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Argentinische Schicksalsklänge Das Wesentliche vorweg: Der Comic-Roman «Bandonéon» des Argentiniers Jorge González ist keine Geschichte des Tangos und seiner Entstehung. Tango und Bandonéon sind vielmehr die Chiffren für die Erwartungen und Hoffnungen, für die Sehnsüchte und die Sorgen der Menschen, die mit der großen Einwanderungswelle im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von Europa nach Argentinien zogen und dort Fuß zu fassen versuchten. «Fueye», wie der Comic-Roman im argentinischen Original heißt, ist die technische Bezeichnung für jenen Teil des Bandonéons, bei dem die Luft ein- und ausströmt. Metaphorisch steht der Titel für all die kleinen Atem- und Klimmzüge, mit denen die Einwanderer die Luft von Buenos Aires aufnehmen und hoffen, dass die große Gelegenheit für ein erfülltes Leben nicht unbemerkt an ihnen vorbeizieht. Jorge González: «Bandonéon».
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| Cover-Illustrationen von Stephan Schmitz «Bandonéon» |
Im Rausch der Tiefe fen Wasser» ist ein surrealistisches Meisterwerk. Nicht ohne Grund gilt Cortázar neben Jorge Luis Borges als einer der bedeutendsten Schriftsteller Argentiniens und als Vertreter der neofantastischen Literatur. Die Kurzgeschichte lockt den Leser auf ein unsicheres Terrain, in ein Sumpfgebiet bei Vollmond, wo sich die Grenzen zwischen Traum und Realität auflösen. In einem Monolog erzählt der Protagonist seinem Freund Mauricio von einer geheimnisvollen Nacht mit einem gemeinsamen Bekannten. Was damals tatsächlich passiert ist, erschließt sich dem Leser selbst nach mehrmaliger Lektüre nicht. Es ist die Rede von einem Revolver und einem leblosen Körper, der im Fluss treibt, es könnte aber auch ein Trugbild gewesen sein. Vielleicht geschah ein Verbrechen, vielleicht war es auch ein Traum oder eine Vision, die dem Ich-Erzähler und dem Leser einen Streich spielt. Cortázar, der auch Edgar Allen Poe ins Spanische übersetzt hat, gelingt es, mit seiner Erzählung eine eigentümliche und verstörende Stimmung zu schaffen, die zugleich irritiert und fasziniert. Julio Cortázar, Franziska Neubert: «Erzählung mit einem tiefen Wasser».
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«Erzählung mit einem tiefen Wasser» |
Die Funktion bestimmt die Form Ich gestehe, dass meine Kritik von David Mazzucchellis «Asterios Polyp» etwas verspätet kommt, aber vielleicht ist es besser, erst jetzt darüber zu schreiben, wo das Gesummse der Kritiken schon etwas verhallt ist, so dass mein Lob eher gehört wird – denn Lob hat diese brillante Graphic Novel tatsächlich verdient, wenn auch nicht aus denselben Gründen, die von den meisten Comic-Aficionados angeführt werden. David Mazzucchelli: «Asterios Polyp».
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«Asterios Polyp» |
Zeugnis der faschistischen Homosexuellen-verfolgung Antonio Angelicola, genannt Ninella, arbeitet als Schneider in Salerno. Ninella ist homosexuell. 1938 wird er über Nacht gefangen genommen und auf die Tremini-Insel San Domino verfrachtet. Dort wurden während der faschistischen Diktatur zwischen 1938 und 1943 rund 300 Homosexuelle interniert. Offiziell galten sie als «politische Gefangene», die wegen «gemeinschaftsschädlichem Vergehen» und «Untergrabung der öffentlichen Moral» inhaftiert worden waren. Anders als in Deutschland wurden Homosexuelle in Italien erst nach 1936 und damit nach der Einführung von Rassengesetzen nach deutschem Muster verfolgt und auf Inseln isoliert. Zuvor wurden sie zwar geächtet, aber gegen ein Gesetz zu ihrer Verfolgung wehrte sich selbst der Führer Mussolini. Italien brauche kein solches Gesetz, soll er gesagt haben: «In Italia sono tutti maschi – In Italien gibt es nur echte Männer.» Luca de Santis & Sara Colaone. «Die Insel der Männer».
