zu Turin und Italien geschrieben.

BOOKLIST

Joan Didion: „The White Album“.
Farrar, Strauss and Giroux, $ 18.50
Deutsch ist das Buch leider vergriffen.

Gay Talese: „High Notes“. Reportagen,
Tempo Verlag, EUR 17 / CHF 29.50

David Foster Wallace: „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“.
Mit Illustrationen von Chrigel Farner.
Edition Büchergilde, EUR 18 / CHF 35.60

Dominik Fehrmann (Hg.): „Die stille Saison eines Helden“.
Die besten amerikanischen ­Sportgeschichten,
Steidl Verlag, EUR 18 / CHF 27.–

Birgit Schönau: „La Fidanzata“.
Juventus, Turin und Italien.
Berenberg Verlag, EUR 22 / CHF 29.50

„Reportagen“ erscheint 6× im Jahr.
Abonnement bei www.reportagen.com

PFLICHT LEKTüRE

Gipi: „Die Welt der Söhne“

Virtuos gezeichneter Entwicklungsroman

«Die Welt der Söhne» ist eine grausame. Eine nicht näher beschriebene Giftkatastrophe hat die Zivilisation weitgehend zerstört. Für die ­Übriggebliebenen zählt allein das nackte Über­leben, Schwächen darf man sich da nicht leisten. Um seine beiden halbwüchsigen Jungs fit für diese Herausforderung zu machen, erzieht der Vater sie mit harter Hand und erstickt jede emotionale Bindung im Keim.
Die drei leben in einer Hütte an einem See, umringt von Sümpfen – von Gipi (5 Songs, Mein schlecht gezeichnetes Leben) in feinen, flirrenden Tuschestrichen umgesetzt. Die Welt von früher, in der man Hunde und Katzen als Haustiere hielt, statt sie zu essen, Verstorbene be­stattete, statt sie zu plündern und in den See zu werfen, und in der es selbstverständlich war, lesen und schreiben zu lernen und einen reichen Wortschatz zu erwerben – diese Welt kennen die Söhne nicht. Anders als der Vater, der ein Tagebuch führt, wenn er sich unbeobachtet fühlt, und sich damit im Geheimen ein Stück Zivilisation bewahrt hat.
Als der Vater stirbt, versuchen die Jungs vergeblich, seine Notizen zu entziffern und machen sich schliesslich auf, jemanden zu ­finden, der des Lesens mächtig ist. Diese Suche ist nicht nur so gut wie aussichtslos, sie bringt die Jungs zudem in grosse Gefahr – lässt sie aber auch auf Überreste scheinbar verlorener ­(Zwischen-)Menschlichkeit stossen.
Der Italiener Gianni Alfonso Pacinotti alias Gipi hat mit seinem Comic Die Welt der Söhne einen Entwicklungsroman geschaffen, und das mit virtuosem Strich. Die schwarzweissen ­Tuschezeichnungen transportieren die düstere Atmosphäre einer entmenschlichten Welt, es dominieren eng gesetzte, dünne, harte Striche, die sich zu einem dunklen Strichelgewirr verdichten. Und doch bleibt bei aller Düsternis auf den Seiten Raum für lichte Flächen, die mit offener Weisse am Ende einen Hoffnungsschimmer andeuten.
Gipi macht zudem eine Liebeserklärung an die Handschrift, an eine Kulturtechnik, die hier als Symbol einer verlorenen Zivilisation gelesen werden kann. Mitten im Buch findet sich ein Faksimile von eng beschriebenen Tage­buchseiten des Vaters: krakelige Zeilen aus hastig hingeworfenen Tintenbuchstaben, für Leser
des Comics ebenso unleserlich wie für die analphabetischen Söhne und an manchen Stellen verlaufen – so, als seien beim Schreiben heimlich Tränen auf die Seiten getropft.

Barbara Buchholz

Gipi: „Die Welt der Söhne“.
Übersetzung: Myriam Alfano.
Avant-Verlag, 288 S.,
Hardcover, s/w,
EUR 30 / CHF 44.90

Julia Hosse: „In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester“

Reality Bites

Auch wenn auf Julia Hosses Publikation Graphic Novel steht, so handelt es sich bei ihrem Debüt nicht um eine solche. Und das ist auch gut so, denn ihre Veröffentlichung bei der Edition Büchergilde ist viel mehr als eine Graphic Novel. Hosse, eine ehemalige Studentin von Anke Feuchten­berger, wagt mit ihrem grafischen Essay, so steht es auch treffend auf der Rückseite ihres Buches, eine experimentelle Auseinan­dersetzung in Wort und Bild mit Wahrnehmung und Erinnerung. In sechs Kapiteln verknüpft sie über mehrere Generationen die Kindheits­erinnerungen der Frauen ihrer Familie, um sie in Einsteins Relativitätstheorie kulminieren zu lassen. Hört sich nach hartem Tobak an, ist es aber nicht. Der Wahlhamburgerin Hosse gelingt mit In meiner Erinnerung war mehr Streich­orchester eine leichte und zugleich philosophische Reise durch die Vergangenheiten ihrer Familie, um auf der Metaebene ein Gedankenspiel mit Raum, Zeit und Erinnerung zu treiben. „Die Zukunft existiert bereits und unsere Vergangenheit ist noch da. Nichts verschwindet“, ist in Anlehnung an Einsteins Relativitätstheorie eine der zentralen Aussagen in Hosses Buch, womit ihr zugleich eine äusserst treffende Beschreibung der Auswirkung von Erinnerungen und ­Traumata gelingt, woran ihre Mutter und Grossmutter gelitten haben. Es geht natürlich auch um Resilienz, um den Überlebensdrang des Menschen, um tiefgreifende Erlebnisse vergessen und ein normales Leben führen zu können. Ent­sprechend der Vielfalt und individuellen Ausprägungen von Erinnerungen‚ wechselt ­Hosse Zeichen- und Erzählstil. Das Bruchstückhafte, Überlagernde und Widersprüchliche
der Erinnerung spiegelt sich in den verschiedenen Zeichenstilen wider, ob in Tusche- oder Bleistiftzeichnungen, in verschwommen flächigen oder realistisch fotografischen ­Abbildungen als auch in zeitüberlagernden ­surrealistischen Momenten oder in linearen Episoden. Hosse ist ein wunderbares grafisches Essay gelungen, das einlädt, es wiederholt zur Hand zu nehmen und es auszugsweise zu lesen, und über die eigene Vergangenheit und Erinnerung nachzudenken. Es ist ein gros­ses Geschenk, dass es Bücher wie Hosses In meiner Erinnerung war mehr Steichorchester gibt, und dass sie noch verlegt werden!

