DAS MAGAZIN

Nimms in den Volksmund!

Lange ist’s her, da besass ich Ernest Bornemanns wunderbares Buch «Sex im Volksmund. Die sexuelle Umgangssprache des deutschen Volkes», ein Füllhorn schweinischer Verse, versauter Kinderlieder, schmutziger Abzählverse und obszöner Gedichte, aus dem ich meinen Freundinnen jeweils spätabends zwecks Einstimmung in die bevorstehenden Aktivitäten vorzulesen pflegte. Irgendein WG-Bewohner auf der Suche nach Stimulantien entlieh sich später das ebenso lustige wie lustvolle Werk und behielt es gleich für sich. Schade, denn unterdessen ist es längst vergriffen. Zum Glück gibt es nun im jungen Zürcher Verlag Walde+ Graf eine nicht minder verschärfte Sammlung deftiger Volksdichtungen, in der es, genau wie im vorliegenden Heft um die letztlich wichtigsten Dinge des Lebens geht, um Geschlechtlichkeit und das ganze Drumherum, ums Ficken, Bumsen, Vögeln, ums Lecken, Wichsen, Blasen. Von A bis Z, also von «Der Adler fällt vom Büchsenschuss, der Arschfick ist ein Hochgenuss» bis «Die Ziege auf dem Acker grast, die Zunge um den Kitzler rast» führen uns die beiden Herausgeber Andreas Fischer und Manfred C. Reimann sowie die Herausgeberin Gesine Karge vor, was Ihnen beim Durchstöbern der expliziten deutschsprachigen Lyrik des 20. Jahrhunderts besonders ins Auge oder sonst wohin stach.
Und dies tun sie zum Glück weit weniger enzyklopädisch und akademisch als damals Bornemann, sondern stets mit Freude an der Sache und ohne falsche, sprich aufs politisch Korrekte zielende Hemmungen; sogar modische tierschützerische Überlegungen werden locker übergangen, was auch interessanten und in den landläufigen TV-Tiersendungen eher unterdrückten Beobachtungen Platz verschafft: «Ein Elefant poppt alles auf der Welt, weil ihm das Poppen so gefällt. Am liebsten poppt er kleine Spatzen, weil sie am Schluss so lustig platzen.»
Unterbrochen werden die Texte von vierzehn farbigen Bildtafeln, hübschen geilen Miniaturen aus dem letzten Jahrhundert, an denen sich zu ergötzen ein spritziges Vergnügen ist. Bleibt zu hoffen, dass bald auch die nächsten beiden der drei geplanten Bänden erscheinen.

Christoph Schuler

Fischer, Karge, Reimann (Hrsg.):
«Einmal eins ist eins, steck dein Ding in meins», Band 1,
(Volkserotik). Walde+Graf, gebunden, vierfarbig, € 19.95 / sFR. 32.—

 

 

Pulp Fiction

«Die Nacht war frisch. Parker verspürte plötzlich Hunger. Er ging in sein Hotel, wo eine heisse Dusche und ein saftiges Steak auf ihn warteten.» An diesen Sätzen wäre nichts Aussergewöhnliches, hätte besagter Parker Momente vorher nicht einen Mann mit seinen blossen Händen umgebracht. Nicht weiter erstaunlich, denn Parker ist ein hartgesottener Ganove aus der Feder des amerikanischen Krimiautoren Donald Westlake. Unter dem Pseudonym Richard Stark schrieb er zwischen 1962 und 1974 mehrere Romane, deren Hauptfigur der kaltblütige Gangster Parker ist; ein Mann, der– so Westlake – aussieht wie der Schauspieler Jack Palance. Der wortkarge Parker, der lieber seine Fäuste sprechen lässt, ist ein physischer Mensch, der einzig seinem Körper vertraut. So schreitet er am Anfang seiner Odyssee zu Fuss über die George Washington Bridge Richtung New York, wo er seine Gegner ausschaltet.
Der erste Roman aus der Parker-Serie, der den Titel «The Hunter» trägt, wurde nun vom kanadischen Zeichner Darwyn Cooke adaptiert. Cooke hat sich in den 90ern einen Namen gemacht als Animator von Batman- und Superman-Zeichentrickserien und später als Zeichner und Texter für Marvel und DC. In seiner überaus erfolgreichen Mini-Serie «The New Frontier» – eine Geschichte an der Schwelle zwischen «golden» und «silver age» des Super-
heldencomics – wird Cookes stilistisches Flair für die 50er und 60er Jahre ersichtlich. Daher ist keiner so geeignet wie er, Mode und Architektur des 1960er-Krimis einzufangen: New Yorks Fassaden mit seinen Leuchtreklamen, Männer in eng geschnittenen Anzügen, schma-len Krawatten und Fedoras, Frauen im Jackie-Kennedy-Stil. Im Gegensatz zur Eleganz der Umgebung stehen die männlichen Protagonisten der Unterwelt mit ihren kantigen Gesichtern und groben Zügen. Diese wiederum passen zur kruden Geschichte. «The Hunter» ist nämlich nichts anderes als eine einfache Rachegeschichte eines Mannes, der nach einem erfolgreichen Coup von seiner Freundin und seinem Partner betrogen wird und nun zielstrebig wie ein «Pistolenschuss in die Brust» in New York einfährt, um die Verräter zu töten und sein Geld wiederzubekommen.