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«Die Insel der Männer» |
Zu Gast bei Freunden Vor ein paar Jahren initiierte Jens Harder das Comic-Projekt «Cargo», für das die israelische Comic-Gruppe Actus Tragicus nach Berlin kam und ihre Eindrücke in Comic-Geschichten festhielt, und im Gegenzug reisten die Berliner Monogataris nach Israel. Für die Publikation «Tel Aviv Berlin» wurde die Buchidee aufgegriffen, diesmal machten sich Jan Feindt, Anke Feuchtenberger und Henning Wagenbreth auf den Weg nach Tel Aviv und Actus Tragicus besuchten erneut Berlin. Auch wenn sich die beiden Projekte auf den ersten Blick ähneln, so unterscheiden sie sich in zwei Punkten. Von Feindts Beitrag abgesehen, der gemeinsam mit der Israelin Shelly Duvilanski eine reine Comic-Geschichte abgeliefert hat, lösen sich die restlichen Teilnehmer von einer Panel-zu-Panel-Erzählung und experimentieren mit den Möglichkeiten der Bilderzählung. Der zweite Unterschied besteht darin, dass «Tel Aviv Berlin» von den Künstlern sowohl eine Geschichte über die israelische als auch die deutsche Stadt abbildet, über ihre Heimat und die Fremde. Wie gegensätzlich der Blick auf das Unbekannte und das Vertraute sein kann, spiegelt Anke Feuchtenbergers Geschichte ganz wunderbar wider. Darin beschreibt sie die Fahrt mit der Straßenbahnlinie 63 von Friedrichshain nach Berlin Mitte, die sie als 7-Jährige regelmäßig zum Ballettunterricht genommen hat. Die Illustrationen sind dunkel und verschwommen, als ob die Vergangenheit übermächtig und unscharf zugleich ist. Im Gegensatz dazu bestehen ihre Bilder von Tel Aviv fast nur aus Konturen und erscheinen taghell. Es ist einzig die Oberfläche, die Feuchtenberger bei ihrem Israel-Aufenthalt zu sehen und spüren bekommt. Eine Fremdheit, die auch durch Nachfragen bei den befreundeten Actus-Tragicus-Leuten keine weiterführende Tiefe erhält. Für Rutu Modan ist Berlin wiederum mit der Geschichte Rosa Luxemburgs verknüpft, so dass sie allgegenwärtig an allen Touristenstationen ist, ob vor dem Kino International oder in Clärchens Ballhaus. Dagegen versammeln sich in ihren Illustrationen über Tel Aviv Kindheits- und Jugenderinnerungen, einzelne Impressionen, die völlig aus dem Zusammenhang gerissen sind und sich collagenhaft überlagern. Obwohl die Beiträge überwiegend von Erinnerung und Geschichte handeln, so sparen sie den Teil der Vergangenheit aus, der Deutschland mit Israel für ewig verbinden wird. Die israelische Kultur- und Kunstkritikerin Maya Baker umschreibt dies in ihrem Vorwort sehr treffend mit einem Spiel, das auf Hebräisch «Ja, nein, schwarz, weiß» heißt. Den Mitspielern werden Fragen gestellt, die sie beantworten müssen, ohne eines dieser vier Worte zu benutzen. Auch die Teilnehmer dieser Publikation scheuen sich, den Nationalsozialismus und die Verfolgung der Juden zu thematisieren, mit Ausnahme von Wagenbreth, der dies in seiner Illustration über die Geschichte Berlins zumindest anführt. «Cargo» und «Tel Aviv Berlin» sind Buch- und Künstlerprojekte, die eine Brücke schlagen, um einen Dialog und eine Annäherung voranzutreiben, was ihnen auch gelingt. Dennoch bedarf es vieler weiterer deutsch-israelischer Projekte, bis auch die Tabuthemen einmal gemeinsam bearbeitet werden können.
