Andreas Dierssen

Alltägliche Katastrophen

Hamburg. Nachts, kurz vor eins. Warten auf die letzte U-Bahn. Allein stehst du am Bahnsteig, unruhig, die U-Bahn erscheint nicht. Plötzlich bemerkst du drei Männer. Sie nähern sich. Du zuckst, dein Puls steigt. Furcht keimt auf, bange fragst du dich: "Werden die mir etwas antun?" Dann: Aufatmen. Die Unbekannten bleiben stehen. Sie scherzen miteinander und beachten dich nicht. Die Gefahr ist vorbei, die U-Bahn kommt. Du fährst nach Hause und ein ganz normaler Tag geht zu Ende, wie üblich ohne besondere Vorkommnisse. Doch die Typen hätten Mafiosi sein können, sie hätten ihre Waffe zücken können, und es hätte - nicht vorhersehbar und plötzlich - das grosse Abenteuer beginnen können.
Es ist dieser latente Reiz des Möglichen in den Strassen der Grossstadt, aus dem der 1962 geborene Zeichner und Kinderbuchautor Andreas Dierssen die Ideen für seine Geschichten schöpft. Es sind solche Begegnungen mit seltsamen Menschen, denen allerhand zuzutrauen ist, die ihn zum Erzählen anregen. Dierssens Geschichten sind keine autobiografischen Alltagserzählungen oder Stadtreportagen - am ehesten passen sie in die Gattung Kriminalkomödien. "Was ich zeige, sind ganz normale Menschen, die plötzlich in eine extreme Situation geraten und sich entscheiden müssen, wie sie reagieren sollen." So bringt Dierssen die Grundkonstellation seiner Geschichten auf den Punkt. Die von Chris Scheuer und Massimo Milano gezeichneten Comics sind gute Beispiele für diesen gleitenden Übergang vom normalen Leben in eine Welt der Gauner und Gangster. Was passiert einem Mann, der auf dem Heimweg von einer verführerischen Frau angesprochen wird? Und wie würde ein Spanner reagieren, dem jede Achtung vor der Privatsphäre fehlt, wenn er Zeuge eines Verbrechens würde? Dies sind die Fragen, aus denen Dierssen seine Geschichten "bastelt". Die Grossstadt bietet das passende Ambiente für Konfrontationen und spröde, ironische Dialoge, die für Andreas Dierssens Erzählungen so typisch sind. "In den Grossstädten prallen täglich die unterschiedlichsten Menschen aufeinander und keiner weiss vom anderen, was dieser als nächstes vorhat. Da knistert es ständig an der Oberfläche." So umschreibt Dierssen das Spezielle des urbanen Klimas, wie er es aus Hamburg kennt. Dort besuchte er 1986 bis 1991 die Fachhochschule für Gestaltung und veröffentlichte die ersten Comic-Alben. Diese überall lauernde Gefährdung spüre er bei sich zu Hause im Dorf Kirchgellersen bei Lüneburg nie so offensichtlich - und auch nicht in der Schweizer Landeshauptstadt Bern, seinem zweiten Domizil. Auf seinen Gängen durch Städte hat Dierssen stets ein Notizbuch bei sich. Dort finden sich all die Absonderlichkeiten, in denen spätere Geschichten ihren Ursprung haben. "Mir muss zuerst etwas auffallen, nur dann kann ich eine Geschichte erzählen", sagt er. Das muss nichts Grosses sein, eine Szene, eine Fotografie genügen. Mitunter genügt ein einziger, unterwegs aufgeschnappter Satz für eine ganze Erzählung, so geschehen in seinem ersten Album "Liebe, Tod und andere Grausamkeiten" von 1991. Auch kleine Zeitungsmeldungen über Unfälle und Katastrophen, die in ihrer Kürze fast alles offen lassen, geben ihm Anlass, möglichen Ursachen nachzuspüren. Uli Oesterles Comic über die unfassbare Nähe des Traumhaften ist das Ergebnis solcher Gedanken. Ebenfalls traumhaft, aber auf einem persönlichen Erlebnis beruhend, ist die Zahnarzt-Satire, die Martin Baltscheit illustriert hat. Ein seltsamer Zufall wollte es vor Jahren, dass Andreas Dierssen unmittelbar nach einer schmerzhaften Zahnoperation nach Bern fuhr, um sich mit Baltscheit zu treffen. Dabei verpassten sich die beiden, weil Baltscheit ebenfalls wegen Zahnschmerzen unvermittelt abgereist war. Daraus ersann Dierssen seine "vielleicht bizarrste, aber auch realistischste Geschichte" über den Ärger mit dem Zahnarzt. Dierssen packt die Fakten, wenn sie vor der Haustür lauern, und mischt sie neu zu "bösen Geschichten mit einer Pointe".
Florian Meyer


Auswahlbibliografie
Comics
”Liebe, Tod und andere Grausamkeiten”, Ehapa Verlag, Berlin 1991. ”Mild und sanft“, Alpha Verlag, Thurn 1995. ”Ladykiller“ (Zeichnung: Jürgen Mick), Carlsen Verlag, Hamburg 1998. ”Kunz“, Carlsen Verlag, Hamburg 1999
”Das Jahr, in dem wir Weltmeister wurden“ (Zeichnung: Ulf K.) Edition 52, Wuppertal 2000. ”Die Nachtjäger - keine böse Absicht“ Zwerchfell Verlag, Hamburg 2000
Kinderbücher
”T.O.P. Team Ratekrimi - Kalt erwischt“,
arsEdition, München 2001. ”Sebastians Verdacht“ (Illustration: Stefan Selig), arsEdition, München 2001. ”Trekker fahrn“ (Illustration: Ralf Butschkow), Lappan Verlag, Oldenburg 2001