Matthias Schneider

Julia Hosse: „In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester“.
Edition Büchergilde, 176 S.,
Softcover, vollfarbig,
EUR 26 / CHF 36.90

Fabien Nury/Thierry Robin: „The Death of Stalin“

Väterchens Tod

In einer Buchbesprechung stellt ein Rezensent die Frage, ob Comics Geschichte nachvoll­ziehbarer erklären können als andere Medien. Auf Art Spiegelmans Maus trifft das sicher in gewissen Punkten zu. Ebenso auf Park Kun-woongs und Chung Eun-yongs Geschichte über das Massaker von Nogeun-ri oder Emanuel Guiberts und Frédéric Lemerciers Der Fotograf. Fabien Nury (Szenario) und Thierry Robin (Zeichnungen) haben mit den Ereignissen um den Tod von Josef Wissarionowitsch Stalin im März 1953 eine Episode der Weltgeschichte aufgeschnappt, die dem Leser nicht nur wegen der detaillierten und gekonnt inszenierten Darstellung in Erinnerung bleibt, sondern auch wegen der Absurdität dieser Ereignisse und des Irrsinns der Stalin-Diktatur. Zu Beginn von The Death of Stalin wird zwar darauf hingewiesen, dass es sich um eine fiktive, aus dokumentarischen Fragmenten konstruierte Geschichte handelt, doch hätten die Autoren kaum „ihre Fantasie bemühen müssen, da sie sich nur schwer etwas hätten ausdenken können, das dem irrsinnigen Wüten Stalins […] vergleichbar gewesen wäre“. Stalin stirbt bereits auf den ersten Seiten, doch die Macht des Diktators herrscht auch nach seinem Tod über seine ­Untergebenen. Der Terrorapparat des Tyrannen hätte erzähltechnisch nicht besser dargestellt werden können. Lawrenti Beria, Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow, Nikita Chruschtschow und weitere Vertraute und Mitglieder des ­Zentralkomitees verwehren dem Sterbenden jegliche medizinische Hilfe aus Angst vor ­Fehlern und vor seinem Zorn. Sie warten ab und schon bald beginnen die Machtspiele um den Nachfolger von „Väterchen Stalin“. Dabei geht es nicht um die zukünftige Regierung des Landes, sondern um das Überleben eines jeden Einzelnen, wobei jedes Mittel recht ist.
Nurys und Robins wunderbar beklemmende Polit-Satire erscheint erst acht Jahre nach der Veröffentlichung des französischen Originals auf Deutsch, doch rechtzeitig zum Start der Kino-Version. Eine Verfilmung übrigens, die der russische Staat im eigenen Land verboten hat. Der Geist Stalins hat seine Untertanen immer noch im Griff.

Giovanni Peduto
Fabien Nury/Thierry Robin: „The Death of Stalin“.
Splitter Verlag, 144 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 29,80 / CHF 49.90

Thi Bui: “The Best We Could Do”

Von Vietnam nach Amerika

Vielleicht, weil Autoren-Comics, also solche, die von derselben Person gezeichnet und geschrieben werden, zu ihrer Entstehung ein grosses Mass an Einsamkeit und Introspektion benötigen, handelt es sich dabei oft um Autobiografien oder Memoiren. Autobiografien sind aber ein anspruchsvolles Genre – auf jedes Werk wie Maus oder Persepolis kommen Hunderte eher vernachlässigbare Comic-Memoiren, in denen der Schöpfer nicht viel zu sagen hatte oder aber nicht über das Können verfügte, uns zum Lesen zu verführen.
Auf den ersten Blick scheint es, als ob auch Thi Bui mit ihrem The Best We Could Do in diese Kategorie fallen und keine besonders ori­ginelle oder einmalige Geschichte erzählen würde. Wie Tausende anderer Familien verliess auch die von Thi Bui in den Siebzigerjahren Vietnam, um in den USA ein neues Leben zu beginnen. Ihre Flucht war begleitet von ziemlich schrecklichen Umständen, wie die der meisten Nachkriegsflüchtlinge, aber die Familie integrierte sich relativ schnell in ihrer neuen Heimat. Bui und ihre Geschwister zeichneten sich durch gute Noten aus und ­passten sich problemlos und erfolgreich dem amerikanischen Lebensstil an – eine Immigrationsgeschichte mit einem Happy End, könnte man meinen. The Best We Could Do aber ist deshalb bemerkenswert, weil das Gewöhnliche zum Aussergewöhnlichen wird, das Fremde zum Familiären.
Tolstoi eröffnet Anna Karenina mit der Bemerkung: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“, doch Bui unterläuft diese Behauptung mit der Schilderung ihrer Familiengeschichte, die Generationen vor dem Vietnamkrieg beginnt und aufzeigt, wie Zeiten grossen Unglücks oder erheblicher Instabilität durchaus Momente überschäumender Freude generieren können. Andererseits schildert sie wie Perioden, in denen man nichts als ungetrübtes Glück erwarten würde, nur Entbehrungen und Not mit sich bringen.
The Best We Could Do erkundet auf elegante Art die Widersprüche der Familiengeschichte, die Sorgen und Nöte von Kindererziehung und Altenpflege und die Konflikte zwischen ­Tradition und Wandel, Identität und Lebens­gestaltung. Die Autorin reflektiert die positiven und negativen Einflüsse der Familie, wie die Umstände unserer Herkunft und unseres Aufwachsens uns belasten, aber auch beflügeln können. Wie Bui die Geschichte Vietnams in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählt,
wie sie uns Saigon, heute Ho-Chi-Minh-Stadt, so gekonnt schildert, dass man glaubt, sich mitten im Trubel und den Gerüchen zu befinden, wie sie ihre persönliche Geschichte mit universell gültigen Themen verwebt, zeugt von hohem Können.
Geburten spielen eine wichtige Rolle in diesem Werk, das – auch wenn dies etwas ­abgedroschen klingt – in sich eine Art Geburt darstellt. Es ist Buis erste Graphic Novel, ent­standen nach grösseren Anlaufschwierigkeiten und jahrelanger Arbeit. Herausgekommen ist – wie bei allen Geburten – ein kleines Wunder, eine perfekt ausgeformte Erzählung, ­umgesetzt mit gekonnten Pinselstrichen, die einen manchmal an Craig Thompson oder ­Edmond Baudoin gemahnen.
Kaum hatte ich das Buch fertig gelesen, wollte ich gleich wieder von vorn beginnen, und die Frage, wie unsere Geschichte unsere ­Zukunft beeinflusst, ging mir noch tagelang im Kopf herum.

