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  • Cover: Doreen Fletcher
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EDITORIAL

Ein leider seit Jahren...

Ein leider seit Jahren aktuelles Thema greift Jvana Manser in ihrem Comic auf, der Abschlussarbeit ihres Studiums an der Hochschule der Künste Bern; es geht um Flüchtende aus Eritrea – speziell um Eri, über dessen komplizierten Weg nach Europa sie im Laufe vieler Interviewstunden fast so viel erfahren hat, als wäre sie selber dabei gewesen. Derart lange Geschichten drucken wir selten ab, Jvana erzählt jedoch so packend, dass keine Langeweile aufkommt.

Kaum eine andere Figur wird von den konservativen Parteien in den Schweizer Urkantonen stärker mythologisiert, als die arbeitsame Bäuerin, aber den Mutterschaftsurlaub hat man ihr bis 2005 verweigert. Davon handelt der in Wort und Bild reduzierte, aber nichtsdestoweniger packende Comic von Anja Wicki über ihre weiblichen Vorfahren in Erstfeld, Kanton Uri, und deren hartes Leben als Bäuerinnen.

Ivano Talamo wohnt noch nicht lange in der Schweiz, deshalb fallen ihm Dinge ins Auge, die für uns so alltäglich sind, dass wir sie als nicht besonders erwähnenswert erachten, wie z.B. die Luftschutzräume in jedem Wohnhaus und unter vielen Parks und Spielplätzen. Einer davon, ein besonders grosser Bunker, befindet sich unter dem Zürcher Landenbergpark, sozusagen vor Ivanos Fenster.

Für die Argentinierin María Luque hingegen, die soeben ein paar Monate im Strapazin-Atelier verbracht hat, war es die Stille der Stadt, die sie erst irritierte, dann aber bestens schlafen liess. Aber dass man in manchen Schweizer Wohnhäusern nicht in High-Heels rumlaufen sollte, fand sie dann doch etwas übertrieben.

Die Hackfressen deutscher Offiziere im Ersten Weltkrieg, die George Grosz (1893-1959) so treffend wiedergab, seine Berliner Strassenszenen oder seine erotischen Phantasien gemahnen oftmals an Panels aus modernen Comics. Lance Hansen hat Georges Sohn Marty interviewt, der im Alter von drei Jahren mit der Familie vor den Nazis aus Berlin nach New York floh und sich auch im hohen Alter von 89 Jahren noch sehr gut an seinen Vater und andere Künstler erinnert, die sich früh genug aus Deutschland absetzen konnten.

Als ich Ende Februar eine Auswahl von Doreen Fletchers Bildern aus dem Londoner East End im Guardian sah, realisierte ich mit Bedauern, dass ihre Arbeiten ideal gewesen wären für die Flanieren-Ausgabe von Strapazin, die zu dem Zeitpunkt allerdings bereits kurz vor dem Abschluss stand und zudem ausschliesslich Schweizer Zeichner*innen versammelte. Um Doreens Impressionen von den Veränderungen, die sie im Verlauf der letzten Jahrzehnte in London beobachtet hat, trotzdem ins Heft zu bekommen, hätte ich mich zwar mit Nachdruck für ihre schnelle Einbürgerung eingesetzt, doch bald war mir klar, dass ihre illustrierte Reportage auch perfekt in die vorliegende Ausgabe passt.

Illustrierte Reportage? Altgediente Journalist*innen werden die Hände verwerfen, die Köpfe schütteln und entrüstete Kommentare schreiben, dass die hier versammelten Beiträge nichts mit Reportagen und schon gar nichts mit Journalismus zu tun haben.
Diese Diskussion werden wir vielleicht am Reportagen Festival des Magazins Reportagen vom 30.8. bis am 1.9. in Bern führen, wo Strapazin auch einen Comic-Reportagen-Workshop veranstaltet. Darin mitwirken wird auch Hannah Brinkmann, die im vorliegenden Heft mit der wahren Geschichte über einen fest entschlossenen und äusserst mutigen Hijacker vertreten ist, der 1972 im Alter von 28 Jahren mit dem Fallschirm aus einem Passagierflugzeug über dem US-Bundesstaat Indiana sprang, das erpresste Geld jedoch noch in der Luft wieder verlor.
Viel Vergnügen!
Christoph Schuler

PS: Strapazin feiert dieses Jahr das 35. Jubiläum und dreht Jesus,
Jimi Hendrix und Kurt Cobain eine lange Nase. Rock on!

 

Das Geschriebene Wort

Wolfgang Bortlik: Wahre Geschichten

Wirklichkeitsfreude, Sinnsuche und anarchistische Frisuren
Wahre Geschichten? Das wollt ihr? Also zum Beispiel wirkliches Geschehen, Realismus?! Das ist schon mal eine ganze literarische Epoche. Etwa 150 Jahre alt. Gottfried Keller war einer der Vertreter, er verlangte das «Sinnliche, Sicht- und Greifbare, das, was rein menschlich ist». Die Literatur müsse «unter Verzicht auf eine in der göttlichen Transzendenz begründete Sinnstiftung das menschlich Wahre, das was rein menschlich und darin gültig ist, in der Alltagswelt aufsuchen». Will heissen: Gott ist tot! Und jedes andere höhere Wesen auch. Und Dampfschiff und Eisenbahn statt blaue Blume und Herrgottswinkel.
Eine schöne Voraussetzung, um zu schreiben, Literatur zu machen. Es gab aber natürlich auch Pfaffen, die schrieben. Der Bitzius zum Beispiel, der sich Jeremias Gotthelf nannte. Ich mag den weniger ländlichen Keller lieber, vor allem auch, weil er mehr getrunken hat und deswegen wohl auch verzweifelter war als dieser Gotthelf mit seinem Ruhesitz in Gott und seinem vorbildlichen Ueli, dem Knecht. Aber vielleicht war doch Gotthelf der Anarchist und Keller der Bourgeois.
Aber lest ruhig einmal Das Fähnlein der sieben Aufrechten von Gottfried Keller aus dem Jahre 1861. Grandios. Eine wahre Geschichte aus der Geschichte. Dafür ist der arme Keller dann zum Nationaldichter der Schweiz hochgepusht worden. Ihm hat das wahrscheinlich auch nicht gefallen. Kellers sogenannte Züricher Novellen jedenfalls bringen mit dem scharfen Messer aus der Wirklichkeit die Wahrheit hervor.
Aber die ist ja immer zeitabhängig und deswegen auch nicht absolut, diese verdammte Wahrheit. Das also beim Lesen niemals vergessen, vor allem bei wahren Geschichten. Und ich befürchte sowieso, dass diese ihr eigentliches Gegenteil immer mit im Titel tragen: Stories, die so abgefahren/seltsam/irre sind, dass sie eigentlich gar nicht wahr sein können.