Ein Reisebuch von Rutu Modan, Jan Feindt, Shelly Duvilanski, Yirmi Pinkus,
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«Tel Aviv Berlin» |
Vom Sinn und Hintersinn Andy Fischli dürfte auch außerhalb der Comic-Szene mittlerweile kein ganz Unbekannter mehr sein. Immerhin arbeitet der in Zürich lebende Zeichner regelmäßig für die WOZ und das Straßenmagazin Surprise, und sein Strip «Der Irrsinn» – verfügbar auf seiner Web-Seite und von ihm selbst als Klassiker bezeichnet – wurde sicher schon unzählige Male durchs Netz geschickt. Wie eine Antwort auf diese Geschichte wirkt der Titel seines Sammelbandes «Der Sinn». Dieser vereint Arbeiten der letzten fünf Jahre, auf gut 140 Seiten und in einem großzügigen Format von 22 x 29 cm. Man begegnet hier den bekannten Dreiaugen-Menschen, trifft immer wieder auf kuriose Personifikationen (wie z. B. die Scheu, das schlechte Gewissen oder auch die Onanie) und Darstellungen wörtlich verstandener Metaphern (wenn Fischli sich z. B. vorstellt, wie eine Gehirnwäsche im buchstäblichen Sinne durchgeführt wird). Auch enthalten sind eine mehrseitige, rein bildliche Nacherzählung von Hamlet sowie einige Tiergeschichten, und natürlich tauchen an allen möglichen Stellen die typischen Eiermännchen auf. Andy Fischli: «Der Sinn».
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«Der Sinn» |
Unbezahlbar Sie gehören zu den wertvollsten Dingen, die für diese Publikation illustriert wurden und dennoch kann man sie nicht kaufen. Sie sind somit unbezahlbar und darüber hinaus auch nicht einfach darzustellen, wie die 30 teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler des Buchprojektes erfahren mussten. Denn wie stellt man Empathie, Seele, Charisma und Vertrauen dar, um nur ein paar Beispiele zu nennen? Sicherlich, es gibt persönliche Erlebnisse und Erfahrungen, die einem jeden spontan dazu einfallen. Doch wie schafft man eine für die Allgemeinheit lesbare Illustration? Die Publikation «Ein Buch, das man kaufen kann, über Dinge, die man nicht kaufen kann» war für die teilnehmenden Illustratoren eine Herausforderung, und manch einer ist auch daran gescheitert. Zu den herausragenden Beiträgen gehört unter anderem jener von Franziska Neubert, die für «Anmut» eine junge Frau darstellt, die erstaunt in den Spiegel schaut, da ihr Spiegelbild frech die Zunge herausstreckt. Es gibt humoristische Illustrationen, wie die von Bodo Rott zu «Gelassenheit», die in ihrer zeichnerischen und inhaltlichen Weise an den Großmeister Sempé erinnert oder jene von Yvonne Kuschel zu «Charme», auf der eine traurig drein blickende Frau mit Narrenkappe sagt: «Die werden noch Augen machen». Wiederum verstörend sind die Zeichnungen von Nikola Röthemeyer zu «Gesundheit», die eine junge Frau einen Hirsch das Herz abhören lässt, oder Anke Feuchtenbergers Bild zu «Vertrauen», worauf ein Lammkopf auf einem männlichen nackten Oberkörper mit einem Hund im Arm den Betrachter anblickt. Ganz leise Töne schlägt Katrin Stangl mit ihrem Linolschnitt zu «Liebe» an, auf dem ein junges Paar, einander zugewandt, schüchtern und verhalten auf einer Wiese liegt. Das Buch lädt zum Blättern, zum Entdecken von neuen Illustratoren und ebenso zum Nachdenken und auch Philosophieren ein. Einzig störend ist die den Illustrationen vorangestellte Typografie, bei der sich der Gestalter ausgetobt hat, anstatt eine durchgehende neutrale Schrift zu verwenden. Man hätte die Schriftgestaltung auch den Künstlern überlassen können. Mit Illustrationen von 30 Künstlerinnen und Künstlern:
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«Ein Buch, das man kaufen kann, über Dinge, die man nicht kaufen kann». |
Beat-Literatur in Bildern Im Juli dieses Jahres ist der Comic-Autor Harvey Pekar gestorben, der mit seiner autobiographischen «American Splendor»-Serie wie auch durch die Zusammenarbeit mit Künstlern wie Robert Crumb berühmt wurde. Eine seiner letzten Arbeiten war das Texten für «The Beats – A Graphic History», das im Original 2009 und nun auch im Zürcher Walde + Graf Verlag auf Deutsch erschienen ist. Der Comic stellt die US-amerikanische Strömung der Beat-Literatur in den 1950er-Jahren vor, deren Protagonisten als Erste explizit über Sex und Drogenmissbrauch schrieben und gleichzeitig auch versuchten, den treibenden Rhythmus und die langen Improvisationen des Bebop in ihre Sprache einfließen zu lassen. In Verbindung mit ihrer unkonventionellen Lebensweise entstand eine literarische Subkultur, die großen Einfluss auf die spätere Entwicklung des Punk wie auch auf die Pop-Kultur im Allgemeinen hatte. Harvey Pekar & Paul Buhle (Hrsg.), mit Zeichnungen von Ed Piskor,
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«The Beats. Die Geschichte der Beat-Literatur – eine Graphic Novel» |
Logik und Wahnsinn Mittlerweile gibt es Comics zu so gut wie allen Themen – und selbst Mathematik und Logik sind nicht vor dem Zugriff von Szenaristen und Zeichnern gefeit. So machte sich ein griechisches Team – ein Autor, ein Mathematiker, ein Zeichner, eine Koloristin – auf, so der Untertitel, «eine epische Suche nach Wahrheit» und schildert in «Logicomix» die Lebensgeschichte des Mathematikers, Logikers, Pazifisten und Literaturnobelpreisträgers Bertrand Russell (1872–1970), der zwischen 1910 und 1913 mit den «Principia Mathematica» eines der bedeutendsten mathematischen Grundlagenwerke des 20. Jahrhunderts schuf. Ist das interessant? Ja, es ist interessant, wie der Schreibende, der an Mathematik so gut wie kein Interesse hat, bei aller anfänglichen Skepsis gestehen muss. Die Autoren und Zeichner schaffen es, Russells Lebensgeschichte flüssig und süffig in einem vielleicht etwas altbackenen (aber durchaus zweckdienlichen) Ligne-Claire-Stil zu erzählen und seine hartnäckige, ja besessene Suche nach einer allgemeingültigen, unwiderlegbaren Grundlage der Mathematik in größere historische, politische, ideologische und wissenschaftliche Zusammenhänge zu stellen. Am eindringlichsten ist «Logicomix» dort, wo die Suche nach absoluter Klarheit in die verhängnisvolle Nähe des Wahnsinns führt, dem etliche von Russells Vorläufern, Weggefährten und Schülern verfielen, und vor dem sich auch der Rationalist Russell ein Leben lang fürchtete. «Logicomix» ist allerdings nicht ohne Schwächen. Die Rahmengeschichte – ein Vortrag Russells an einer amerikanischen Universität – ist zwar clever, aber es ist nicht glaubwürdig, dass Russell seine rund 300 Comic-Seiten lange Lebensgeschichte in diesem einzigen Vortrag erzählte. Auch konzentrierten sich die Autoren zu sehr auf die sog. «human interest»-Story – gerade der Mathematik-Laie hätte jedoch gerne mehr erfahren über die Mathematik, die Logik und die Bedeutung ihrer Grundlagen. Mit seinen vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten zwischen Text, Zeichnung, Diagramm und Typographie hätte der Comic die Möglichkeit, auch abstrakte Inhalte und Formeln auf gegenständliche und nachvollziehbare Weise zu visualisieren. Christos H. Papadimitriou, Alecos Papadatos, Anni di Donna: «Logicomix».