Mark David Nevins

Thi Bui: “The Best We Could Do”.
In Englisch. Abrams & Chronicle Books, 336 S.,
Hardcover, s/w und orange/sepia,
EUR 22,70 / CHF 29.90

Lorena Canottiere: „Verdad“

Wahrheit

Eine verletzte Kämpferin im Spanischen Bürgerkrieg wird von ihren Genossen geborgen und in Sicherheit gebracht. Verdad ist nach einem Bombenaschlag, den sie auf einen ­Stützpunkt der Nationalisten verübt hat bewusstlos, ein Arm muss amputiert werden. Aus ihrer unverletzten Hand segelt ein Foto zu Boden: Eine Gruppe lachender Menschen, darüber die Ortsangabe Monte Verità. In diesen wenigen Auftaktbildern ist bereits alles ent­halten, was die Zeichnerin Lorena Canottiere in ihrem Album Verdad entfalten wird: die poli­tischen Konfliktlinien des 20. Jahrhunderts, der Glaube an einen revolutionären Umsturz und ein Ende des Faschismus, die Suche nach alternativen Lebensformen und die Bereitschaft, für all dies mit dem eigenen Leben zu bezahlen.
Monte Verità hiess eine 1900 gegründete libertäre Kommune in der Schweiz, wo Künstler wie Hans Arp, Hugo Ball und Hermann Hesse auf revolutionäre Denker wie Ernst Bloch oder Erich Mühsam trafen, die dort nach dem neuen, freien Menschen suchten: „Sie predigten die freie Liebe. Und das Matriarchat. Es war ein Ort der Revolution“, bekommt ­Verdad von einem Kampfgenossen erklärt. Auch die Mutter der Protagonistin hatte es dort ­hingezogen, Verdad ist daher bei ihrer strengen Grossmutter aufgewachsen, die für die Utopien ihrer Tochter nur Verachtung übrig hatte. ­Verdad jedoch ist nach wie vor fasziniert von der Suche ihrer Mutter nach diesem Leben frei von Zwängen und hat sich nicht zuletzt aus diesem Grund den Revolutionären des Spanischen Bürgerkriegs angeschlossen.
In warmen Farben, skizzenhaften und doch detaillierten Zeichnungen, in denen sich das Leben der Kämpfer im permanenten ­Kriegszustand und auf der Flucht ebenso spiegelt wie ihr Ideal einer solidarischen Gesellschaft, blickt Canottiere von der Gegenwart zurück in die schwierige Kindheit Verdads, aber auch in die Zukunft, in der die besiegten, ­überlebenden republikanischen Kämpfer des Bürgerkriegs die Flucht in den Untergrund oder das Exil wählen. „Ich habe ein Leben lang für eine Welt gekämpft, die keinen Platz für mich hat. Ich passe nicht ins Paradies, ich verdiene es nicht“, reflektiert Verdad resigniert und zieht sich in die Berge zurück. Als sie schliesslich doch in Richtung Frankreich aufbricht, wird sie kurz vor der Grenze erschossen, im Sterben jedoch strömen Bilder aus Monte Verità in
ihr erlöschendes Bewusstsein. Trotz der Niederlage in der Gegenwart ist die Suche nach einem Leben ohne Zwänge noch nicht beendet: „Weil ich nicht glauben kann, dass alles umsonst ist.“

Jonas Engelmann

Lorena Canottiere: „Verdad“.
Bahoe Books, 160 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 22 / CHF 31.90

Eric Lambé/Philippe de Pierpont:
«Apparitions, disparitions et autres mouvements»

Auftauchen und verschwinden

Der Zeichner Eric Lambé und der Autor und Filmemacher Philippe de Pierpont haben seit 2003 vier Graphic Novels veröffentlicht – die letzte, Paysage après bataille (siehe STRAPAZIN 127), wurde 2017 in Angoulême zum Comic des Jahres gekürt. Der Preis schürte das Interesse an den beiden, und nun liegen ihre drei vor­herigen Geschichten in einem dicken Band vor und erlauben die Entdeckung oder einen neuen Blick auf die erzählerisch wie zeichnerisch höchst subtile und eigenwillige Welt der beiden.
Lambé und de Pierpont sind Meister des Subtilen, der Andeutung, der Leere, der Stille. Ihre Geschichten sind lakonisch, gesprochen wird wenig, auch die Bilder sind reduziert und stilisiert und lassen viel Raum und Tiefe. Es ist eine Form von Poesie, in deren Zwischenräumen viel anklingt und mitschwingt. Immer wieder sind es auch ähnliche Stoffe, Themen, Stimmungen und Situationen, die die beiden beschäftigen – Geschichten über das Gefühl, wie sie selber kürzlich in einem Interview sagten, manchmal nicht genau zu wissen, wo man im Leben stehe. Lambé und de Pierpont vermitteln dieses Gefühl von ­Desorientierung, Abwarten und Suche auf eindringliche Weise – und immer so, dass fast jedes Bild offen für Neues bleibt.
In Alberto G., einer Reflexion über die Wahrhaftigkeit in der Kunst, sucht der Schweizer Künstler Alberto Giacometti nach der ­Wahrheit in einem Gesicht, das er abbilden möchte. In La pluie (Der Regen) wird die Welt – und auch die grosse Liebe zwischen einer ­Hebamme und einem Schwimmlehrer – nach und nach von einer neuen Sintflut weggeschwemmt. Un voyage (Eine Reise) ist die Geschichte eines angekündigten Todes: Der von einer Krankheit verurteilte Mann will die drei letzten Wochen seines Lebens an der ­Nordsee verbringen, um seine endliche Existenz im unendlichen Horizont zu spiegeln – doch statt verschwinden zu können, muss er sich, da der Tod ihn verschont, wieder dem Leben stellen.
Was in kurzen Synopsen prätentiös klingen mag, womöglich gar langweilig oder klischiert, entpuppt sich auf dem Papier als eine wun­derbare Lektüre, in der Stimmungen, Gefühle und Abschweifungen wichtiger sind als Plots. Schade nur, dass sich noch kein ­deutscher Verlag an die Arbeit von Eric Lambé und Philippe de Pierpont herantraut.