Giovanni Peduto

Darwyn Cooke: «Richard Stark’s Parker: The Hunter».
IDW Publishing, San Diego 2009, 144 S., gebunden, zweifarbig, $ 24.99

 

 

 

Subjektive Liebe

Das Comicschaffen im frankophonen Raum sorgte in letzter Zeit für wenig Aufregung, umso mehr setzt man die Hoffnung auf junge Autoren. Der 26 jährige Bastien Vivès sorgte erstmals für Aufsehen, als er im letzten Jahr mit dem Comic «Le goût du chlore» (erscheint im Sommer bei Reprodukt unter dem Titel «Der Geschmack von Chlor») in Angoulême den Preis für den besten Nachwuchszeichner erhielt. Die Geschichte handelt von einer flüchtigen Liebesgeschichte im Hallenbad und von der Schüchternheit des Protagonisten, der die Liebe im Keim ersticken lässt. Das Ganze in einem simplen, in Hallenbadfarbton gemaltem Stil. Der erzählerische Schwerpunkt und zugleich das Lieblingsthema von Bastien Vivès ist die schwierige, erste Liebe zwischen jungen Menschen. So auch in seinem folgenden Buch «Dans mes yeux». Die relativ einfache Geschichte erzählt von einer Liebe zwischen zwei Studenten. Der Protagonist (oder vielleicht die Protagonistin) lernt ein Mädchen kennen, sie gehen aus, erster Kuss im Kino, unverständliche Traurigkeitsattacken des Mädchens, erster Sex, das Mädchen hat Gewissensbisse, Trennung, zurück bleibt ein ratloser Protagonist.
Die Geschichte ist in diesem Fall weniger ihres Inhalts wegen interessant, sondern wegen ihrer graphischen und erzähltechnischen Eigenheit. Vivès – dessen Arbeitsmethode es ist, alles, was er sieht, im Kopf zu speichern und dann aus der Erinnerung zu zeichnen – erzählt die Handlung aus dem subjektiven Blickwinkel des Protagonisten. Die Leser sehen mit den Augen der Hauptfigur, während deren Stimme unhörbar bleibt. Das zwingt die Leser, sich die Fragen oder Antworten des Protagonisten hinzuzudenken. Vivès hat die Technik zwar nicht erfunden, doch seine fragmentarische Erzählung, die der Leser selber zu deuten hat, verleiht dem Buch eine gewisse Spannung. Ebenso interessant ist der Gebrauch von Farbstiften, welche den Zeichnungen eine impressionistische Stimmung verleihen und den subjektiven Blick betonen.