Eine wahre Geschichte aus den frühen 1960er-Jahren ist vor kurzem erschienen. Sie handelt von der existentiellen Sinnsuche, vielleicht auch Gottsuche, mittels psychedelischer Drogen.
T. C. Boyle erzählt in seinem neuen Roman von der Entdeckung des LSD durch Dr. Albert Hofmann von der Sandoz AG in Basel im Jahre 1942 und von den etwa 20 Jahre später folgenden Experimenten mit LSD und Psilocybin unter der Leitung von Dr. Timothy Leary, einem ehemaligen Psychologiedozenten in Harvard. Dabei geht es um das Bewusstsein und darum, es ordentlich zu erweitern und so den Zwängen der spiessbürgerlichen Herrschaft zu entkommen. So dachten sich das Leary und später die Hippies. Boyles Protagonist im Roman ist Fitz, ein Assistent des Doktors Leary, der sich nichts mehr wünscht, als bei den Drogentests des Meisters dabei zu sein.
Das Thema ist erregend und man versteht sehr gut, dass es Boyle als alten Hippie und Kind jener Zeit umtreibt und nicht loslässt. Aber leider sind seine Untersuchungen und wahren Geschichten ein furchtbar langweiliges Buch geworden. Erstens, weil Boyle nichts anderes als Beziehung und Sex als Motor der Geschichte in den Sinn gekommen sind. Sonst könnte man ja ohne Drangsal und Konflikt im Glück der Halluzinationen dahindämmern und die restliche Wirklichkeit ausser Acht lassen.
Der Beziehungsstress macht den Roman nicht unwahr, aber doch etwas schummrig. Und als endlich Stimmung aufkommt, nämlich als Ken Kesey mit seiner verwanzten Drogenkommune, den Merry Pranksters, bei Leary & Co. einfällt, da ist der Roman schon fast fertig. Dabei wäre es genau da interessant und komisch geworden, beim Zusammenprall von Learys und Keseys Gemeinschaftsgedanken, Drogenkonsum und Bewusstseinserweiterung. Denn die Kommune von Leary in Millbrook im Staate New York war eher sophisticated und versuchte, nicht beim FBI und anderen Ordnungskräften aufzufallen, die Merry Pranksters hingegen, die in ihrem berühmten Bus von Kalifornien aus quer durchs Land an die Ostküste fuhren, kümmerten sich da im Gegenteil um rein gar nichts.
Ein Problem für Boyle war vermutlich, dass es von den Fahrten der Merry Pranksters schon eine ausserordentliche literarische Dokumentation gibt, nämlich The Electric Kool-Aid Acid Test von Tom Wolfe. Der Mitbegründer des New Journalism liess sich kurz nach dem Geschehen, 1968, sehr wortstark und recht pathetisch aus über Kesey, die Merry Pranksters und ihre Reise im Bus nach Mexiko und durch die USA. Es ist die wahre Geschichte des wahrscheinlich ausdauerndsten Drogentrips der Welt. Für das Treffen der Kommunen von Kesey und Leary hat Wolfe aber auch nur knapp fünf Seiten in seinem sonst 560 Seiten starken Bericht reserviert. Es muss nicht so toll gewesen sein, dieses Aufeinandertreffen von West und Ost.
LSD war ja eine Zeit lang ein heisser Tipp bzw. ein Wundermittel, mit dem man hoffte, psychische Erkrankungen zu beeinflussen und zu behandeln. Oder den Nazi aus dem Hirn auszutreiben. Dann übernahmen die Hippies die Droge als Sakrament und sie wurde geächtet und verboten. Seit einem guten Jahrzehnt gibt es diesen wissenschaftlichen Ansatz wieder, also offizielle Versuche mit LSD als Therapie und Heilmittel. Davon berichtet das Buch von Michael Pollan mit dem Titel «Verändere dein Bewusstsein». Pollan beschreibt die Anwendung von LSD bei mentalen Erkrankungen wie Depressionen, Angstneurosen, Sucht und Obsessionen, aber auch bei ganz gewöhnlichem Unglücklichsein.
Was vom Ganzen übrig bleibt? Ein kleines, hübsches Zitat, aus einem Song von The Who:
I asked Bobby Dylan, I asked the Beatles, I asked Timothy Leary, but he couldn’t help me either. They call me the seeker, I’m a really desperate man.
Die wahren Geschichten holt sich die Schriftstellerei aus der Historie, siehe Gottfried Keller. Aber da unterliegt die sogenannte Wahrheit der Perspektive. Aus welchem Winkel betrachten die Schreibenden ihre gefundene Geschichte, von links, von rechts, von oben, von unten? Wer Wahrheit sehen will, sieht sie überall.
Die Ukraine, nicht die von heute, sondern die von vor etwa 100 Jahren: Nach dem Sonderfrieden von Brest-Litowsk zwischen Deutschland und Russland wird 1918 in Kiew der General und Grossgrundbesitzer Skoropadskyj mit Hilfe der Deutschen Regierungschef. Konkurrenz bekommt er von aussen durch die Russische Revolution, im eigenen Land durch den Sozialdemokrat Petljura, der später auch sein Nachfolger wird. Und weit draussen, in der Steppe, auf Pferden, mit Gewehren, dräuen die Revolutionäre des «Bundes der armen Bauern» und die Anarchisten mit den unglaublich heissen Frisuren: Nestor Machno, Woldemar Antoni, Tschubenko, Feodosij Schtjuss.
In Kiew wohnt unterdessen der Schriftsteller Michail Bulgakow und notiert sich seinen ersten Roman Die Weisse Garde. Der ist jetzt in einer ganz neuen Übersetzung erschienen. Der Autor hat endlos an diesem Werk herumgeschrieben und gefeilt. Bulgakow mischt Fakten und Fiktion zu einem grossartigen Roman, sprachspielerisch, experimentell, avantgardistisch. Es pfeift und knallt und zischt.
Ganz dokumentarisch hingegen, aus vielen Stimmen, Artikeln und Erinnerungen zusammengesetzt, erzählt der Schauspieler Mark Zak die höchst abenteuerliche Biographie von Nestor Machno und den ukrainischen Anarchisten. Sozusagen das Gegenprogramm zu Bulgakows grossbürgerlichem Familiendrama.