Christian Gasser

Eric Lambé/Philippe de Pierpont:
«Apparitions, disparitions et autres mouvements».
Französisch. FRMK/Actes Sud, 456 S.,
Hardcover, EUR 31,80

Eva Müller: „Sterben ist echt das Letzte!“

Endlich

„Punk killed my smile“ – alles vergeht, auch das Lächeln. „Dental Death“ ist eine Episode aus Eva Müllers Comic-Debüt Sterben ist echt das Letzte!, in der eine alte Frau sich in der Aus­einandersetzung mit dem eigenen Tod an ihre Zeit als junger Punk erinnert: „Ich machte, was ich wollte und fühlte mich absolut unsterblich.“ Bis zu jenem Tag, als der 20-Jährigen vier Zähne gezogen werden müssen: „Ich weinte und war erschrocken, dass Teile meines Körpers nicht mehr lebten.“ Für die junge Frau ist es die erste Begegnung mit dem, was sie im Alter täglich umgibt: die Vergänglichkeit und das Sterben. Solche kleinen Begegnungen mit dem Tod sind der rote Faden, der die in sich ab­geschlossenen Episoden von Sterben ist echt das Letzte! zusammenhält. Mal entwickelt ein ­Mädchen nach Fernsehbildern hungernder Kinder in Afrika eine Angst vor dem Sterben, mal ist es der Tod der Nachbarin und mal Shavasana, die Leichenposition beim Yoga, die Assoziationen auslöst.
Der Tod birgt Angst und Faszination, er ist das Ende und manchmal ein Neuanfang: In der längsten Geschichte des Buches ist es der Tod des Vaters, der zwei entfremdete Geschwister wieder zusammenführt und jene Nähe und Liebe zurückbringt, die sie als Kinder füreinander empfunden haben. Bereits seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass das Sterben stärker Teil des Lebens wird: Alternative Bestattungsinstitute boomen, Bücher fragen nach neuen Formen von Trauer, Blogs und Podcasts plädieren für einen offeneren Umgang mit dem Tod. Statt der Verdrängung der eigenen Vergänglichkeit und der Tabuisierung des Sterbens wird eine neue Offenheit gefordert, denn der Tod ist eine Re­alität, der sich jeder stellen muss. In den leider aus Kostengründen nur schwarzweiss ge­druckten Buntstiftzeichnungen schildert Eva
Müller unterschiedliche Facetten dieser neuen Offenheit: Begräbnisriten aus aller Welt, die biologischen Prozesse im Körper eines ­Sterbenden, Philosophien des Todes oder Friedhöfe als Parkanlagen. Die Kunst war in Sachen Tod immer schon weiter als die Gesellschaft:
In mittelalterlichen Darstellungen des Totentanzes, der Musik (vom Requiem über Billie ­Holidays „Strange Fruit“ bis zu Lou Reeds „Songs for Drella“), den Horror-Comics der Fünfziger und anderswo wurden die ­Menschen mit dem Einfluss des Todes auf das Leben ­konfrontiert. Entziehen kann sich diesem Einfluss niemand, einzig verdrängen kann man ihn. Gegen diese Verdrängung setzt Eva Müller in ihren Zeichnungen voller ­Details auf die Integration des Todes in das Leben. „Freunde sind wir also trotz seiner dauerhaften Präsenz in meinem Leben immer noch nicht geworden, der Tod und ich“, heisst es am Ende, aber: „Er ist immer da, und ­irgendwie ist das auch in Ordnung.“

Jonas Engelmann

Eva Müller: „Sterben ist echt das Letzte!“.
Schwarzer Turm, 160 S.,
Softcover, s/w,
EUR 12

Hannes Richert: „Comics für den gehobenen Pöbel“

Absurditäten des urbanen Lebens

Seit 2015 zeichnet Hannes Richert seine „Comics für den gehobenen Pöbel“ einmal pro Woche für das Berliner Magazin Zitty. Es ist kein ganz leichtes Erbe, das er dort angetreten hat, ­im­merhin ist er der Nachfolger von Fil und seiner Kult-Serie „Didi und Stulle“. Dass Richert die Lücke aber bestens ausfüllt, beweist sein erster Sammelband, der ausserdem auch Arbeiten für Titanic, den Eulenspiegel, die taz und den Stern enthält.
Ausgangspunkt von Richerts Geschichten sind häufig banale Alltagssituationen, die – meist früher als später – absurde Wendungen nehmen. Dabei hat er es vor allem auf das urbane Leben abgesehen, dessen lächerliche Seite dem Leser vor Augen geführt wird. So wird etwa die Gentrifizierung von Schneematschhaufen dargestellt, hippe Werber regen sich darüber auf, dass ihre Agentur ihnen nur Sitzbälle und ­keinen Kicker spendiert hat, und dann beschreibt jemand, wie man mit der selbst entwickelten „7-Tage-Avocadobox“ die perfekte Avocado erhält. Ebenso nimmt Richert leere Floskeln und sprachliche Plattitüden ins Visier, etwa im Fall eines Typen, der ständig alles Mögliche „feiert“ („Ich feier frische Mohnbrötchen im Moment ziemlich hart.“), aber gar nicht mehr weiss, wie man wirklich feiert.
Andere wiederkehrende Themen sind Beziehungen und Sex, wobei beide meist ­ziemlich bizarre Züge annehmen, beispielweise wenn Stellungen gezeigt werden, die auch
mit einer Tragehilfe und einem darin befind­lichen Baby möglich sind. Aber auch männlicher Urin spielt öfter eine Rolle, sei es in Form der Vermeidung von Spritzern ums Pissoir herum („Ich such mir immer ein vollgelaufenes Pissoir und pinkel einfach unter ‘Wasser’.“) oder der Schilderung dessen, was geschieht, wenn Männer sich nach dem Klogang nicht die Hände waschen: „In Kreisen, wo sich besonders affektiert begrüsst wird, finden regelrechte Orgien im Mikrobereich statt.“
Ja, es wird immer mal wieder eklig, ­geschmacklos und auch auf sprachlicher Ebene vulgär bei Richert. Dabei handelt es sich jeweils aber nicht um platten Haudrauf-Humor, denn diese Szenen basieren auf sehr genauen Beobachtungen seiner Mitmenschen. Jene ­wiederum stellt er mit eher einfach gezeichneten Figuren dar, erreicht so aber mit wenigen ­Strichen grosse Effekte in Gestik und Mimik. Spassig sind sie allemal, seine Strips mit ihrem skurrilen bis bösen Humor. Trotzdem vergeht einem ab und zu beinahe das Lachen. Dann nämlich, wenn man sich in den ­vertrottelten Protagonisten selbst ein bisschen wiedererkennt.