Giovanni Peduto

Bastien Vivès: «Dans mes yeux».
Casterman KSTR, 2009, 133 S., gebunden, farbig, € 16.— / sFr. 31.—

 

 

Grosse Gefühle

Der deutsche Titel des neuen Taniguchi-Bandes klingt wie ein philosophisches Werk: «Von der Natur des Menschen». Philosophiert wird hier zwar nicht, aber um den Menschen geht es sehr wohl. Jiro Taniguchi hat acht Erzählungen des japanischen Autors Ryuichiro Utsumi zeichnerisch umgesetzt, in denen Menschen in verschiedensten Lebenssituationen aufeinander treffen, Erwachsene und Kinder, Verwandte und Nachbarn. Ein Mann trifft seine Tochter wieder, die er 23 Jahre nicht gesehen hat. Ein Grossvater macht sich Sorgen um seine Enkelin, weil sich ihre Mutter verantwortungslos verhält. Zwei Jungen versuchen ihren Hund zu finden, den sie weggeben mussten. Die Geschichten handeln von zwischenmenschlichen Alltäglichkeiten, von Versöhnungen, Verlusten, späten Einsichten, oder auch einer Liebe in hohem Alter. Eine perfekte Thematik also für Taniguchi, welcher der Entwicklung von Charakteren stets viel Raum gibt und bei dem die innere Handlung sogar häufig eine grössere Rolle einnimmt als die äussere. Und tatsächlich wird man in dieser Hinsicht nicht enttäuscht. Taniguchis klarer, ruhiger Stil fängt den nachdenklichen Ton der Erzählungen einfühlsam ein. Er illustriert die Handlung teils in poetischen Naturbildern, teils in detailreichen Darstellungen von Grossstädten und Innenräumen und setzt dabei auch immer wieder seine faszinierenden Perspektivenwechsel ein.
So weit, so gut – wenn nur der Text nicht wäre. Davon gibt es nämlich ganz einfach zu viel. Taniguchi ist normalerweise gerade dann am stärksten, wenn er ohne Worte auskommt, denn dann erzählt er am meisten. Hier jedoch ist in die meisten der Zeichnungen erzählender Text eingebaut, der an vielen Stellen gar nicht notwendig wäre um die Handlung zu verstehen. So wird leider immer wieder die magische Ruhe gestört, die Taniguchis Bilder ausstrahlen. Hinzu kommt, dass einige Passagen etwas arg gefühlsbetont daherkommen. Sie bewegen sich oft nah am Kitsch und übertreten diese Grenze sogar in einigen Fällen.
Ein Genuss ist «Von der Natur des Menschen» trotzdem, und zwar einfach aufgrund der meisterhaften und stimmungsvollen Zeichnungen, die einen unwiderstehlich in ihren Bann ziehen. Für Taniguchi-Fans ist der Band sowieso ein Muss.

Jan Westenfelder

Ryuichiro Utsumi (Text), Jiro Taniguchi (Zeichnungen):
«Von der Natur des Menschen».
Carlsen, 219 S., Softcover, schwarz-weiss, € 14.90 / sFr. 27.50

 

 