Eine wahre Geschichte ist auch, dass sich in den ersten Septemberwochen des Jahres 1869 zwei historisch bedeutsame Figuren in der Stadt Basel aufgehalten haben: Erstens der im Frühjahr an die Universität berufene, 25jährige ausserordentliche Philologieprofessor Friedrich Nietzsche, zweitens der Satan der Revolte, der russische Fürst und Anarchist Michail Alexandrowitsch Bakunin, in Basel anlässlich des vierten Kongresses der Internationalen Arbeiter Association. Dass sich die beiden damals in Basel getroffen haben, ist nirgends belegt und auch eher unwahrscheinlich. Nietzsche war ein verklemmter evangelischer Pastorensohn auf der Suche nach sich selbst, Bakunin hatte heftigst zu tun im Konflikt mit Karl Marx über die Abschaffung des Erbrechts und die Verneinung der Staatsmacht als politisches Mittel.
Aber man könnte sich doch vorstellen, ganz im Rahmen einer wahren Geschichte, dass sich die beiden eines abends per Zufall getroffen haben. Im Restaurant zum Goldenen Kopf an der Basler Schifflände zum Beispiel. Bakunin als starker Esser, Trinker und Raucher; Fritz Nietzsche, der gerade auf Vegetarier macht. Dazu etwas Kriminelles, oder so, als Handlung. Wer wird diese fast wahre Geschichte erzählen? Nächstes Jahr wird man Näheres wissen.

Lassen wir doch zum Schluss noch den hochverehrten Jorge Luis Borges etwas zum Thema sagen: Nun, ich würde sagen, dass alle Literatur im Wesen fantastisch ist; dass die Idee einer realistischen Literatur falsch ist, zudem der Leser weiss, dass das, was ihm erzählt wird, eine Fiktion ist.
NB: Man bemerke bitte, dass in obigem Text weder das Wort Fake noch die unselige Kombination Fake News vorkommt. Das ist hysteriebremsende Absicht!

Playlist

Gottfried Keller: «Züricher Novellen»
Diogenes Taschenbuch, Zürich 2019, 480 Seiten

T. C. Boyle: «Das Licht».
Hanser Verlag, München 2019, 380 Seiten

Tom Wolfe: «Der Electric Kool-Aid Acid Test»
Heyne Taschenbuch, München 2009, 560 Seiten.

Michael Pollan: «Verändere dein Bewusstsein. Was uns die neue Psychedelik-Forschung über Sucht, Depression, Todesfurcht und Transzendenz lehrt».
Kunstmann Verlag, München 2019, 496 Seiten

Michail Bulgakow: «Die Weisse Garde»
Galiani Verlag, Berlin 2019, 540 Seiten

Mark Zak: «Erinnert euch an mich. Über Nestor Machno»
Edition Nautilus, Hamburg 2018, 182 Seiten

Jorge Luis Borges: «Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn. Gespräche mit Osvaldo Ferrari»
Kampa Verlag, Zürich 2018, 320 Seiten


 

PFLICHTLEKTüRE

Helge Reumann: SUV & Frederik Peeters: Saccage


Männer mit Knarren

Bärtige Männer mit Knarren hasten durch die Panels, stossen auf ausserirdische Geisterwesen mit futuristischen Kanonen; anderswo rasen Krieger mit verhüllten Visagen auf wehrhafte Frauen los – und bald entfaltet sich ein verworrenes Alle-gegen-alle … Das Warten auf einen neuen Comic-Band von Helge Reumann hat ein Ende! In SUV wird geschossen, gestochen, geschnitten und geschlagen. Armeen prallen auf Guerilleros, Einzelkämpfer auf paramilitärische Horden – und all das wahlweise in dunklen Urwäldern, kargen Berglandschaften oder dystopischen Vorstadtwüsten. Dann und wann landet ein gut getarnter Fallschirmspringer und versucht, die Handlung an sich zu reissen. Die Handlung? Welche Handlung? Wie so oft versteht man bei Helge Reumann nicht wirklich, was er uns eigentlich erzählen will. Und doch ist man fasziniert vom klaren, exakten, sauberen Strich, vom rigorosen Seitenlayout mit den immer gleich grossen Panels, aber auch von der unerhörten Aggressivität und dem schwarzen Humor, die beide immer wieder zu Tage treten. SUV kommt ohne ein einziges Wort aus, vieles bleibt unklar, und das ist gut so – SUV ist ohne Zweifel ein intensives Leseerlebnis der Sonderklasse.
Auf Worte verzichtet auch Reumanns Genfer Kollege Frederik Peeters in Saccage. Der Titel – Blutbad – lässt eine Nähe zu Reumann vermuten, doch erzählt Peeters seine nicht minder rätselhafte Geschichte auf ganz andere Weise. Statt mit einer von Panel zu Panel vorwärtstreibenden Handlung, inszeniert Peeters sein halluziniertes Endzeitspektakel in knapp 90 grossen, mit kräftigen Farben ausgemalten Einzelbildern. Ein gelber, glatzköpfiger Mann lässt sich durch eine Welt treiben, die von Irrsinn besessen und in Auflösung begriffen zu sein scheint. Ein Albtraum von barocker Üppigkeit, halb Bibelillumination, halb Science-Fiction-Vision, mal prophetisch, dann wieder surreal oder schlicht dement. Mit Saccage legt Peeters einen beeindruckenden, alle Normen sprengenden Bilderreigen vor, in dessen visuelle Pracht man sich nicht nur wegen der zahllosen Verweise auf mehrere tausend Jahre Kunstgeschichte wieder und wieder und endlos vertiefen kann.

