Allein sitze ich in einem Abteil des Schnellzugs von Shanghai nach Nanjing. Der Rest der Bande 1 hat sich in den Speisewagen verkrümelt und isst dort Entenmagen, kandierte Tintenfische oder ähnliche Delikatessen 2. Hinter mir tobt aus einem Handy eine chinesische psychedelische Popmelodie. Drei verwuschelte Herren schlafen daneben, trotz des lautstarken Gewummers und Gescherbels. Möglicherweise sind es Wanderarbeiter. So wie unsereiner. Unterwegs im Auftrag von Kultur und Völkerverständigung. Der Zug saust durch eine unspektakuläre Landschaft, es sieht ungefähr so aus wie in der Umgebung von Mailand. Das also ist China.
Ich suche in meinen Notizen nach ein bisschen Euphorie und Pathos. »Turbokapitalismus unter dem Mantel des Parteikommunismus« lese ich da. Irgendein Wirtschaftsartikel über das Neue China.
Na gut, Schanghai, das sah ganz nach Turbo aus, nur schon bei der Fahrt vom Flughafen zum Bahnhof. Altstadtkommissionen, Denkmalschutz oder Umweltschutzclubs haben in China wahrscheinlich nicht viel zu sagen. Wolkenkratzer schrauben sich in
den bedeckten Himmel. Der Jin Mao Tower ist mir aus den Romanen von Mian Mian bekannt. Er ist ein bisschen Empire State Building und war von 1998 bis 2008 das höchste Gebäude Chinas. Mittlerweile ist er vom unmittelbar daneben stehenden Shanghai World Financial Center 3 übertrumpft worden.
Bevor man auf Reisen geht, sollte man sich geflissentlich über sein Ziel informieren. Ich bevorzuge stets die Literatur, die ja im besten Fall wirklicher als die Realität und unterhaltsamer als ein Reiseführer ist. Allerdings bin ich in der Buchhandlung zuerst in der Abteilung »Kultautoren« statt in der Abteilung »Chinesische Literatur« gelandet. Eben wegen Mian Mian. Die mittlerweile Vierzigjährige soll »Königin der Subkultur« und das »bad girl der chinesischen Literatur« sowie »Chinas begabteste Jungautorin« sein. Nach der Lektüre ihres neuen Buchs »Panda Sex« kann ich mich zumindest dem letzten Urteil nicht unbedingt anschliessen. Das bad girl schreibt mit merkwürdigem Pathos, immer
hart an der Grenze zum Allgemeinplatz, über Liebe, Beziehung, Sex und Abhängigkeit. Das pladdert so dahin, in verschiedensten Dialogkombinationen, an verschiedensten In-Plätzen. Gänzlich ironiefrei kämpfen die Romanfiguren, so eine Art Shanghaier Jeunesse dorée, einen verzweifelten Kampf gegen Klischees, banale Einsichten und emotionale Illusionen. Selbstverständlich ist niemand so cool, wie er sich gibt, und alle suchen lediglich die grosse Liebe. Mian Mians Roman kommt daher, als ob er auf Koks geschrieben und auf Valium überarbeitet worden wäre. Aber vielleicht ist es ja beabsichtigt, dass das Lesen manchmal eine Qual ist. Das literarische Äquivalent zur chinesischen Wasserfolter!
Nach der Ankunft in Nanjing brettern wir vom Bahnhof zum Hotel. Was für ein Verkehr! Diese Stadt ist nicht gerade klein, sie hat 6 bis 7 Millionen Einwohner.
Und eine Tradition: südliche Kaiserstadt, Schauplatz mannigfaltiger historischer Dramen, Seide etc.
Der Dadaist Richard Hülsenbeck 4 beispielsweise fuhr in den 1920er-Jahren als Schiffsarzt nach Fernost und besuchte auch Nanjing. Er war unter anderem dabei,
als Dr. Sun Yat Sen 5 in seiner megalomanen Grabstätte in den Purpurbergen, einem innerhalb der Stadt gelegenen Hügelzug, versenkt wurde. Gut 85 Jahre später
ist dieses Mausoleum immer noch ein wichtiger und viel besuchter Erinnerungsort der Chinesen. Hülsenbeck hat seine einschlägigen Erfahrungen und Erlebnisse in einem Roman verarbeitet: »China
frisst Menschen«. Beschrieben werden darin die Schicksale verschiedener Europäer, Frauen und Männer, die – meist in Shanghai – im Strudel der politischen Veränderung Chinas nach dem Tode Sun Yat Sens
leben und verderben. Es geht um Waffenhandel, Opium und Fresslust in jeder Beziehung.
1918, während Hülsenbeck den Dadaismus von Zürich nach Berlin exportierte, schrieb in China ein gewisser Lu Xun 6 seine erste Erzählung, »Das Tagebuch eines Verrückten«. Dieses kurze Prosastück
haut einen auch heute noch um und gilt als Beginn der chinesischen literarischen Moderne.
Alles muss erwogen werden, erst dann lässt sich’s verstehen. Dass man seit alters Menschen gefressen hat, war mir noch in Erinnerung, allerdings nur vage. Ich bin daher die Geschichtsbücher durchgegangen; sie waren ohne Jahresangaben, und auf jeder Seite standen krumm und schief die Worte »Humanität, Rechtlichkeit, Wahrheit und Tugend« gekritzelt. Da ich ohnehin nicht schlafen konnte, las ich aufmerksam die halbe Nacht, bis ich zwischen den Zeilen die zwei Worte erkannte, aus denen jedes Buch bestand: »Menschen fressen«!