Jan Westenfelder

Hannes Richert: „Comics für den gehobenen Pöbel“.
Edition Moderne, 88 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 24 / CHF 29.80

Joseph Conrad, Catherine Anyango, Henry Gidom:
„Herz der Finsternis“

Im Herzen der Apokalypse

Comic-Adaptionen von Literaturklassikern werden selten selber zu Klassikern. Nennenswert ist die hervorragende Don-Quijote-Nach­erzählung des deutschen Comic-Autoren Flix, oder Gemma Bovary (basierend auf Flauberts Madame Bovary) der Britin Posy Simmonds. Beides sind Werke, welche die Originale in die heutige Zeit versetzen und somit etwas ­Neuartiges schaffen. Adaptionen, die der Vorlage treu bleiben, sind oft weniger erfolgreich.
Mit Adaptionen von Meister und Margarita (Bulgakow), Der Prozess (Kafka), Sherlock Holmes oder Shakespeares Werken ist der US-ame­rikanische Comic-Verlag SelfMadeHero dick im Literaturklassiker-Geschäft. Im Verlagskatalog springt vor allem die Ausgabe von Joseph ­Conrads Herz der Finsternis ins Auge. Der deutsche Hinstorff-Verlag hat nun das Buch ins ­Deutsche übersetzt.
Die Novelle von 1899 des gebürtigen Polen gehört zu den wichtigsten Werken der Kolo­nialzeit und der britischen Literatur überhaupt. Sie erzählt die Geschichte von Marlow, einem Seemann, der den Kongo hinaufreist, um den Elfenbeinhändler Kurtz zu finden.
Im Herzen des finsteren Dschungels begegnet er dabei dem absoluten Grauen. Es braucht Mut, den wortgewaltigen ­Originaltext auf Comic-Länge zu reduzieren und ihn in Sprechblasen zu zwingen. Man möchte meinen, das sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Tatsächlich verliert der Text von David Zaine Mairowitz die majestätische Wortgewandtheit Conrads, und auch die eingefügten Passagen aus Conrads Reisetagebuch durch Belgisch-Kongo geben der Geschichte keine Tiefe. Bezeichnend dafür ist auch die Wahl der Schriftart, die sich zu fest von den Bildern abhebt. Vom visuellen Standpunkt her kann man hingegen Herz der Finsternis einiges abgewinnen. Die Bleistiftzeichnungen der belgisch-schwedischen Künstlerin Catherine Anyango Grünewald fangen die düstere ­Atmosphäre des Grauens perfekt ein und vermitteln die Unmenschlichkeit des Kolo­nialismus weit stärker als man sie mit Worten beschreiben kann.

Giovanni Peduto

Joseph Conrad, Catherine Anyango, Henry Gidom:
„Herz der Finsternis“.
Hinstorff, 128 S.,
Softcover, s/w,
EUR 18 / CHF 28.90

Maximilian Hillerzeder: „Maertens“

Was darf’s bei Ihnen sein?

Maertens arbeitet in einer Imbissbude, um seine Brötchen zu verdienen. Stundenlang schneidet er kleine runde Brotfladen auf und füllt sie mit Schöpflöffeln einer braunen Masse aus Bottichen in der Theke. «Frisch – lecker – ­günstig», behauptet ein Plakat. Eklig, denkt, wer die Zeichnungen betrachtet. Aber Maertens
und sein Kollege kommen beim Füllen, Kassieren, Rüberreichen kaum nach.
Maertens hat sich eingerichtet in diesem Job, der ihm die Miete sichert und ihm ­ansonsten Ruhe lässt für das, was ihm wirklich wichtig ist: Nach Feierabend löst er Kreuz­worträtsel und beteiligt sich an Rätselwettbewerben, verschlingt Krimis und schreibt ­Fanfiction. Die Wände seiner Bude sind bedeckt von Regalen voller Bücher und Filme, von Sherlock-Holmes- und Poirot-Porträts, Sudokus und Schwedenrätseln, Zeitungsausschnitten von Fällen, die ihn interessieren. Eines Tages passt ein kleiner Mann mit Glatze und Brille, der sich als Sandberg vorstellt, Maertens nach der Spätschicht ab. Seine Tochter sei entführt worden, behauptet er.
Nun wolle er Maertens – seines Zeichens preis­gekrönter Kriminalist – als Privatdetektiv ­anheuern. Maertens, der tatsächlich einige ­Rätselpreise und Auszeichnungen für Fanfiction gewonnen hat, lehnt zunächst ab. Aber ei­gentlich hat ihn der wunderliche Herr Sandberg mit seiner Entführungsgeschichte, in der nichts zusammenzupassen scheint, schon am Haken. Maertens macht sich daran, das Rätsel zu lösen.
Mit Maertens hat der in Leipzig lebende Maximilian Hillerzeder einen wunderbaren Comic geschrieben und gezeichnet, der ganz besonders durch den Einfallsreichtum bei der Figurengestaltung und beim grafischen Erzählen besticht. Da gibt es zum Beispiel kleine kürbisförmige Arbeiter, Lauchmänner und anderes anthropomorphes Gemüse. Das Gesicht des Herrn Sandberg scheint aus verschiebbaren Einzelteilen zu bestehen, und Maertens’ Kinn ragt wie ein Dolch aus seinem Gesicht. Die Mo­no­tonie der Arbeit hinterm Imbisstresen wird mit Panels verdeutlicht, die alle das gleiche Motiv zeigen: Maertens’ Mütze und Shirt ohne Inhalt, dazu Sprechblasen wie «Was darf’s bei Ihnen sein?» oder «Mit allem?»
Die Lust am ungewöhnlichen Erzählen merkte man Hillerzeder schon bei seinem ­surreal-witzigen Abenteuer-Comic Als ich mal auf hoher See verschollen war an, 2014 in
der Edition Kwimbi erschienenen. Und auch die Webcomics, die der Künstler seit Jahren auf hillerkiller.com veröffentlicht, sind unbedingt ansurfenswert.

Barbara Buchholz

Maximilian Hillerzeder: „Maertens“.
Jaja-Verlag, 160 S.,
Softcover,farbig,
EUR 18 / CHF 27.90