Christian Gasser

Helge Reumann: «SUV».
Les Editions Atrabile, 120 S.,
Hardcover, s/w, Euro 25 / CHF 30

Frederik Peeters: «Saccage».
Les Editions Atrabile, 96 S.,
Hardcover, farbig, Euro 23 / CHF 28

Leopold Maurer und Regina Hofer: Insekten

Mit Nazis reden

Leopold Maurers Grossvater war bis zu seinem Tod bekennender Nationalsozialist; mit 17 Jahren hatte er sich freiwillig bei der Waffen-SS gemeldet, später war er an zahlreichen Kriegsverbrechen beteiligt, unter anderem in Russland, Belgien, Frankreich, Ungarn und in der Ukraine. Auch nach dem II. Weltkrieg hielt er Kontakt zu Ehemaligen der Waffen-SS und traf sich regelmässig mit ihnen. Seinem Enkel, dem freischaffenden Künstler, erzählte er gerne und begeistert vom Krieg, wie er siegreich durch Europa zog und Menschen tötete … Auf der Basis seiner Gespräche mit dem Grossvater, zum Teil mit Recherchen ergänzt, hat Leopold Maurer mit der Künstlerin Regina Hofer den Comic Insekten erarbeitet. Die ausführlichen und schrecklichen Schilderungen des Mordens wurden bewusst mit surrealistischen und assoziativen Bildfolgen illustriert, um die Wucht des gesprochenen Wortes nicht zu überlagern. «Das musst du erlebt haben», sagte der Grossvater oft zu seinem Enkel. Doch wer die Monologe des ehemaligen SS-Schergen liest, fragt sich, welche Form der Resilienz Menschen wohl entwickeln, um derartige Bilder auszublenden. Die Erzählungen sind eine Reise an die Schauplätze der schrecklichsten Kriegsverbrechen in Europa während des NS-Regimes. Der Grossvater, noch immer stolz, zu den Eliteeinheiten «Das Reich» und «Der Führer» gehört zu haben, klammert sich an die Ideologie des Nationalsozialismus, was ihm sein eigenes Überleben ermöglichte. Mit Insekten ist dem Autorenteam ein aufwühlender und abstossender Einblick in die Untiefen menschlicher Abgründe gelungen, eine besonders schwierige Arbeit, wenn der Protagonist der eigenen Familie angehört. Um so mehr gebühren Leopold Maurer und Regina Hofer Respekt, dieses Buchprojekt realisiert zu haben, ebenso dem Luftschacht Verlag für die Veröffentlichung.

Matthias Schneider

Leopold Maurer und Regina Hofer: «Insekten».
Luftschacht Verlag, 232 S.,
Softcover, s/w, EUR 23 / CHF 33.50

Tommi Parrish: The Lie and How We Told It

Sex, Angst und Lügen

«Grossartige» Kunstwerke tendieren dazu, sich mit dramatischen Momenten zu beschäftigen: Geburt, Liebe, Tod, Konflikten, Leidenschaften, Hoffnung, Verzweiflung – die meisten Leben aber sind arm an richtigen Dramen. Eine viel grössere Herausforderung ist es aber, den Alltag künstlerisch darzustellen: einkaufen gehen, Freunde treffen, ein Buch lesen, über einen Liebhaber tratschen, ein paar Drinks reinkippen, Selbstzweifel wälzen, Entscheidungen anzweifeln, das Nichtstun. Genau das macht die in Kanada lebende Australierin Tommi Parrish in ihrem Buch The Lie and How We Told It, einer der besten Graphic Novels, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
Parrish beweist in ihrer ersten längeren Arbeit überragendes Können, obwohl auf 125 Seiten eigentlich nicht viel geschieht. Sie taucht ein in die Gedanken eines jungen Mannes und einer jungen Frau, die sich mit Themen wie Liebe, Verlangen, Sex, Angst, Selbstfindung, Selbstbewusstsein, Freundschaft, Identität, dem Älterwerden und – ja, auch das – mit dem Sinn des Lebens herumschlagen.
Man kommt sich vor, als würde man die Figuren belauschen, während man sich seine eigenen Fragen zu den Themen des Buches und somit auch zu seinem eigenen Leben stellt. (Ich bin ein paar Jahrzehnte älter als die Personen im Buch, die um die 30 sind, was für die Zeitlosigkeit des Buches spricht.)
Parrishs Zeichnungen sind atemberaubend üppige Aquarelle mit einer Farbpalette, die Paul Gauguin oder David Hockney beeindrucken würde, und The Lie erinnert uns wieder einmal daran, dass für einen gelungenen Comic die Beherrschung von Text und Bild erforderlich ist. Die Figuren nehmen viel Raum ein, sie erinnern an Lorenzo Mattotti oder Carol Swain, die Anordnung der Panels ist originell und unkonventionell – man kann gar nicht anders, als immer wieder innezuhalten und zu staunen. Parrish hat einen sehr eigenen, nicht unbedingt eingängigen Sinn für Seitengestaltung, selbst bei dem von ihr verwendeten engen 6-Panel-Raster, der das Auge geschickt führt und die Geschichte antreibt. Eine Geschichte, die durch ein nicht weniger elegant gezeichnetes Buch im Buch unterbrochen wird, was nicht unbedingt notwendig wäre, jedoch als Gegengewicht funktioniert und gleichzeitig Aufschluss gibt über die verschiedenen Formen von Verlangen und Geschlecht in The Lie.
Und was ist nun mit der «Lüge» im Titel des Buches? Geht es darum, wie wir andere belügen? Uns selbst? Um die Lügen, die wir stillschweigend akzeptieren? Parrish gibt darauf keine explizite Antwort, aber noch lange nach Beendigung von The Lie gehen einem diese Fragen im Kopf herum, was die ästhetische Erfahrung umso eindrucksvoller macht.

Mark David Nevins

Tommi Parrish: «The Lie and How We Told It».
Fantagraphics 2018, 128 S.,
Hardcover, farbig und s/w, $ 24.99

 

