Im Reich der Missverständnisse
In seinem Essay "Wrong about Japan" unternimmt der Schriftsteller Peter
Carey eine Expedition in die Welt der Manga und Anime. Charley ist zwölf
Jahre alt, und als sein Vater eine gemeinsame Reise nach Tokio vorschlägt,
hält sich seine Begeisterung erst einmal in Grenzen: "Nicht wenn ich das
echte Japan sehen muss." Charley, der jeden Samstag in den Comicläden
der Lower East Side nach neuen Folgen von "Akira" oder "Mobile Suit Gundam"
sucht, hat seine eigenen Vorstellungen von einer Expedition in das Land
der Manga. "Keine Tempel, keine Museen", erklärt er kategorisch, und glücklicherweise
fällt es seinem Vater nicht schwer, sich auf diese Bedingungen einzulassen.
Der Schriftsteller Peter Carey ist genau wie sein Sohn fasziniert von
der fremden Welt der japanischen Bildergeschichten mit ihren hochgerüsteten
Robotern und rehäugigen Teenagern. Also machen sie sich gemeinsam auf,
um herauszufinden, "was dieses ganze merkwürdige Zeug bedeutet". "Wrong
about Japan" heisst das Buch, das im Anschluss an diese Reise entstanden
ist. Der Booker-Preisträger Peter Carey, der zuletzt den Roman "Mein Leben
als Fälschung" veröffentlichte, beschäftigt sich nun zunächst einmal mit
der Entstehungsgeschichte der Manga. Die japanische Form des Comics steht
in der Tradition des "Kamishibai", des "Papiertheaters", das in den 1920er-Jahren
des vergangenen Jahrhunderts äusserst populär war: Märchenerzähler fuhren
von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt und illustrierten ihre Geschichten
mit Bildern, die auf grosse Tafeln gezeichnet waren. Nach dem Zweiten
Weltkrieg erschienen die ersten Bildergeschichten in Magazinen für Kinder,
und Ende der Sechzigerjahre entstanden daraus die Gekiga, wörtlich "Bilderdramen",
die nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch junge Erwachsene ansprachen.
Themen wie Sex, Gewalt und Politik spiegelten den Geist der Zeit, und
die Studenten, die sich damals begierig auf das neue Medium stürzten,
blieben den Bildergeschichten bis heute treu: Während Comics in den USA
und in Westeuropa als Unterhaltungsform für Kinder gelten, werden Manga
in Japan auch von Fünfzig- oder Sechzigjährigen gelesen. Peter Carey und
sein Sohn Charley besuchen einige der bekanntesten Zeichner und Regisseure,
darunter sogar den legendären Miyazaki Hayao (dessen letzter grosser Animationsfilm
"Das wandelnde Schloss" erst vor einigen Wochen in den deutschen Kinos
gelaufen ist). Immer wieder erkundigen sie sich bei diesen Treffen nach
den verborgenen Bedeutungsebenen in den Manga und Anime, die ihnen als
"Gaijin", als Fremde also, doch sicherlich entgangen seien. Leider werden
sie fast immer enttäuscht. So muss Peter Carey zum Beispiel seine auf
den ersten Blick recht originelle These, dass die bemannten Kampfroboter
in der "Mobile Suit Gundam" ein Symbol für die Entfremdung der menschlichen
Individuen sind, recht schnell wieder aufgeben. "So ist es gar nicht",
erklärt ihm eine japanische Comic-Spezialistin mit freundlichem Lächeln,
"Pilot in einem Mobile Suit zu sein, ist genauso, wie sich im Mutterleib
zu befinden." Das ist nur eins von vielen Missverständnissen, die sich
durch dieses Buch ziehen. Peter Carey ist ständig "wrong about Japan"
und muss einsehen, dass er mit seinen sorgfältig angelesenen Hintergrundinformationen
nicht weit kommt. "Es ist besser, nichts zu wissen, als wenig zu wissen."
Und das gilt nicht nur für die Recherche in Sachen Manga, sondern auch
für die Exkurse in die traditionelle japanische Kultur oder die wechselvolle
Geschichte der amerikanisch-japanischen Beziehungen mitsamt der Katastrophe
des Zweiten Weltkriegs - mit der sich im übrigen auch ein Klassiker des
Animationsfilm befasst: "Die letzten Glühwürmchen" aus Miyazaki Hayaos
Ghibli-Studio erzählt die Geschichte von der grausamen Bombardierung Tokios
im März des Jahres 1945. Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass ein
japanischer Zuschauer in diesem Zeichentrickfilm etwas anderes sieht als
jemand, der wie Peter Carey in Australien geboren wurde und heute in New
York lebt. Worin genau die unterschiedlichen Betrachtungsweisen liegen,
ist allerdings nicht ganz so einfach festzustellen, und so verwandelt
sich Careys literarische Reisebeschreibung nach und nach in einen klugen
Essay über die grundsätzlichen Schwierigkeiten beim überschreiten kultureller
Grenzen: Im Zeitalter der globalen Popkultur, deren vermeintlich universelle
Vernunft sich durch Schallplatten, Filme und Comics in den letzten fünfzig
Jahren mit rasender Geschwindigkeit über den ganzen Erdball ausgebreitet
hat, ist das Spiel der Differenzen nicht einfacher, sondern eher komplizierter
geworden. Der zwölfjährige Charley hat das natürlich längst verstanden.
Auf jeden Fall kann er nur müde lächeln, als sein Vater sich weigert,
in Tokio ausgerechnet in einer Filiale der amerikanischen Coffee-Shop-Kette
Starbucks zu frühstücken. "Das hier", fasst Charley mit einem einzigen
Satz das System der feinen Unterschiede im 21. Jahrhundert zusammen, "ist
das japanische Starbucks."
Kolja Mensing
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Peter Carey: "Wrong about Japan - Eine Tokioreise". Aus dem Englischen
von Eva Kemper, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005, Hardcover,
141 S., Euro 17.90 / sFr. 31.70
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