Mathieu Sapin: „Gérard. Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu“

Wandelnder Widerspruch mit Wutausbrüchen

Die Regale in den Comic-Abteilungen sind nach wie vor gefüllt mit Comic-Reportagen oder -Biografien. Während die Reportage die aktive Teilnahme erfordert, um ein Thema möglichst tiefgründig abzubilden, stürzt man sich bei der Biografie in der Regel in die Archive, um eine Persönlichkeit zu (be-)greifen. Der fran­zösische Zeichner Mathieu Sapin hat für seinen Band Gérard. Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu – der Untertitel lässt es bereits ­erahnen – nun beides miteinander verbunden: Eine Biografie als Reportage!
Eigentlich war Sapin für eine Comic-­Reportage über François Hollande unterwegs, für die er den französischen Präsidentschafts­kandidaten auf seinem Wahlkampf begleitet
hat. Dann kam der Zufall ins Spiel: Bei einem Wahlkampfauftritt von Hollandes Gegner Sarkozy, den Sapin zu Recherchezwecken ­besuchte, trat Gérard Depardieu polternd auf die Bühne. Kurz darauf wurde Sapin dann für eine ­Reportage über Gérard Depardieu angefragt. Er bereut gleich wieder, spontan ­zu­gesagt zu ­haben. Als einfach gilt Depardieu sicher nicht. Geplant ist, dass Sapin den ­Schauspieler, der in letzter Zeit vor allem mit Skandalen aufgefallen ist, für eine Fernsehdoku durch den Kau­kasus begleitet. Er soll ihn ­zeichnen und ­zugleich als Anspielpartner für den Schauspieler dienen. Erst aus dieser ­Erfahrung – eine ­Mischung aus Schrecken und Faszination – entsteht die Idee für das Comic-Projekt Gérard. Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu. Sapin begleitet Depardieu nun immer wieder auf Reisen, bei öffentlichen Terminen sowie privat und lernt den französischen Weltstar so ­manches Mal genauer kennen, als ihm lieb ist. Sapin zeigt einen Mann der Extreme, immer offen, selten taktvoll, der weder sich noch andere schont. Eine faszinierende,
mal sympathisch offene, aber auch nicht immer angenehme Gestalt, aus der Sapin das volle komödiantische Potential schöpft und sie zugleich mit der ­gebotenen Ernsthaftigkeit ­porträtiert. Seine Frau findet, so Sapin im Epilog, er komme im Comic als Arschkriecher rüber. In der Tat ­könnte man dem bekennenden Putin-Fan, zur Steuerflucht neigenden Superreichen und ­latenten Choleriker, der gerne ins Blaue hinein philosophiert und sich überhaupt sehr gerne reden hört, egal, ob es Sinn ergibt oder vollkommen widersprüchlich ist, mehr Paroli bieten. Aber man kann ja auch zwischen den Zeilen – oder in diesem Fall – zwischen den Bildern lesen.

Christian Meyer-Pröpstl

Mathieu Sapin: „Gérard. Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu“.
Reprodukt, 160 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 24 / CHF 36.90

Thomas Ott: “Route 66”

On Route 66

Nein, es ist nicht das Amerika von heute, es sind nicht die real existierenden USA aus den Fernsehnachrichten, es sind nicht Twittersalven und anderer Fake-Stumpfsinn, denen Thomas Ott auf seiner Reise von Chicago nach Los Angeles nachspürte – während seiner gemächlichen Fahrt auf der legendären Route 66 tauchte er tief ein in das mythische Amerika, das Provinz­amerika aus halbvergessenen Filmen, aus Krimis und Comics, aus Roadstories – das Amerika mithin, das die Kulisse so mancher seiner ­Comics bildet.
Thomas Ott fuhr die Route 66 im Auftrag von Louis Vuitton ab und legt nun, wie vor ihm Jiro Taniguchi (Venedig), Lorenzo Mattotti (Vietnam) oder Nicolas de Crécy (Mexico), sein querformatiges, wunderbar gedrucktes Reisebuch vor.
Drei Wochen lang war Thomas Ott auf einer der berühmtesten und mythenreichsten Strassen der Welt unterwegs; ein Freund steuerte den Wagen, er sass mit Fotokamera und ­Skizzenblock daneben. Sie fuhren, erinnert sich Ott im kurzen Nachwort, durch ein vergessenes Land. „Niemand fährt mehr auf der Route 66. Die Landschaften sind verlassen. Die Dörfer zerfallen. Die Strassen sind leer und still. Es sind Geisterstädte, in der Vergangenheit stecken­geblieben.“ Dieses „am Strassenrand vergessene“ Amerika hat Thomas Ott in rund 120 ­Schabkarton-Zeichnungen festgehalten: Endlose Himmel, Diners und Motels, Elvis und John Belushi, Indianersouvenirs und majestätische Landschaften, Kreuze und Skorpione, ­Gürtel­tiere und Taschenkrebse, Cowboys und Billboards, Rodeo-Plakate und verstaubte ­Vergnügungsparks…
Natürlich fahren wir – wie so oft bei ­Thomas Ott – mehr als knietief durch das Klischee, doch die Klischees und Rituale der Strasse seien das wahre Amerika, wie der ­französische Philosoph Jean Baudrillard 1986 in seinem hymnisch-kritischen Amerika festhielt: Nach einer 10’000 Meilen langen Reise durch die USA wisse man mehr über das Land als alle Soziologie- und Politikwissenschaftsinstitute zusammen. Nicht Museen, nicht Kirchen, nicht Kultur seien das wahre Amerika – sondern Strassen, Skylines, Wüsten und die Geschwindigkeit…
Genau das verdichtet Thomas Ott in ­seinem Reisebuch auf unnachahmliche Weise: Wie sehr sich Mythologie und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Klischees und Einzigartigkeit auf kaum aufzutrennende Weise durchdringen. Und so entwirft er Seite um Seite (menschen-)leere und düstere ­Szenerien, und in jeder Situation, jeder Beob­achtung keimt der Anfang einer weiteren ­hoffnungslosen Ott-Moritat.

Christian Gasser

Thomas Ott: “Route 66”.
Louis Vuitton Travel Book, 152 S.,
Hardcover, s/w,
EUR 45 / CHF 69.90