Frits Jonker, Eric Heuvel: Geheimnis der Zeit. Integral

Auf der Spur der verborgenen Zeit

Womöglich täuschen wir uns. Vielleicht ist die Welt in Wirklichkeit ganz anders, als sie uns Menschen erscheint, vielleicht ist auch die Zeit nichts als eine Illusion. Zwar bewegen wir uns, was immer wir tun oder denken, stets aus der Vergangenheit in eine Zukunft. Doch, wer weiss, vielleicht hat die Zeit tatsächlich weder Richtung noch Anfang noch Ende, gleicht sie vielmehr der mythischen Schlange Ouroboros, die sich – je nach Perspektive – in den Schwanz beisst oder sich aus dem Mund heraus selber erzeugt. Mit solchen Ideen spielen die Niederländer Frits Jonker und Eric Heuvel in ihrer vierbändigen Serie Geheimnis der Zeit, die nun auf Deutsch als Gesamtausgabe bei Kult Comics erschienen ist. Die Wirklichkeit wird von den beiden wie eine Art Computersimulation behandelt, die den Menschen eine künstliche Wirklichkeit vorspielt. Die Zeit erscheint darin wie ein Netzwerk, in dem Zeitportale verschiedene Orte und Epochen miteinander verknüpfen. Hauptfigur ist die IT-Redakteurin Sabina Tromp. Mit einem Journalisten, einem Nanotechnologie-Unternehmer, einem High-Tech-Schamanen und verschiedenen «Zeitwächtern» muss sie einer Geheimorganisation zuvorkommen, die am Vorabend einer neuen Zeit die Weltmacht an sich reissen will. Wer sich an den Film Matrix oder die Science-Fiction-Literatur von Philip K. Dick erinnert fühlt, liegt richtig – sie zählen ebenso zu Jonkers Quellen wie die Vertreter der «Simulationshypothese». Manche der Thesen, die Jonker aufgreift, sind durchaus diskutabel und scheinwissenschaftlichen Ursprungs. Die Enigma-Codes zum Beispiel, mit denen die Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg ihre Nachrichten verschlüsselten, wurden bekanntlich nicht dank eines mysteriösen «Thora-Codes» entziffert, sondern aufgrund der Fähigkeiten von Mathematikern wie Alain Turing. In Geheimnis der Zeit ist das zu verkraften, schliesslich will Jonker niemanden überzeugen, an die Ideen zu glauben, die er dem Comic zugrunde legt: «Ideen sind Hilfsmittel für unser Denken, mehr nicht», schreibt er nicht ohne Ironie im Vorwort. Eric Heuvel seinerseits kennt die Techniken der Ligne claire aus dem Effeff. Seine Bildfolgen sind perspektiven- und abwechslungsreich und ermöglichen ein angenehmes Lesetempo. Am besten macht man es wie Sabina Tromp, die einmal verrät, sie gehe mit «wohlwollendem Zweifel» an die Geschichte heran. So betrachtet ist das Geheimnis der Zeit ein guter Comic, der einen unterhaltsamen Nachmittag verspricht – nicht mehr und nicht weniger.

Florian Meyer

Frits Jonker, Eric Heuvel: «Geheimnis der Zeit. Integral».
Kult Comics, 200 S.,
Hardcover, farbig, EUR 35 / CHF 46.90

Matthias Gnehm: Salzhunger

Konsequenzen

«Weisst du, was ich denke? Dir ist das Salz ausgegangen. Alles ist fade geworden. Du hast keinen Appetit mehr auf das Leben. Du hast keinen Salzhunger mehr. Aber du bist einfach zu feige, um dich umzubringen.» Ob dem Schweizer Arno Beder das Salz aufgrund des desolaten Zustandes der Welt oder der beschädigten eigenen Psyche ausgegangen ist, lässt Matthias Gnehm in Salzhunger offen, doch dass der aus Nigeria stammende Umweltaktivist Anthony Nwoko mit seiner Einschätzung richtig liegt, ist klar. Auch Arnos Zürcher WG-Mitbewohner machen sich Sorgen um ihn: Seit er sich mit seiner Masterarbeit über Die globalen Auswirkungen der ungebremsten Rohstoffausbeutung aufgerieben und seine grosse Liebe ihn verlassen hat, ist er noch schweigsamer und in sich gekehrter als sonst. Die persönlichen Konsequenzen, die Arno Beder aus dieser Lebenskrise zieht, sind von Matthias Gnehm in eine weltumspannende Story eingebettet worden, in der die Kontinuität der Ausbeutung ehemaliger kolonisierter Länder in der sogenannten «Dritten Welt» durch europäische und US-amerikanische Konzerne im Mittelpunkt steht. In Salzhunger ist es das fiktive Rohstoffunternehmen Boromondo, das unter anderem in Nigeria auf Kosten der dortigen Bevölkerung und der Natur geschäftet, und mit der Unterstützung korrupter Politiker und Behörden auch über Leichen geht. Arno wird Zeuge, wie Milizen einen Jugendlichen erschiessen, der seine Hütte in einem Slum am Rande von Lagos nicht räumen will. Auch die Familie von Anthony Nwoko hat der Konzern auf dem Gewissen. Eine Gruppe von Umweltaktivist*innen, zu denen auch Arno gehört, will die Machenschaften des Konzerns offenlegen und gerät zwischen die Fronten. Welche dieser Abgründe der Globalisierung real sind und welche sich nur im Kopf des Protagonisten abspielen, lässt Gnehm bis zuletzt offen, doch es wird ohnehin deutlich, dass sich alles – von den Räumungen der Slums über die chemieverseuchten Gewässer bis zu Folter, Korruption, Überfällen und Mord – exakt so hätte abspielen können.
Matthias Gnehms genauer Blick – insbesondere die Stadtansichten des studierten Architekten sind in ihren Details beeindruckend – macht auch vor den Protagonisten nicht halt. Fast keiner im Personengeflecht ist einzig «gut» oder «böse», selbst die Umweltaktivist*innen sind mitunter von Karrierismus oder dem Wunsch nach Rache angetrieben. Gnehm verleiht der Komplexität der Gegenwart auf diese Weise Ausdruck, und auch wenn die Welt am Ende des Albums noch immer kurz vor dem Abgrund steht, ist zumindest ein Mensch bereit, das Gegebene nicht länger hinzunehmen und bricht erneut nach Lagos auf.

Jonas Engelmann

Matthias Gnehm: «Salzhunger».
Edition Moderne 2019, 224 S., farbig,
Softcover, EUR 32 / CHF 39.80