Voice of a Generation

«One Model Nation» entstand aus einer Idee von Courtney Taylor, dem Frontmann der US-Rock-Band The Dandy Warhols. Passenderweise geht es dabei auch um eine Band, eben One Model Nation, eine fiktive deutsche Industrial-Art-Punk-Band, die Ende der 70er Jahre grosse Erfolge feiert. Immer wieder werden ihr jedoch auch Verbindungen zur RAF unterstellt, und tatsächlich versuchen die Terroristen – wie aber auch die Medien und der Staat – das Image und die Musik der Band für Propaganda-Zwecke zu benutzen. In der Folge werden die Musiker von One Model Nation immer wieder als «Galionsfiguren ihrer Generation» bezeichnet, die sie jedoch gar nicht sein wollen. Wichtig ist für sie einzig ihre Musik, weshalb sie versuchen, sich von politischen Kontexten zu distanzieren, worin sie letzten Endes aber scheitern.
Der Plot ist also äusserst viel versprechend, gerade auch, weil ein Musiker für die Handlung verantwortlich zeichnet. Erstaunlicherweise spielt die Musik selbst aber gar keine grosse Rolle. Aufgrund der Instrumente und des Stylings der Band kann man sich zwar ungefähr vorstellen, wie One Model Nation klingen könnte, nämlich wie eine Mischung aus Kraftwerk, DAF und den Einstürzenden Neubauten, thematisiert wird das aber nicht weiter. Überhaupt muss man bei der Handlung einige Abstriche machen, denn sie wirkt stellenweise unnatürlich verkürzt. So werden Handlungsstränge nicht zu Ende geführt und auf Ereignisse später kein Bezug genommen. Auch die Dialoge wirken mitunter etwas hölzern und uninspiriert. Was dazu am Ende irritiert: Klappentext und Prolog versprechen, dass die Umstände des Verschwindens der Band geschildert würden, doch dies ist nicht der Fall.
Umso gelungener ist die grafische Umsetzung der Geschichte. Besonders durch spezifische Details im Hintergrund gelingt «Street Angel»-Zeichner Jim Rugg eine realistische Darstellung der Zeit und der Szene, wobei im Mittelpunkt immer die Figuren stehen. Sämtliche Farben sind durch Grautöne bestimmt, wodurch der Eindruck von verblichenem dokumentarischem Material entsteht. Wenn etwas farblich hervorgehoben wird, dann durch Rot, das vor den Grautönen noch knalliger und aggressiver erscheint. Die Panels sind grösstenteils regelmässig angeordnet, aber immer wieder werden auch textlose, sozusagen «stumme» Splash Panels eingebaut,die – Schnappschüssen gleich – besondere Momente der Handlung hervorheben und festhalten.
Etwas enttäuscht ist man nach der Lektüre dennoch. Zu verkürzt und ausschnittsartig werden hier Fakten aus der Geschichte der RAF eingebaut und im Dienste der Story auch verändert, und zu wenig erfährt man über die Musik der Band. Spannend und interessant ist der Comic aber trotzdem. Abgesehen von den tollen Zeichnungen wird hier zumindest ein Stimmungsbild vermittelt, und genau darin liegt die Stärke von «One Model Nation».

Jan Westenfelder

C. Allbritton Taylor (Text),
Jim Rugg (Zeichnungen):
«One Model Nation».
Image Comics, Berkeley CA, 2009, 144 S., Softcover, farbig, $ 18.—

 

 

Aufmerksamer Beobachter

Eigentlich gab's während der Wirtschafts- und Bankenkrise wenig zu lachen, hätte nicht Noyau mit seinen Cartoons die unfreiwillige Komik des nicht selten surreal anmutenden Geschehens um faule Wertpapiere, grandiose Bankrotte, überrissene Boni, uneinsichtige Manager und den die Bankenwelt rettenden «Supersteuerzahler» blossgestellt. Damit bewies er Woche für Woche in der in Zürich erscheinenden Sonntagszeitung, dass eine witzige Zeichnung ebensoviel aussagen kann wie der klügste Leitartikel, und das erst noch prägnanter und verständlicher. In «Die Chronik der Krise» rollt dieser ökonomische Wahnsinn ohne Methode in 49 Zeichnungen nochmals ab – eingefangen in Noyaus aufwändig und elegant gemalten Miniaturen. Und weil die Geschäftswelt wenig Einsicht zeigt, wird diese Fibel weniger an Aktualität verlieren, als uns lieb ist.
Noyau – eigentlich Yves Nussbaum, ein in Zürich lebender und in Strapazin immer gern gesehener Westschweizer – ist eine Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Zeich- nerszene. Er ist, wie seine vier in den letzten Monaten erschienenen Bücher beweisen, nicht nur ein überaus begabter, sondern auch ein überaus vielseitiger Comic-Zeichner, Maler, Cartoonist und Illustrator. Er beherrscht den politischen Kommentar ebenso wie die hohe Kunst des komischen Comic-Strips; in «Nile's Lines», seinem Skizzenbuch eines Ägypten-Aufenthalts, entpuppt er sich als gut beobachtender Reisezeichner, und ähnlich treffsicher versieht er im Postkartenbuch «Isch es wahr?» Matto Kämpfs schwarzhumorige, in währschaftem Schweizer Dialekt verfasste Kürzest-Moritaten aus den gottvergessenen Emmentaler Tälern mit altmeisterlich gemalten, Postkarten nachempfundenen Impressionen aus abgelegenen Käffern, wobei er jeglichen idyllischen Kitsch subtil unterläuft.
Zur Höchstform läuft Noyau auf, wenn er mit hintergründigem Humor Kunst, Künstler und den Kunstmarkt reflektiert. Vor einigen Jahren setzte er der Schweizer Kunst der letzten hundert Jahre in seinem epochalen «Musée Réduit» (das die Edition Moderne in Form einer Landkarte veröffentlichte) ein liebe- und respektvoll ironisches Denkmal. Nun, in «Faire Surface», setzt er sich mit monströsen Kunst-am-Bau-Projekten und abstrakten Gemälden auseinander, wobei ihm das Kunststück gelingt, selbst die abstraktesten Werke so in Szene zu setzen, dass sie in seinen, eigenen, Bildern und Cartoons figurativ werden. Ein Kunstgenuss der besonderen Art.