Heike Faller/Valerio Vidali:
„Hundert. Was du im Leben lernen wirst“

Lebenselixier

Als ich durch Zufall Heike Fallers Buch Hundert. Was Du im Leben lernen wirst in einer Buch­handlung in die Hand nahm, musste ich es nach kurzem Durchblättern umgehend weglegen. ­Tatsächlich hatten mich die Illustrationen und die Texte im ersten Moment zu sehr berührt. Es war, als ob mein eigenes Leben, das meiner Eltern, Tochter und Frau in staccato aufblitzte, von der Vergangenheit bis in die Zukunft. Nachdem ich eine Zeit lang um das Buch herumgeschlichen bin, nahm ich es nochmals in die Hand, und war ganz befangen, als sich mir der bibliophile Schatz erschloss. Heike Faller ist Journalistin und schreibt für das Zeit-Magazin. Die Idee zu ihrem Buch, das von 1 bis 99 Jahren pro Jahr jeweils eine Lebenserfahrung aufführt und illustriert, kam der Autorin, ­nachdem sie das erste Mal ihre Nichte in den Armen hielt und beobachtete, wie das Neuge­borene seine Umwelt wahrnahm, und sich dies im Laufe des Älterwerdens veränderte. Denn genau darum geht es hauptsächlich in Hundert, wie sich die Wahrnehmung der Welt im Lauf eines Lebens verändert. Mit Valerio Vidali hat Faller einen kongenialen Illustrator für das Projekt gewinnen können. Dessen stilisiert bunte Figuren machen dieses Werk sowohl Kindern als auch Erwachsenen zugänglich und bieten somit Möglichkeiten der Identifikation. Für das Buch hat Faller viele Gespräche geführt, mit Schulkindern und mit 90-Jährigen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, und allen hat sie dieselbe Frage gestellt: Was haben Sie
im Leben gelernt? Die Antworten sind so mannigfaltig, sie sind lustig und weise, berührend und klar, traurig und nachdenklich. Obwohl es subjektive Aussagen sind, findet man sich als Leser oft darin gespiegelt. Denn Faller ist es gelungen aus den Antworten der Interview­partner feinfühlig die Essenz zu ziehen und sie in wenigen Worten zu verdichten. Darüber hinaus hat die Autorin ein generationsübergreifendes Werk geschaffen, das auch die Wid­rigkeiten des Lebens anspricht, und dadurch versöhnlich wirkt. Hundert. Was Du im Leben lernen wirst ist ein Buch, worauf man sich jetzt bereits freut, es in fünf, zehn oder 20 Jahren wieder in die Hand zu nehmen und es irgendwann einmal den Nachkommen zu ­hinterlassen.

Matthias Schneider

Heike Faller/Valerio Vidali (Illustrationen):
„Hundert. Was du im Leben lernen wirst“.
Kein & Aber, 208 S.,
Hardcover, vollfarbig,
EUR 20 / CHF 29.90

Kurz und Gut

Von Christian Meyer-Pröpstl


Simon Schwartz hat mit Packeis und vor allem seinen Zeitungsstrips Vita Obscura gezeigt, dass er ein Händchen für ungewöhnliche Biografien hat. Das unterstreicht er mit seinem neuen Comic Ikon. Schwartz erzählt die Geschichte von Gleb Botkin, Sohn des Leibarztes des letzten russischen Zaren. Während die Zarenfamilie und Botkins Vater 1917 ermordet werden, kann der 17-jährige Gleb fliehen. Jahre später erfährt er, dass die jüngste Zarentochter Anastasia, mit der er aufgewachsen ist, eventuell noch lebt: Eine verwirrte Frau wird in Berlin aufgelesen und könnte Anastasia sein. Ein Verwirrspiel beginnt, in dem die unterschiedlichsten Interessen und Intrigen den weiteren Handlungsverlauf bis in die 1980er-Jahre prägen. Schwartz erzählt in Zeitsprüngen und verdichtet die Geschichte um seine beiden Hauptfiguren. Mit seinen stilisierten Zeichnungen mit kantigem Strich, starken Kontrasten und Rasterfolie entfaltet er eine düstere Atmosphäre.

Simon Schwartz: „Icon“.
Avant, 216 S.,
Softcover, s/w,
EUR 25 / CHF 37.90




Ihr Diplom machte die Zeichnerin Olivia Vieweg 2011 mit dem Zombie-Comic Endzeit. Jetzt ist eine neue, mit fast 300 Seiten wesentlich umfangreichere Fassung der Story erschienen: Vivi lebt in Weimar, das nach dem Auftauchen von Zombies neben Jena eine der wenigen Enklaven für Menschen geblieben ist. Sie ist in der ­Psychiatrie und wird von der Leiterin als eine Art unfreiwillige Ersatztochter gehalten. Bei einem Einsatz am löchrigen Schutzzaun von Weimar lernt sie die resolute Eva kennen. Das Schicksal verschlägt die beiden kurz darauf auf einen gefährlichen Trip nach Jena. Vieweg, die auf einem seltenen Pfad zwischen Graphic Novel und Manga wandelt, schickt ihre beiden jungen Heldinnen auf eine erstaunliche Reise zwischen blutrünstigen Zombies und blühenden Landschaften.
Frauke Berger steht noch am Anfang ihrer Karriere, doch ihr Debüt Grün erscheint gleich beim Splitter Verlag und ist zudem noch ein Mehrteiler. Zeichnerisches Vorbild für ihren Science Fiction ist eindeutig Moebius, die Story um die Nomadin Lis auf einem postapoka­lyptischen Planeten ist ähnlich abgedreht. Und hier und da vielleicht auch ein wenig ver­schwurbelt – aber das klärt sich vielleicht bei den nächsten Bänden.

Olivia Vieweg: „Endzeit“.
Carlsen, 288 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 22 / CHF 28.90

Frauke Berger: „Grün, Band 1“,
Splitter, 56 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 15,80 / CHF 23.90



Die andere Weltmacht hat sich auch der dritte und bislang letze Teil von Die besten Feinde. Eine Geschichte der Beziehungen der Vereinigten Staaten mit dem Nahen Osten vorgenommen. Der jüngste Band der Comic-Reportage von Jean-Pierre Filiu und David B. umfasst die Jahre 1984 bis 2013, nachdem sich die beiden vor­herigen Alben mit den Jahren 1783 – 1953 und 1953 – 1984 beschäftigt hatten. Es wird also immer ausführlicher, David B.s Zeichnungen bleiben indes gewohnt wild, assoziativ, ­symbolisch und surreal.

David B. & Jean-Pierre Filiu: „Die besten Feinde.
Eine Geschichte der Beziehungen der Vereinigten Staaten mit dem Nahen Osten“.
Avant, 96 S.,
Hardcover, s/w,
EUR 19,95 / CHF 29.90



Nach Der Ursprung der Welt formuliert Liv Strömquist nun ihre feministischen Thesen zu Der Ursprung der Liebe. Die Erfindung der romantischen Liebe dekonstruiert sie ebenso wie die Kategorien männlich und weiblich. Ihren historischen Abriss unterfüttert sie mit vielen Quellen, verliert darüber aber nicht ihren Humor, der ebenso schnoddrig ist wie die Schwarzweiss-Zeichnungen.

Liv Strömquist: „Der Ursprung der Liebe“,
Avant, 136 S.,
Softcover, s/w,
EUR 20 / CHF 29.90



Thomas Wellmann erzählt Anekdoten aus dem Leben der drei lauten und wilden Provinz­mädchen Nika, Lotte und Mangold. Die gehen zur Schule, finden Jungs in der Regel doof, machen aber selber auch viel sogenannten Jungskram. Ein fröhlicher und kunterbunter Angriff auf die Geschlechterklischees. Alters­empfehlung wahrscheinlich wie bei MB-Spielen: 9 bis 99.