Lewis Trondheim: Die neuen Abenteuer von Hr. Hase 2: Das verrückte Unkraut

Fantastische Parallelwelten

Anfang der 90er-Jahre startete Lewis Trondheim nicht nur seine Karriere, er gründete auch – zusammen mit Gleichgesinnten wie Killoffer, David B. oder Jean-Christophe Menu – den Verlag L‘Association und brachte damit eine neue Generation auf den Plan, die bis heute enorm einflussreich ist. Trondheims Figur Lapinot ist von Anfang an dabei, und bereits mit Lapinot et les carottes de Patagonie, einem 500-seitigen, schwarzweissen Fantasy-Opus (das noch nie auf Deutsch erschienen ist) wird klar, dass Grenzen für ihn nicht gelten. Die offizielle Reihe Die Abenteuer von Herrn Hase – so der deutsche Titel – beginnt 1993 mit Slaloms und endet zehn Jahre später in Wie das Leben so spielt mit dem Tod des Protagonisten. Zwischen Alltagsszenarien, die an französisches Dialogkino erinnern und Lapinots Liebesleben ebenso beleuchten wie die Beziehungen zu seiner Clique, gibt es immer wieder Genre-Ausreisser in komplett anderen Szenerien – ein Western, ein romantisches Drama im England des 19. Jahrhunderts, eine Fin-de-Siècle-Schauergeschichte oder magische Fantasy. Nach dem zutiefst tragischen und berührenden Ende von Herrn Hase gab es unter dem Banner Die Abenteuer ohne Herrn Hase einige Bände mit Nebenfiguren der Hase-Reihe. Doch dreizehn Jahre später lässt Trondheim Lapinot wiederauferstehen! Eine Verzweiflungstat, weil Ideen fehlen? Ein Versuch, an einen alten Erfolg anzuknüpfen? Weit gefehlt! Bereits im ersten Band, Eine etwas bessere Welt, ist der alte Esprit da – mit grosser Tragik und tollem Humor erzählt Trondheim von einer Parallelwelt, in der Hase noch lebt.
2018 hat Trondheim täglich ein Panel ohne Worte gezeichnet, alle Panels zusammen ergeben nun den zweiten Band, Das verrückte Unkraut, wo die Idee einer Parallelwelt weitergesponnen wird. Hase schlendert durch Paris, wird aber immer wieder in einen postapokalyptischen Paris-Dschungel gezogen: Gras wächst rasend schnell vor ihm auf dem Bürgersteig, die Menschen verschwinden und verwandeln sich in Monster. Mal kann Hase Kontakt zu seinem Kumpel Richard herstellen und ist wieder im Hier und Jetzt, dann überwuchert die Natur wieder die Stadt und Hase steht mitten in zugewachsenen Gassen. Bis Hase den Hintergrund des Spuks aufdecken kann, muss er einige fantastische und turbulente Abenteuer überstehen. Dass die Geschichte nicht als Album, sondern als kleinformatiges, dickes Büchlein mit nur einem Panel pro Seite erscheint, passt zur Erstveröffentlichung im Web, wird aber jeden ordentlichen Comic-Sammler mit Formatsortierung ähnlich nervös machen wie das Werk von Chris Ware.

Christian Meyer-Pröpstl

Lewis Trondheim: «Die neuen Abenteuer von Herrn Hase 2: Das verrückte Unkraut».
Reprodukt, 368 S., Hardcover, farbig, EUR 20 / CHF 38.90

J.Lemire/A.Sorrentino/D.Stewart: Gideon Falls Bd. 1 - Die Schwarze Scheune

Ländlicher Horror

Norton lebt in der Grossstadt und sucht im Müll obsessiv nach Holzsplittern und Nägeln, Teile einer mysteriösen Scheune, die ihm seit seiner Kindheit in Albträumen erscheint. Von der schmutzigen Metropole wechselt die Szenerie in eine ländliche Gegend – Pater Fred fährt an weiten Kornfeldern vorbei und erreicht die kleine Gemeinde von Gideon Falls. Der Pfarrer wurde zwangsversetzt, nachdem sein Vorgänger verstorben ist. Wie Norton scheint auch Pater Fred mit einer problematischen Vergangenheit zu kämpfen. Eines Nachts wird er von seinem – untoten? – Vorgänger geweckt, der ihm schreckliche Geheimnisse offenbart, die allesamt mit der schwarzen Scheune zu tun haben, die immer wieder da und dort auftaucht und Tod und Wahnsinn verbreitet. So wie Norton die gefundenen Holzstücke zu einem Puzzle zusammenbaut, verflechten sich die zwei Erzählstränge und bringen die beiden Protagonisten näher. Norton und Pater Fred kommen einer teuflischen Verschwörung auf die Spur und sehen sich mit ihren eigenen Dämonen und ihrem Glauben konfrontiert.
Seit einigen Jahren feiert der Kanadier Jeff Lemire als Comic-Autor grosse Erfolge. Zuerst in der Indie-Szene, dann bei den Verlagen DC und Marvel und zuletzt mit Sci-Fi- und postmodernen Superhelden-Dramen. Mit dem Künstler Andrea Sorrentino hat Lemire eine rurale Horror-Geschichte geschaffen, wie man sie von Autoren wie Stephen King kennt, die das versteckte Grauen hinter einer scheinbar idyllischen Gemeinde zeigt. Weit stärker als Lemires Text ziehen aber Sorrentinos realistische, stark expressionistische Zeichnungen und seine verschachtelten Bildsequenzen die Leser*innen in den Bann. Das Grauen bleibt oft dezent verborgen und Blut bekommt man selten zu sehen. Vielmehr handelt es sich um einen packenden, düsteren magischen Realismus. Man kann Lemire nur beipflichten, wenn er in einem Interview sagt: «Gute Comics sind gute Comics, das Genre ist egal».

Giovanni Peduto

Jeff Lemire / Andrea Sorrentino / Dave Stewart:
«Gideon Falls Bd. 1 – Die Schwarze Scheune».
Splitter, Bielefeld 2019, 160 S.,
Hardcover, farbig, EUR 24 / CHF 30.50

Daria Bogdanska: Von unten

Im Untergrund

In ihrem autobiographischen Comic Von unten schildert Daria Bogdanska ihre Einwanderung aus Polen nach Schweden, wo sie 2013 mittellos ankommt und ein Studium an der Kunsthochschule beginnt. Bogdanska betreibt mit dieser Geschichte aber keine Nabelschau, sondern legt den Fokus auf das Problem der Ausbeutung eingewanderter Menschen im schwedischen Arbeitsmarkt, speziell in der Gastronomie. Als Osteuropäerin hat Bogdanska selbst nicht die besten Karten, aber für ihre nichteuropäischen Kolleginnen und Kollegen, die wie sie selbst schwarz in einem indischen Restaurant schuften, sieht die Situation noch deutlich schlechter aus.
Bei aller Kritik an Lohnausbeutung, behindernder Bürokratie oder hilflosen Gewerkschaften erzählt Bogdanska aber vor allem die unterhaltsame Geschichte einer punkigen jungen Frau Mitte zwanzig, die sich nicht unterkriegen lässt und sich in ihrer neuen Heimatstadt Malmö einen Freundeskreis in der alternativen Szene aufbaut. Ob Wohnungsnot, Geldsorgen, unsicherer Aufenthaltsstatus oder Gefühlschaos wegen zwei Männern – Daria, die Protagonistin, bietet sämtlichen Widrigkeiten die Stirn, richtet sich im Untergrund ein und stellt sich einem riskanten Arbeitskampf.
Die langen dunklen Haare hinter die Ohren geklemmt, blickt sie mit grossen Augen aus ihrem runden, freundlich wirkenden Gesicht. Zusammen mit ihrer Körperhaltung und der durch wenige Striche angedeuteten Mimik sind es vor allem die Augen, die eine ganze Bandbreite an Gefühlen zum Ausdruck bringen: desillusioniertes Vor-sich-hin-Starren, neugieriger Blick geradeheraus, erschöpftes oder genervtes Augen-nach-oben-Rollen, nachdenklicher Blick nach unten, oder auch – herangezoomt in zwei schmalen Panels – verstohlene Blicke nach rechts und links bei einem vertraulichen Treffen mit einer Journalistin. Durch solche Techniken wirken die im Fanzine-Stil gezeichneten Figuren auch ohne übertriebene Anatomie-Treue lebensnah.
Schön ist auch, wie Bogdanska die Mittel des Comics verwendet, um Sprache zu thematisieren: Am Anfang, als Daria noch kaum Schwedisch spricht, stehen Texte auf Englisch in den Sprechblasen. Nach und nach beherrscht sie die neue Sprache, und schliesslich finden alle Dialoge auf Schwedisch statt (und sind auf Deutsch übersetzt). Smalltalk auf einer Party steht als «Bla bla bla» oder in Form welliger Linien in den Blasen. Und eine politische Diskussion wird kurzerhand mit Symbolen wie Flaggen und Fäusten, Streikschildern und Smileys bestritten.