Christian Gasser

Noyau: «Faire surface».
Cadrat Editions, 88 S., Hardcover,
farbig, sFr. 60.­—

Noyau/Peter Schneider:
«Die Chronik der Krise».
Walde+Graf, 64 S., Hardcover,
farbig, sFr. 25.—

Noyau: «Nile's Lines».
Gabel Shisha Publishing, Aswan/Zürich,
64 S., Softcover, farbig, sFr. 21.—

Matto Kämpf / Noyau: «Isch es wahr?».
Der gesunde Menschenversand,
Luzern, 12 Postkarten, farbig, sFr. 19.—

 

 

Der Logiker als Superheld

Der Barbier von Sevilla hat ein einfaches Prinzip: Er rasiert nur jene, die sich nicht selber rasieren. Damit verdient er sich sein Geld, und seine Kunden sind zufrieden. Doch wenn er sich selber rasiert, kommt er ins Grübeln, denn nun rasiert er ja doch nicht nur jene, die sich nicht selber rasieren. Und wenn er sich gar nicht rasiert, dann rasiert er mindestens einen nicht, der sich nicht selber rasiert. Der Barbier zerbricht sich den Kopf und verliert die Ruhe in den Gedanken. Sein Fall erinnert an den antiken Kreter, der sagte, alle Kreter würden lügen – doch wenn er damit die Wahrheit sagte, dann log er.
Die Beschäftigung mit Paradoxen ist nicht jedermanns Sache, schon gar nicht mit Paradoxen der Mathematik. Und doch gab es Denker, die sich ganz der Suche nach den Fundamenten der Mathematik hingaben. Einer von ihnen war der englische Philosoph Bertrand Russel, der bemerkte, dass – ähnlich wie beim Barbier – die Menge aller Mengen, die sich nicht selber enthalten, ein Paradox ist. Denn diese Menge ist nur dann Element ihrer selbst, wenn sie es nicht ist. Ein anderer war der österreichische Logiker Kurt Gödel, der die Mathematik in eine «Grundlagenkrise» stürzte, weil er beweisen konnte, dass es – wie beim Kreter – auch in jedem widerspruchsfreien formalen System der Mathematik Sätze geben kann, die wahr, aber trotzdem nicht beweisbar sind.
Kann man aus derart alltagsfernen Gedankenspielen einen unterhaltsamen Comic formen? Ja! Der Mathematiker Apostolos Doxiadis, der Computerwissenschaftler Christos H. Papadimitrou, der Zeichner Alecos Papadatos und die Koloristin Annie di Donna haben es versucht – und ihr Experiment gelang. In Griechenland mauserte sich ihr «Logicomix» zu einem veritablen Bestseller, und die renommierten Zeitungen Financial Times und New York Times waren des Lobes voll für den Comic, in dem »Superhelden über Mathematik und Wahrheit debattieren».
«Logicomix» besticht mit einer ästhetischen und erzählerischen Eleganz, die Manga, «City of Glass» (Mazzucchelli) und «Maus» (Art Spiegelman) kombiniert – und auch der mathematisch unbedarfte Leser wird mitgerissen von dieser Odyssee, die Männer auf der Suche nach den unerschütterlichen Fundamenten der Mathematik an den Rand ihres Verstands und darüber hinaus treibt.