Thomas Wellmann: „Nika, Lotte, Mangold!“.
Rotopol, 92 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 15 / CHF 22.90




Michele Petrucci hat das abenteuerliche Leben von Reinhold Messner in aufwändigen Aqua­rellzeichnungen festgehalten. Im Vorwort erklärt der Bergsteiger, dass er Petrucci freie Hand gelassen habe, ihn lediglich auf seine Bücher als Grundlage für den Comic verwies. Das Ergeb­nis ist entsprechend begeistert von Messners Heldentaten. Die uneingeschränkte Lobhudelei ist nicht nur ermüdend, sondern vollkommen unnötig. Denn ein freierer Blick auf die sportlichen Extremleistungen wäre sicher ­spannend gewesen. So werden die bekannten Stationen abgeklappert, Neues erfährt man nicht.
Ähnliches gilt auch für Xavier Bétaucourt, Bruno Cadène und Éric Cartier. Sie erzählen in One, two, three, four, Ramones! die Geschichte der Proto-Punks aus New York aus der ­Per­spektive des Gitarristen Dee Dee Ramone. Dee Dee, der von 1974 bis 1989 bei den Ramones war, zeichnete für einen Grossteil der Songs verantwortlich. Allerdings kämpfte er auch zeitlebens mit seiner Drogensucht, der er 2002 mit 50 Jahren erlag. Der Comic schildert Dee Dees persönliche Probleme, die bekannten Rangeleien innerhalb der Band sowie das ­musikalische Auf und Ab der Punk-Legende.

Michele Petrucci: „Reinhold Messner“.
Knesebeck, 88 S.,
Hardcover, farbig,
EUR 22 / CHF 33.90

Bétaucourt; Cadène & Cartier: „One, two, three, four, Ramones!“.
Knesebeck, 96 S.
Hardcover,
EUR 20 / CHF 29.90

Biografien

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Andrew Greenstone
zeichnet seit seiner Geburt 1986 in Brunswick (Maine, USA) Comics, nach seiner Ausbildung am Savannah College of Art and Design sogar noch bessere. Später verbrachte er eine Zeit in White River Junction (Vermont), allerdings ohne die dortige Comic-Schule zu besuchen. Er ist einer der ­Gründungsväter der Secret Society of Ghostscouts und lebt zurzeit als selbständiger Comic-Zeichner in Hollywood. 2017 schrieb und zeichnete ­Andrew für das
höchst empfehlens­werte Online-Comic-Magazin www.thenib.com die Geschichte über das Contact in the Desert-­Festival im süd­kalifornischen Joshua-Tree-Nationalpark. Es ist Andrews erste internationale Publikation und obwohl er so tut, als ob das keine grosse Sache wäre, hat er schlaflose Nächte und sinniert, was die Leser*innen wohl über ihn denken und dass er doch einfach nur geliebt werden möchte.

comicsareforkids.com
@comicsareforkids

Ulli Lust
*1967, zog 1995 von Wien nach Berlin. Seither zeichnet sie Comics – mehrmals auch schon für STRAPAZIN – mit pointierten Beobachtungen aus dem modernen Alltag. 2009 erschien Heute ist der letzte Tag vom Rest Deines Lebens (avant-verlag), eine umfangreiche Bilderzählung über ihre Jugendzeit, in der
sich Reise- und Schel­menroman mit einem existenziellen Teen­agerdrama verbinden. Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und am Comic-­Festival in Angoulême ausge­zeichnet. 2013 erschien Flughunde im Suhrkamp-Verlag, eine Comic­-Adaption des gleichnamigen ­Romans von Marcel Beyer. Wie ich versuchte ein guter Mensch zu
sein (Suhrkamp, 2017) schaffte es 2018 in die Shortlist für den Fauve d’or in Angoulême. Seit September 2013 arbeitet Ulli auch als Dozentin für Comic und ­Illustration an der Hochschule Hannover.
Die hier abgedruckten Seiten stammen aus der Serie The Simple Stroll, entstanden 2016 und 2017 für das englischsprachige Berliner ­Stadtmagazin Ex-Berliner.

www.ullilust.de

Sharad Sharma
lebt in New Delhi, arbeitete einige Zeit bei ver­­schie­denen Magazinen und Zeitungen und gründete in den späten ­Neunzigerjahren die Organisation World Comics India, um mittels Workshops die Idee der Grassroots-­Comics zu verbreiten, die ­Menschen in abgelegenen Gebieten zeigt, wie man mit selbstgezeichneten Comics soziale Kampagnen zum Laufen bringt, z.B. gegen das im ländlichen Indien ver­brei­tete Töten neu­geborener ­Mädchen, gegen Körperstrafen, Pädophilie oder ganz ­allgemein gegen Vorurteile gegenüber Minder­heiten.
Die hier abgedruckte Geschichte über militante „Kuh-Schützer“ ­entstand kurz vor seinem Aufenthalt am diesjährigen Luzerner Comics-Festival Fumetto, wo er bereits zum zweiten Mal seine Workshops ­veranstaltete.

www.worldcomicsindia.com

Stefan Vecsey
*1984, lebt und arbeitet in Hamburg als Illustrator in den Bereichen Reportage, ­Editorial- und Buchillustration. Seine gezeichnete Reportage
über das autonome Kulturzentrum Reitschule in Bern sorgte ­schweizweit für Aufsehen. Nach seinem Bachelor-Studium an der HSLU in Luzern holt er sich zurzeit den Master of Arts in Design an der HAW Hamburg. Stefans Leidenschaft gilt dem Portraitieren ­eigenartiger ­Menschen und Orte; für seine speziell für STRAPAZIN ­ge­zeichnete Reportage über Obdachlose in Hamburg streifte er im vergangenen Winter durch die Gassen von St.Pauli.

Vecsey.ch
@vecsey_illustration

Walter Steffek
*1949 in Worms, Deutschland, lebt seit 20 Jahren in der Bretagne. Als gelernter Buch- und Tiefdrucker hatte Walter schon immer eine Affinität zu Büchern, Zeitschriften, Magazinen und ganz speziell zu Comics; seit einigen Jahren zeichnet er selber Bildergeschichten und zwar so gut, dass er 2017 den Wett­bewerb des Comic Shop Basel und damit einen Aufenthalt im ­STRAPAZIN-Atelier gewann. Nachdem wir seinen Erzählungen über seine Wahlheimat Bretagne gelauscht hatten, war uns klar, dass wir eine der Geschichten un­bedingt als Reportage-Comic im Heft haben wollten und zwar die Story über die – nein, nicht Flussfischer – Fussfischer!

@keffetsredlaw