Wolfgang Bortlik
Jetzt ist das auch schon wieder vierzig Jahre her, dass auf die Mauer der Kapelle, die im Innenhof der Pariser Universität Sorbonne steht, geschrieben wurde: «Wir wollen etwas zum Pissen und nicht zum Beten.» Das waren selbstverständlich unbotmässige Studenten, damals im Mai 1968, in der kurzen Zeitspanne, da sich Hand- und Geistesarbeit vereint hatten und man auf die Strasse ging, um das Unmögliche zu verlangen.
Mittlerweile haben wir sehr verdutzt vernehmen müssen, dass minde-stens hierzulande die 68er von heute in der Schweizerischen Volkspartei SVP sind und der Grosse Vorsitzende und Steuermann der Pfarrerssohn Christoph B. ist.
Gudrun Ensslin zum Beispiel, erste Generation Rote Armee Fraktion, war auch Kind von Predigern! Aber nicht, dass jetzt dann ein SVP-Exponent behauptet, sie seien die RAF von heute ...
Apropos Ensslin: Ende April 1975 sollten 26 Gefangene inklusive der einsitzenden ersten RAF-Generation um Baader, Ensslin, Meinhof
und Raspe befreit werden. Sechs mit Pistolen und Sprengstoff bewaffnete Personen stürmten die deutsche Botschaft in Stockholm und verschanzten sich mit zwölf Geiseln. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt ging aber auf die Forderung der Botschaftsbesetzer, die 26 Gefangenen freizulassen, nicht ein. Zwei Geiseln wurden erschossen, dann explodierte der Sprengstoff und der Gewaltakt fand ein blutiges Ende. Einer der sechs Geiselnehmer war Karl-Heinz Dellwo, der 1977
zu zweimal lebenslänglich verurteilt und 1996 aus der Haft entlassen wurde. Von ihm liegt nun ein Buch vor mit Gesprächen, die zwei freie Journalisten mit ihm geführt haben. Auf die Frage nach «Reue» als Voraussetzung für Straffreiheit der RAF-Leute meint Dellwo: «Reue ist medial doch nur ein Massstab, an dem die Unterwerfung gemessen
wird. Dieser Inszenierung muss man sich verweigern (...). In allen ehemaligen faschistischen Staaten sind bewaffnete Gruppen in der Zeit nach 68 entstanden. Man muss sich doch einmal fragen, warum. Von den Politikern werden die Toten doch nur instrumentalisiert, um damit eine Reflexion zu tabuisieren. Ich bin nicht bereit, dem zu entsprechen.»
Sechs Tage nach der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm durch die RAF eroberte der Vietcong die südvietnamesische Hauptstadt Saigon und brachte den Amerikanern eine vernichtende Niederlage
bei. Vielfach wird der endlose Irakfeldzug der Amerikaner mit dem Krieg in Vietnam verglichen: ein Aggressionskrieg, der als Rettung der Demokratie verkleidet ist. Ökonomisch folgerichtig und im Einklang mit den Tendenzen des globalisierten Kapitalismus erscheint zu Beginn
des 21. Jahrhunderts jedoch das Outsourcing von Teilen des Kriegs-handwerks hin zu privaten Unternehmen. Auslagerungen an die Firma Blackwater beispielsweise, gegründet vom christlichen Fundamen-talisten und steinreichen Unternehmer Erik Prince. Wiedergeborene und andere fanatische Christen wie George W. Bush spielen in der Aggressiv-Politik der USA ja eine führende Rolle.
Blackwaters Beginn war eher bescheiden. Zuerst war da nur ein Trainingszentrum für Militärs und Polizisten, später kamen dann dank der boomenden Nachfrage Gebäudeschutz und Sicherheitsdienste dazu. Nach den Anschlägen vom September 2001 wurde von der ameri-kanischen Regierung die enorme Summe von 100 Milliarden Dollar für die privatwirtschaftliche Militärindustrie gesprochen. Doch die Leute
in der damals seit einem Jahr im Amt befindlichen Regierung Bush II hatten schon längst vor Nine-Eleven diesbezügliche Pläne gehegt. Schon unter Bush Senior wurde das staatliche Monopol der Kriegs-führung aufgekündigt.
Die Firma Blackwater expandierte jedenfalls und gründete eine Tochter-firma, die nun in die Söldnerbranche vorstiess. Der so genannte Krieg gegen den Terror wurde zur besten Einnahmequelle von Blackwater: der Einmarsch in Afghanistan und der Irak-Krieg. Lange war das Söldner-unternehmen gänzlich unbemerkt von der Öffentlichkeit und immun gegen jede Strafverfolgung tätig. Die Firma rühmte sich ihrer Effektivität, einen Drittel der Zeit zu brauchen und 60 Prozent billiger zu sein als
die anerkannten, internationalen Einsatztruppen von UNO oder NATO. Erst Übergriffe von Blackwater im Irak in der letzten Zeit liessen die Öffentlichkeit aufhorchen.
Und jetzt fragt man sich natürlich, was denn passieren wird, wenn diese Firma keine Aufträge mehr kriegt oder wenn beispielsweise eine Demokraten-Regierung unter Hillary Clinton oder Barack Obama das Geld für Blackwater zurückfährt. Vielleicht muss die Firma dann
einen eigenen Krieg anzetteln. Der amerikanische Journalist Jeremy Scahill hat in seinem Buch über Blackwater auf alle Fälle reichlich Erschreckendes zu Tage gefördert. Die Lektüre kann einem schon eine schlaflose Nacht bereiten.