Florian Meyer

Apostolos Doxiadis, Christos H. Papadimitrou,
Alecos Papadatos & Annie di Donna.
«Logicomix. An Epic Search for Truth». Bloomsbury, 2009,
347 S., Softcover, farbig, £ 16.99 / sFr. 45.90

«www.logicomix.com/en/»
Videos zur Entstehung von
«Logicomix»:
«www.youtube.com/user/margarita metzger#p/a/f/0/XebglmXrgEc»

 

Die Geometrie der Emanzipation

Ein Mann geht an die Decke. Der Titel von Katharina Greves Comic-Novelle ist wörtlich gemeint: Eines Tages löst sich ein Mann ohne grosses Aufheben von den Zwängen des dreidimensionalen Raums und setzt sich – sozusagen verkehrt herum – in der Stube auf die Zimmerdecke. Einfach so, als wäre dies die normalste Sache der Welt.
Der Mann heisst Franz Fink und ist Fahrstuhlführer im Berliner Fernsehturm. Täglich führt er die Besucher hinauf und hinunter, und es käme ihm nie in den Sinn, dass sein Beruf etwas Besonderes sein soll, nur weil sich ein Fahrstuhl-Führer in der Senkrechten bewegt, obschon die Waagrechte die natür­liche Bewegungs- und Orientierungsrichtung des Menschen ist.
Der Raum und seine Dimensionen spielen in «Ein Mann geht an die Decke» eine zentrale Rolle: Die Welt des Franz Fink ist durch und durch geordnet, fast kleinkariert. Sein Leben vollzieht sich ohne Überraschung zwischen Gedränge, Enge, Schwerkraft und Kreuzworträtsel. Raumnot leidet Franz Fink eigentlich nur in den eigenen vier Wänden, weil seine Frau Inge die ganze Wohnung mit Kartons voller Antiquitäten verstellt. Nur das Sofa im Wohnzimmer ist frei: Auf dieses setzen sich Franz und Inge allabendlich nebeneinander, um Kreuzworträtsel zu lösen.
Doch dann passiert etwas Unerwartetes: Im Fernsehturm spricht eine Frau Franz aus heiterem Himmel und gegen alle Regeln der Schwerkraft von oben herab an! Von diesem Moment an steht Franz Finks Welt auf dem Kopf: Er lernt Gabriele Koschel kennen, die in einer Welt lebt, die quer zum normalen Raum steht. Und die Frau lehrt ihn, wie man sich von der Schwerkraft emanzipiert. Doch Franz Fink lässt sich von der seitenverkehrten Alternativ-Welt nicht verführen sondern emanzipiert sich zu Hause.
So ruhig wie Franz Finks Leben ist auch Katharina Greves Strich und Humor. Zwar bleiben Witz und Originalität von Marc Antoines Mathieus «Der Ursprung» weiterhin das Mass aller Dinge im Comic, wenn es um den Raum und seine Dimensionen geht, doch besticht «Ein Mann geht an die Decke» mit einem konsequenten Erzählverlauf, bei dem sich die ganze Kraft der Emanzipation im letzten Panel ballt und entlädt: Ein Mann hat sich befreit – und geht an die Decke.

Florian Meyer

Katharina Greve:
«Ein Mann geht an die Decke».
Die Biblyothek, Edition Moritate, 46 S., Hardcover, s/w, € 14 / sFr. 24.90

«www.ein-mann-geht-an-die-decke.de»

 

 