Barbara Buchholz

Daria Bogdanska: «Von unten».
Avant-Verlag, 200 S., s/w, Softcover,
EUR 22 / CHF 31.90

 

Kurz und Gut

von Christian Meyer-Pröpstl


Catherine Meurisse, Mitarbeiterin von Charlie Hebdo, hat den islamistischen Terroranschlag vom 7. Januar 2015 überlebt, doch das Trauma sass danach tief. Ihren Weg zurück ins Leben hat sie in ihrem Comic Die Leichtigkeit verarbeitet. In Weites Land erzählt sie von ihrer Kindheit auf dem Land und davon, wie später die Kultur in ihr Leben trat und neben der Natur eine lebensnotwendige Rolle einnahm. Wunderschöne Bilder, die das Leben feiern, ohne dessen Schattenseiten auszublenden.

Catherine Meurisse: «Weites Land».
Carlsen, 96 S.,
Hardcover, farbig, EUR 18 / CHF 31.90

 
Ein kleiner Schritt für die Menschheit ist nach Tobisch, Joachim Brandenbergs zweite Graphic Novel, und wieder geht es mit künstlerischer Freiheit in die Historie. Venedig, im Jahr 1325: Drei Gelehrte machen sich auf, den Ort zu finden, an dem der Mond aus der Erde hervorkommt, um dann schnell auf den Trabanten zu springen … oder so ähnlich. Brandenbergs stilisierte Zeichnungen passen zu der artifiziellen Geschichte, die immer mehr abdriftet. Eine schöne Parabel über den Glauben, der Berge versetzen kann.

Joachim Brandenberg: «Ein kleiner Schritt für die Menschheit».
Jaja Verlag, 120 S., Softcover,
farbig, EUR 18 / CHF 28.90

 
Der Kanadier Jeff Lemire wechselt souverän zwischen Autoren-Comic und Mainstream, mitunter in ein und derselben Geschichte: Black Hammer erzählt von Superhelden, die nach dem finalen Gefecht gegen das Böse in einer sehr normalen Parallelwelt gelandet sind, auf einer Farm in einer Kleinstadt im Nirgendwo. Für immer und ewig, denn es gibt keinen Weg hinaus. Für die ehemaligen Weltretter ist das die Hölle. Im dritten Band von Age of Doom – Buch 1 geht es dann buchstäblich in die Hölle! Eine grossartige Reihe, zu der es bereits zwei Spin-offs gibt.
Mit Superhelden kennt sich auch Frank Miller aus. Mit seinem ambivalenten Batman in The Dark Knight hat er Ende der 80er-Jahre das Genre modernisiert und seine Abgründe ausgelotet. Superhelden und Abgründe interessieren ihn auch bei seinen historischen Stoffen – 300, über die Schlacht der Spartaner bei den Thermopylen, oder nun Xerxes, über die Perserkriege des Grosskönigs. Millers Hang zum männlichen Heroismus ist durchaus fragwürdig und er orientiert sich lieber an Legenden statt an Geschichtsschreibung, doch seine Stilisierung (Xerxes strahlt wie eine diamantbesetzte Skulptur) ist trotz (oder wegen) der ungeschönten Brutalität durchaus faszinierend.

Jeff Lemire: «Black Hammer 3: Age of Doom – Buch 1».
Splitter, 136 S.,
Hardcover, farbig, EUR 19.80 / CHF 37.90

Frank Miller: «Xerxes».
Cross Cult, 104 S.,
Hardcover, farbig, EUR 30 / CHF 44.90

 
Jacques Tardi schliesst mit Nach dem Krieg seine gross angelegte Trilogie Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B über die Erlebnisse seines Vaters während des Zweiten Weltkriegs ab. Nach unzähligen Comics über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Pariser Kommune, nach Krimis und fantastischen Geschichten – immer politisch aufgeladen und zutiefst menschlich – ist dies das persönlichste Werk des heute 73-Jährigen. Im letzten Teil der Trilogie erzählt Tardi, wie sein Vater nach dem Krieg mit der französischen Besatzungsarmee zurück nach Deutschland geht, wo Sohn Jacques zur Welt kommt und ein paar Jahre seiner Kindheit verbringt. So endet die beeindruckende Trilogie als Autobiografie. Eines von Tardis ersten Alben war Aufruhr in der Rouergue, entstanden zusammen mit dem Szenaristen Pierre Christin. Auch der acht Jahre ältere Christin ist politisch meist mehr oder minder explizit in seinen Stoffen, wie z.B. für Jean-Claude Mézières (Valerian & Veronique), Enki Bilal (Legenden der Gegenwart). Nun hat auch er mit Ost – West sein persönlichstes Werk vorgelegt, in dem er mit Hilfe von Philippe Aymond und dessen sehr detailreichen Farbzeichnungen auf sein Leben zurückblickt. Im Zentrum stehen seine Reisen in den 60er- und 70er-Jahren in die USA und nach Osteuropa, die ihn zu zahlreichen Comics inspiriert haben. Damit ist seine Autobiografie zugleich ein politischer Überblick über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Jacques Tardi: «Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B – Nach dem Krieg».
Edition Moderne, 160 S.,
Hardcover, farbig, EUR 32 / CHF 44.90

Pierre Christin: «Ost – West».
Carlsen, 144 S.,
Hardcover, farbig, EUR 22 / CHF 34.90

 

Bei Gefallen auch mehr von Dominique Goblet und Kai Pfeiffer erzählt in groben Zügen vom Auseinanderfallen einer Familie. Ein Polizist hat berufliche Probleme; eine Frau sucht per Kontaktanzeige neue Männer, die der neurotischen Tochter ein Schwimmbad bauen sollen. Die Umsetzung der Geschichte schwankt immer wieder zwischen konkreten surrealen Story-Elementen und komplett abstrakten Bildern, die Gefühlsmomente zwischen Verzweiflung und Manie umkreisen. Schwere Kost, schön anzuschauen.