Einen umfassenden Überblick über die Gefahr der US-amerikanischen Aussenpolitik gibt das Buch des kanadischen Professors Gabriel Kolko. Es zeigt, wie seit Beginn des Kalten Krieges die USA als selbst
ernannter Weltpolizist und waffenbesessener Überstaat agiert hat: Nach spektakulären Anfangserfolgen wurden die Kriegsziele eigentlich nie erreicht, weder in Korea, schon gar nicht in Vietnam, und im Irak sieht es auch finster aus.
Kolko gibt den Amis selbstverständlich nicht die Alleinschuld an all dem Kriegsgewürge auf der Welt. Er zeigt aber schön auf, dass es den Betroffenen und auch der amerikanischen Bevölkerung besser ginge ohne Einmischung und Waffenlieferungen durch den US-Militärkomplex (inklusive Söldnerfirmen).
Horror und Schrecken – na ja, leiser Horror und diffuser Schrecken – durchziehen das Werk des grossen mitteleuropäischen Autors Leo Perutz. Der Mann wurde 1882 in Prag geboren, siedelte 1899 mit seiner Familie nach Wien um und floh als Jude 1938 vor dem Anschluss Österreichs an «Grossdeutschland» nach Tel Aviv. Seine Romane – seien sie historisch oder fantastisch – kann man gar nicht genug loben als Beispiele für intensive Unterhaltung. Es sind Geschichten von changierenden Identitäten und leicht verschobenen Realitäts-wahrnehmungen, die ihren Leser in den Zustand einer nervenzerfetzten Mattigkeit versetzen.
Vielleicht das reifste Stück von Perutz ist der Mutterkorn-Roman «St. Petri-Schnee». Da geht es um einen Gemeindearzt, der im Krankenhaus erwacht und eine andere Erinnerung hat als die, die er von den ihn behandelnden Doktores erfährt. Der Mann hat mit einem merkwürdigen Baron zu tun gehabt, der durch eine Droge die Inbrunst und die
gläubige Ekstase wieder einführen will, die er als Grundpfeiler des alten feudalen Systems sieht. Nur geht das mit der Glaubensinbrunst in die Hosen, denn die Droge fördert lediglich Chaos und Anarchie. Fünf Jahre, bevor Albert Hoffmann 1938 das LSD aus der Getreidekrankheit Mutterkorn synthetisiert und zehn Jahre, bevor er die Wirkung erkannt hat, nimmt Leo Perutz das schon vorweg. Der Arme-Seelen-Tau, St. Petri-Schnee, Muttergottesbrand oder wie immer auch der Volksmund zum Mutterkorn gesagt hat, wird in einem Pfarrhaus chemisch hergestellt. Selbstverständlich ist der Roman nicht nur für Drogenfreaks spannend, denn die erzählerische Wucht der beiden miteinander konkurrierenden Realitäten des Gemeindearztes haut einen schon um.
Relevant ist der Roman durchaus auch zum Projekt der Bewusst-seinserweiterung durch Drogen in der Folge von 1968. Das kommt ja jetzt alles als Ego-Shaping und Gehirn-Doping wieder. Man möchte
auch nicht wissen, was so ein Blackwater-Söldner im Irak für Stoff einschmeisst. Ausserdem sind auch die historischen Sachen von Leo Perutz wie «Turlupin» und «Die dritte Kugel» ziemlich grossartig.
Noch was ganz anderes: Beim Schweizer Krimi regen irgendwann einmal diese knöterichknorzigen und rauchsaufbrummeligen Kommissäre auf. Ob sie nun Studer, Hunkeler, Knurrlimurrli oder Matthäi heissen: man möchte mal einen Schweizer Krimiklassiker ohne Psychogramm eines Polizisten als Menschenfreund in harter Schale.
Da kommt der Kommissar Wienert gerade richtig, der ermittelt in Basel und hält sich vornehm zurück, indem er seinen jungen und hungrigen Assistenten mit dem gnadenlos unbaslerischen Namen Jupp Lüthy werkeln lässt. Ein Immobilienspekulant ist vergiftet worden, immer mehr Verdächtige und Indizien tauchen auf. Das klassische «Wer-wars-denn-nun?» wird souverän abgespult und aufgedröselt. Dazu hat der Roman hohe literarische Qualitäten und eine eindrückliche expressionistische Atmosphäre (er spielt zur Hauptsache im sehr mediävalen, altstädtischen Totengässchen und in einem zweitklassigen Variété).
Seinen Verfasser Stefan Brockhoff allerdings gibt es nicht. Hinter diesem Namen verbirgt sich ein Autorenkolletiv von drei Deutschen, die vor den Nazis geflüchtet waren und sich bis 1938 in der Schweiz aufhielten, bevor sie in die USA emigrierten. Das erfährt man in der verdienstvollen Neuauflage dieses Krimis. Dazu gibt es «Zehn Gebote für den Kriminalroman» vom Brockhoff-Kollektiv sowie eine Entgegnung darauf von Friedrich Glauser.
Playlist
Karl-Heinz Dellwo
«Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel»
Edition Nautilus
222 Seiten, Euro 14.90 / sFr. 26.–
Leo Perutz
«St. Petri-Schnee»
Deutscher Taschenbuch Verlag
208 Seiten, Euro 9.– / sFr. 16.–
Stefan Brockhoff
«Musik im Totengässlein»
Chronos Verlag
206 Seiten, Euro 32.– / sFr. 19.90
Jeremy Scahill
«Blackwater. Der Aufstieg der mächtigsten
Privatarmee der Welt»
Kunstmann Verlag
320 Seiten, Euro 22.– / sFr. 39.90
Gabriel Kolko
«Machtpolitik ohne Perspektive. Die USA
gegen den Rest der Welt»
Rotpunkt Verlag
328 Seiten, Euro 24.– / sFr. 38.–
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