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«Logicomix» |
Der Schweiss, das Wasser, das Chlor «Spider-Woman» hatte ihre erste eigene Serie ab 1978. Darauf folgten diverse weitere, die schließlich zur Ende 2009 begonnenen Mini-Serie «Agentin von SWORD» führten. Deren sieben Teile sind vollständig im schlicht und einfach «Spider-Woman» betitelten Sammelband enthalten. Die lange Vorgeschichte der Agentin und Privatdetektivin Jessica Drew alias «Spider-Woman» ist mittlerweile ziemlich verworren und verzweigt. Für das Verständnis von «Agentin von SWORD» wird dieses Vorwissen aber nicht benötigt, denn die nötigen Fakten werden in kurzen Rückblenden und inneren Monologen geliefert, so dass man hier ohne Probleme einsteigen kann. Zu Beginn ist Jessica nach einer Entführung durch Außerirdische gerade auf die Erde zurückgekehrt. Während sie noch versucht, wieder in ihr früheres Leben zurückzufinden, wird sie von der Geheim-Organisation SWORD angeheuert, um Jagd auf die Skrulls zu machen, eine bösartige außerirdische Rasse von Gestaltwandlern, die sich unter die Menschen und auch die Superhelden gemischt hat. Schon während der Ausführung ihres ersten Auftrags bekommt sie zu spüren, dass hinter dem Auftrag viel mehr steckt als offensichtlich ist. Brian Michael Bendis (Text), Alex Maleev (Zeichnungen):
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«Spider-Woman: Agentin von Sword» |
Schöner Tod Death zählt zu den beliebtesten Nebenfiguren aus Neil Gaimans «Sandman»-Serie. Dies hängt sicher mit ihrem Erscheinungsbild und Charakter zusammen: Der Tod wird hier nämlich nicht als grimmiger Sensenmann dargestellt, sondern als junges, hübsches Goth-Mädchen, das dazu noch ausgesprochen freundlich, sanft, ein bisschen verträumt und meistens gut gelaunt ist und sogar einen gewissen Humor besitzt. Der Band «Death» versammelt erstmals die Geschichten, in denen diese Figur die Hauptrolle spielt. Mit «Der Preis des Lebens» und »Die Zeit deines Lebens» beinhaltet er zwei längere Geschichten, dazu kommen die erstmals auf Deutsch veröffentlichten Kurzgeschichten «Eine Wintergeschichte» und «Das Rad» sowie der AIDS-Aufklärungs-Comic «Death spricht über das Leben». Neil Gaiman (Text), Chris Bachalo, Mark Buckingham, Dave McKean & Jeffrey Jones (Zeichnungen): «Death».
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«Death» |
273 Sitzungen Dass Dominique Goblets autobiographisches «Faire semblant c‘est mentir» (L‘Association, 2007) im STRAPAZIN nicht besprochen wurde, ist unverzeihlich, handelte es sich dabei doch um einen meisterhaften autobiographischen Comic, in welchem sich Dominique Goblet mit schonungsloser zeichnerischer und erzählerischer Offenheit an ihre zerquälte Kindheit und verkorkste Jugend annäherte. Zwölf Jahre lang arbeitete Dominique Goblet an «Faire semblant c‘est mentir» und verfolgte im selben Zeitraum ein anderes, nicht weniger (auto-)biographisches Projekt. Von 1998 bis 2008 setzten sich Dominique Goblet und ihre Tochter Nikita Fossoul im Schnitt alle zwei Wochen einander gegenüber und zeichneten oder malten sich gegenseitig. 1998 war Dominique Goblet 31 und ihre Tochter 7; als sie ihr Projekt zehn Jahre später abschlossen, war Nikita Fossoul 17 und ihre Mutter 41. Nun liegen die in insgesamt 273 zeichnerischen Begegnungen entstandenen Doppel-Portraits in einem schmucken, querformatigen Hardcoverbuch vor. «Chronographie» erzählt ein Stück Familien- und Lebensgeschichte. Am deutlichsten sind die Spuren der Zeit in den Portraits zu sehen, die Dominique Goblet von ihrer Tochter zeichnete und malte: In den zehn Jahren reifte Nikita Fossoul vom kleinen Mädchen zur jungen Frau. Nicht minder interessant und aufschlussreich ist zu beobachten, wie sich die von der Tochter gezeichneten Bilder entwickeln. Die frühen Zeichnungen sind rührende Kinderzeichnungen, die aber bald schon, dank der regelmäßigen Arbeit, an handwerklichem Geschick und künstlerischem Gespür gewinnen. Dabei beobachtet man, wie Nikita sich bisweilen künstlerisch an ihre Mutter annähert, dann wieder eine möglichst große Distanz sucht – und vor allem beobachtet man, wie sich auch ihr Blick auf ihre Mutter immer wieder verändert. Es ist erstaunlich, wie viele kleine Geschichten in dieser unkommentierten Portraitsammlung mitschwingen. «Chronographie» schildert die Beziehung zwischen Mutter und Tochter und erzählt von Liebe, Zuneigung und intensivem Austausch, aber auch von (pubertären) Spannungen und Schwierigkeiten. Das ist im Kontext von Dominique Goblets Werk umso interessanter, als auch in «Faire semblant c‘est mentir» eine Mutter-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt stand: Die allerdings ziemlich gestörte und konfliktbehaftete Beziehung zwischen Dominique Goblet und ihrer Erzeugerin. Dominique Goblet/Nikita Fossoul: «Chronographie».
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«Chronographie» |