Dominique Goblet / Kai Pfeiffer: «Bei Gefallen auch mehr».
avant verlag, 176 S.,
Softcover, farbig, EUR 39.95 / CHF 57.90

 
Katharina Greve widmet sich in Die dicke Prinzessin Petronia mit trockenem Humor dem schwarzen Schaf in der Familie von Saint-Exupérys Prinzen. Petronia, des smarten Prinzen Cousine, ist stets trotzig, übellaunig und weder weise noch poetisch. Sie hat einen winzigen Planeten abbekommen, auf dem sie kaum stehen kann, und ist mit ihrem Dasein zurecht unzufrieden. Die einseitigen Strips erscheinen seit 2015 in der deutschen Zeitschrift Das Magazin und liegen nun als Sammlung im Buchformat vor.

Katharina Greve: «Die dicke Prinzessin Petronia».
avant verlag, 104 S.,
Hardcover, farbig, EUR 20 / CHF 32.90

 
Der Berliner Verlag Reprodukt veröffentlicht mit Amerika bereits den fünften Band der thematisch gebündelten Robert-Crumb-Serie. Amerika versammelt Arbeiten aus den Jahren 1969 bis 1993, die Crumbs erbarmungslosen Blick auf seine alte Heimat – seit Mitte der 90er-Jahre lebt er in Frankreich – offenbart. Fetisch Auto, Militarismus, Hippietum und dessen schauriges Ende durch die Manson-Morde. Alte Strips über Donald Trump, über Verschwörungstheorien bezüglich «jüdische Weltherrschaft», oder über die «Einwandererschwemme» der Latinos – die Themen sind leider aktuell wie lange nicht mehr. Aber so bösartig wie Crumb behandelt sie noch immer kein anderer Zeichner.

Robert Crumb: «Amerika»
Reprodukt, 96 S.,
Hardcover, s/w, EUR 29 / CHF 46.90

 

Biografien

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María Luque
kam 1983 in Argentinien zur Welt. Seit 2005 hat sie mit ihren Arbeiten an Ausstellungen in Museen und Galerien in Argentinien, Chile, Peru, Mexiko, Spanien, Portugal und in der Schweiz teilgenommen, ihre Werke erschienen in einer Vielzahl von Publikationen. Sie ist die Autorin von La Mano Del Pintor, einer Graphic Novel über den Maler Cándido López (Sigilo, 2016, L’Agrume Éditions, 2017), Casa Transparente (Sexto piso, 2017, Premio Novela Gráfica Ciudades Iberoamericanas) und Noticias De Pintores (Sigilo, 2019). Im Frühjahr 2017 verbrachte sie drei Monate im Strapazin-Atelier in Zürich, wo der hier abgedruckte Comic entstand.

www.instagram.com/maria.j.luque

Anja Wicki
geboren 1987, studierte in Luzern und Hamburg Illu-stration und arbeitet seit dem Abschluss ihres Studiums als selbstständige Illustratorin und Comic-Zeichnerin. Zusammen mit Andreas Kiener und Luca Bartulovic veröffentlicht sie seit 2009 das Ampel Magazin. Neben dem Zeichnen nimmt das Gestalten von 3D-Objekten einen wichtigen Teil in ihrer Arbeit ein.

www.anjawicki.ch

Lance Hansen
lebt als Autor und Zeichner in Philadelphia, USA. Seine Arbeiten erscheinen in MAD Magazine, The Nation, The American Bystander und in The Weekly Humorist. Zurzeit arbeitet er an verschiedenen langfristigen Projekten.

www.facebook.com/lance.hansen.7

Ivano Talamo
ist ein italienischer Illustrator und IT-Spezialist, er arbeitet im Strapazin-Atelier in Zürich. Er schläft nicht viel und verbringt seine Zeit mit Lesen, Programmieren und Zeichnen. Abgesehen von Parmesan findet er Comics und Illustration die besten Erfindungen in der Geschichte der Menschheit.

www.ivanotalamo.com

Doreen Fletcher
1952 in Newcastle-under-Lyme (GB) geboren und aufgewachsen, zog 1972 nach London, wo sie als Aktmodell arbeitete, bevor sie eine Zeitlang eine Kunstschule besuchte. Ab 1983 wohnte sie in East London, dem damals bei Künstler*innen sehr beliebten Stadtteil, gab es dort doch erschwingliche Ateliers und Wohnungen. Doreen Fletcher malte stets vor allem das Alltägliche, das Unspektakuläre, das Vergängliche, und hatte damit auch einigen Erfolg, bis sie – mit dem Aufkommen der Konzeptkunst, wie sie meint – plötzlich durch alle Maschen fiel und kaum mehr ausstellen konnte. Bis 2013 arbeitete sie als Zeichenlehrerin, stürzte sich dann aber mit Leidenschaft erneut in die Malerei, über die sie sagt: «Ich glaube, die Malerei, das Zusammenspiel auf der Leinwand von Erinnerung, Erzählung, Form und Zeit, entführt Auge und Verstand in ein anderes Universum. Und dort beginnt die Poesie». Doreen Fletcher wohnt heute teils in einer ruhigen Londoner Gegend, teils in den südfranzösischen Cevennen.

www.doreenfletcherartist.com

Hannah Brinkmann
studiert Grafische Erzählung im Master bei Anke Feuchtenberger an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Sie ist Mitbegründerin des Online-Magazins ODRADEK, das journalistischen Content bildlich, illustrativ und interaktiv umsetzt. Momentan arbeitet sie an einem langen Comic über die Kriegsdienstverweigerung ihres Onkels, den sie dieses Jahr fertig stellen will.

www.instagram.com/hannahvmbrinkmann

Jvana Manser
1994 in Appenzell geboren, studierte Visuelle Kommunikation an der Hochschule der Künste Bern. Ihr hier abgedruckter Comic ist ihre Abschlussarbeit an der HKB. Sie lebt und zeichnet in Luzern.

www.jvana.ch