Der Tagebuch schreibende Verrückte sieht überall diese Menschenfresser
am Werk, die bei Lu Xun allegorisch für die überkommene chinesische Gesellschaftsordnung und ihr Wertesystem stehen. Heute würde dieser Autor vielleicht eine Parabel auf das Turbokapital im Schwellenland China oder die ungehemmte Entwicklung der Produktivkräfte in einem allumfassend zentralistisch regierten Land schreiben.
Ja, ja, der Staat als Superkapitalist,
kein schlechtes Konzept. Von China lernen.
In Nanjing besuche ich den Xinhua Bookstore, eine ziemlich umfangreiche Buchhandlung im Zentrum der Stadt. Sechs oder sieben Stockwerke voll mit Büchern, irgendwo sind die hundert bestverkauften Titel ausgestellt. Unter den ersten zehn Bestsellern sind ungefähr neun von irgendwelchen chinesischen Börsengurus
und Zinslipickern verfasst. Ratgeber und Erfolgsgeschichten! Die meist bebrillten Gurus grinsen alle sehr turbokapitalistisch vom Buchumschlag und mir geht es
erst wieder besser, als ich sehe, dass es Dan Brown und Tim & Struppi auf Chinesisch gibt.
Vor meiner Abreise nach China ist mir noch ein Buch der Schriftstellerin Xiaolu Guo in die Hände gefallen. Die 1973 geborene Filmerin und Autorin wohnt allerdings seit 2002 in London. Ihr kleiner, charmanter Roman »Ein Ufo, dachte sie« gibt einen perfekten Einblick in das ökonomische Drama Chinas. In einem kleinen Dorf namens Silberberg, irgendwo im Hinterland, sichtet eine junge Frau ein UFO. Meint sie jedenfalls, denn da ist auch noch ein blonder Alien, der sich offensichtlich schwer verletzt hat und dem
sie Hilfe gewährt. So ein UFO-Fall verstört natürlich die staatliche Autorität.
Die Gemeindevorsteherin holt zwar die Be-
hörden zur Untersuchung, weiss aber
auch den Vorfall zu nützen. Der Alien stellt sich als US-Bürger heraus, der für seine Rettung bezahlt. Und schon setzt die wirtschaftliche Entwicklung von Silberberg ein. Xiaolu Guos Roman ist tatsächlich
eine Satire auf den chinesischen Turbokapitalismus und zugleich ein guter Einblick ins ländliche China.
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1 Die Bande, das sind nicht die Räuber vom Liang-Schan-Moor, sondern ein Teil
der STRAPAZIN-Herausgeberschaft sowie Zeichnerinnen, Autoren und Grafiker dieses unvergleichlichen Comic-Magazins – unterwegs nach Nanjing, zu den Editoren von SPECIAL COMIX.
»Die Räuber vom Liang-Schan-Moor« zählt übrigens zu den grossen vier klassischen Romanen Chinas, es ist der erste, der
in Umgangssprache geschrieben worden ist; eine Art Robin-Hood-Roman, der in der Zeit des Bauernaufstandes gegen
die Song-Dynastie und den korrupten Hof des Kaisers Huizong im 12. Jahrhundert handelt. Held ist der historische
Bandit Song Jiang, der auch in der Provinz Jiangsu (Hauptstadt Nanjing) sein Unwesen trieb.
2 In China ist Essen sehr wichtig – und sehr gut! Ob man in eine Nudelsuppenküche, an einen Crêpe-Stand oder in
ein gehobenes Restaurant geht, die Küche in Nanjing ist hervorragend. Gemüse, Fleisch, Teigtaschen, Dampfbrötchen, alles prima, abgesehen vielleicht von den verflixten roten Krabben, einer regionalen Spezialität, die man schnell über hat,
weil sie so kompliziert zu essen sind. In der chinesischen Literatur ist dementsprechend das Essen, das Fressen, auch das Menschenfressen, die Welterfahrung durch den Magen allgegenwärtig.
3 Dieser Wolkenkratzer sieht aus wie ein gigantischer Kronkorkenöffner. Unglaublich, in einem fast gänzlich ironiefreien Land wie China! Und gleich daneben
wird an einem neuen Turm gebaut. Der wird womöglich noch höher als das SWFC.
4 Richard Hülsenbeck (1892-1974) studierte Medizin und ging 1916 als Wehrdienstuntauglicher in die Schweiz. Bei Dada Zürich und Dada Berlin war er einer der Hauptdarsteller, aber 1920 hatte er genug. Er praktizierte als Arzt und emigrierte vor den Nazis 1936 nach New York. Dort wurde er ein bekannter Psychoanalytiker. 1969 kam er zurück nach Europa, nach Minusio im Tessin, wo er auch starb. Von ihm gibt es eine sehr schöne Geschichte des Dadaismus mit dem Titel
»Mit Witz, Licht und Grütze«.
5 Sun Yat Sen (1866-1925) gilt als Gründer des modernen Chinas. Er organisierte die Chinesische Nationalpartei, die Kuomintang, ein breites Bündnis gegen das Kaisertum. 1912 endete die fast 300 Jahre herrschende Qing- oder Mandschu-Dynastie und Sun Yat Sen wurde in Nanjing zum Übergangspräsident der Volksrepublik China gewählt. Sun Yat Sens Nachfolger Tschiang Kai Schek wollte sich allerdings nicht mit den Kommunisten vertragen und musste nach Mao Zedongs Langem Marsch nach Taiwan auswandern.
6 Lu Xun (1881-1936), gestorben in Schanghai, ist wahrscheinlich der grösste chinesische Literat der letzten 100 Jahre. Eigentlich heisst er Zhou Shuren. Als junger Mann besucht er die Marineakademie in Nanjing und als überzeugter Republikaner arbeitet er 1911 im neugeschaffenen Bildungsministerium ebendort. Später steht er den Kommunisten nahe und ist eine einflussreiche Stimme der sozialen Erneuerung in China.
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