Abstraktionen

Es ist die alte Frage, die sich immer wieder in die Diskussionen über das Wesen der Comics drängt: Sind Comics eine ausschliesslich figurative und narrative Ausdrucksform? Oder können Comics abseits von Narration und Figuration als Comics funktionieren und etwas vermitteln? So konsequent wie die von Andrei Molotiu herausgegebene Anthologie «Abstract Comics» wurde diese Frage meines Wissens noch nie gestellt; dieser schwere, geradezu luxuriöse Hardcover-Band versammelt ab-
strakte Comics von 43 Künstlern, und abstrakt bedeutet hier wirklich abstrakt, nämlich gar nicht oder nur andeutungsweise figurative Bilder und keine offensichtlich narrativen Bildfolgen.
Das mag bis zu einem gewissen Grad widersinnig klingen, andererseits aber beweist die Liste der veröffentlichten Autoren (von Robert Crumb und Victor Moscoso über Gary Panter und J.R. Williams bis zu Lewis Trondheim, James Kochalka oder den Schweizer Ibn Al Rabin, sowie überraschenderweise auch «Mutts»-Zeichner Patrick McDonnell), dass sich in den letzten vierzig Jahren durchaus nam- und ernsthafte Comic-Autoren mit der Frage nach der Abstraktion im Comic auseinandergesetzt haben.
Die stilistische Bandbreite ist gross – sie reicht von Underground-Kritzeleien über geometrische Figuren und minimalistische Krakeleien bis zu bunten Explosionen; manchmal hat man den Eindruck, an Alpträumen, Drogentrips und anderen Erleuchtungen teilzuhaben. Andere Abstraktionen wirken wie impressionistische Spaziergänge oder Erinnerungsfragmente, oder wie der Versuch, mathematische Formeln zu visualisieren; bei wieder anderen scheint es sich um ästhetische Stilübungen zu handeln. Wobei diese Beschreibungen und Interpretationen mit Vorsicht zu geniessen sind, da sie letztlich vor allem einiges über den Betrachter und sein Bemühen, Sinn und Bedeutung in einer Bildfolge zu lesen, aussagen… Letztlich ist allen Comics der bewusste Versuch gemein, sich zumindest während ein paar Seiten von Figuration und Narration zu befreien und sich in einem reinen Bilderfluss treiben zu lassen – um anschliessend wieder zurück ins Konkrete zu finden, zur Story. So ergeht es auch dem Betrachter und Leser von «Abstract Comics» – der Wälzer ist gerade in diesen sehr story-orientierten
Zeiten ein willkommener und inspirierender Augenöffner und Bewusstseinserweiterer, aber nach ein paar Seiten hat man umso mehr Lust wieder auf etwas Handfestes.


Christian Gasser

Andrei Molotiu (Hrsg.):
«Abstract Comics».
Fantagraphics Books, Seattle, 2010, 232 S., Hardcover, farbig, $ 40

 

Perspektivenwechsel

Dass sich Posy Simmonds für «Tamara Drewe» von Thomas Hardys «Am grünen Rand der Welt» hat inspirieren lassen, erkennt der einschlägig Belesene bereits auf der ersten Seite: Die Geschichte beginnt mit einer Zeitungsanzeige, in der ein Refugium für Ruhe suchende Schriftsteller mit eben jenem Titel des Hardy-Romans von 1874 beworben wird. Stonefield heisst die ehemalige Farm, auf welcher der bekannte Krimiautor Nicolas Hariman mit seiner Frau lebt. Während Hariman meist zurückgezogen in seinem Cottage schreibt, kümmert sich seine Frau Beth rührend um den Betrieb. Sie versorgt die Gäste, tätigt sogar Schreibarbeiten für sie, und ihrem Mann nimmt sie alle Mühsal des Alltags ab. Der lässt sich das gefallen, versüsst sich das Leben allerdings auch noch regelmässig mit Affären. Als Tamara Drewe auftaucht, die Tochter der verstorbenen Nachbarin von der Winnards Farm, wirkt die auffällige Schönheit wie ein Katalysator auf das oberflächlich funktionierende Gefüge auf der Farm und im anliegenden Dorf.
Posy Simmonds hat sich mit ihrer Geschichte ganz dem Realismus verschrieben. Sie beschreibt das Leben zwischen Stonefield, der Winnards Farm und dem Dorf, das gespalten ist zwischen Alteingesessenen und stadtflüchtigen Neureichen, minutiös und dem Schein der Idylle angemessen in lieblichen Farbzeichnungen. Simmonds Geschichte suggeriert zwar bis zum Schluss, auf Spannung angelegt zu sein, doch obwohl ein dickes Ende schliesslich kommt, geht es hier vor
allem um genaue Charakterbeschreibung der Figuren. Das gelingt der Autorin mit ständigem Perspektivenwechsel und einer ungewöhnlichen Text-Bild-Kombination vorzüglich. Klassische Comicpassagen werden immer wieder von längeren Textblöcken unterbrochen, in denen sie dem Stream-of-Consciousness der einzelnen Protagonisten ihren freien Lauf lässt. Der Sprung zwischen den Erzählformen irritiert zunächst, entfaltet aber schnell ein spannendes, kaleidoskopartiges Bild, in dem jede der sehr unterschiedlichen Figuren ihre innersten Beweggründe offen legt. Dadurch, dass der Leser alles weiss, wird die Geschichte nicht minder spannend. Das Spannende ist, wie diese Figuren durch ihr Denken und Handeln umeinander kreisen, sich anziehen, gegeneinander prallen und sich wieder abstos­sen. Ein in seiner Beobachtung menschlicher Affekte bestechend genaues und in seiner formalen Gestaltung kluges Werk.

Christian Meyer

Posy Simmonds: «Tamara Drewe».
Reprodukt, 136 S., Softcover, farbig,
€ 20 / sFr. 37.90

 

 

Vogelfrei

Mit seinen 450 Seiten ist das monströse Werk nicht nur mit Abstand die bis dato dickste deutschsprachige Graphic Novel, es ist wohl auch die gelungenste. Die autobiographische Geschichte erzählt von der damals 17-jährigen Autorin, die Mitte der Achtzigerjahre als Punk in Wien lebt. Als sie Edi trifft, beschliessen die beiden noch minderjährigen Mädchen, ohne Gepäck und Geld nach Italien zu trampen. In Rom treffen sie auf Gleichgesinnte, und das Leben in der neu gewonnenen Freiheit macht zunächst noch Spass. Als die kalte Jahreszeit näher rückt, planen sie zusammen mit dem Junkie Andreas weiter nach Süden zu ziehen. Aber bereits in Neapel verliert die Hauptprotagonistin ihre Weggefährten. Sie reist alleine nach Palermo, in der Hoffnung, dort ihre Freunde wiederzutreffen. In Palermo findet sie sich in einem komplett anderen Kulturkreis wieder. Dem dortigen Machismus ist sie unvorbereitet ausgeliefert. Edi, die sie später hier wieder trifft, ordnet sich dem Wertesystem unter, Ulli muss einen anderen Weg finden, um dort ohne Geld und echte Freunde zu überleben.
In einem Video, das ich kürzlich gesehen habe, erzählt Lust, wie schwer es ihr fiel, die Erlebnisse zu veröffentlichen. Lust erfährt in Italien nicht nur Hunger, Angst vor der Polizei und aufdringliche Typen, sie schwebt mehrmals in grosser Gefahr und wird schliesslich in Palermo vergewaltigt. Zu Beginn ihrer Reise sucht sie die Freiheit, in Palermo merkt sie, dass sie als Frau in dieser Machogesellschaft vogelfrei ist. Es ist ein spannender Zufall, dass exakt zur selben Zeit von Lusts Reise Agnès Varda in Südfrankreich ihr Ausssteigerporträt «Vogelfrei» drehte. Die Hauptfigur ähnelt der 17-jährigen Ulli sehr.
Während die Alltagssituationen an Hand von Tagebüchern genau und realistisch wiedergegeben sind, ändert sich der Erzählstil in den bedrohlichen Momenten der Reise. Das Gefühl der Unsicherheit äussert sich in einer Verschiebung der Perspektive – wir sehen nur noch den Boden und Ullis Fussspitzen. Ein anderes Mal führt ihr Wunsch, unsichtbar zu sein dazu, dass sie aus den Zeichnungen verschwindet. Die Vergewaltigung schliesslich ist wie die Attacke eines wilden Tiers dargestellt. Lusts Wechsel zwischen Realismus und surrealen Momenten ist so gleitend, wie ihre Einschätzung der Gefahr: Im einen Moment fühlt sie sich sicher, dann redet sie sich die Harmlosigkeit der Situation nur noch ein, bis auch dies nicht mehr gelingen will und sie merkt, dass sie in dieser von Männern beherrschten Welt als Freiwild gilt. Lusts Wahrnehmung wird zur Wahrnehmung des Lesers und am Ende teilt man uneingeschränkt ihren Wunsch: Bloss weg hier!

Christian Meyer

Ulli Lust:
«Heute ist der letzte Tag vom
Rest Deines Lebens».
avant-verlag, 464 S., Softcover, s/w,
€ 29.95 / sFr. 52.—