No: 110

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EDITORIAL

Um es gleich vorwegzunehmen :

Diese STRAPAZIN-Ausgabe beinhaltet keine Comics. Bildergeschichten werden dennoch erzählt.
«Kollision» bildet in dieser Ausgabe nicht nur die thematische Klammer, Kollisionen finden tatsächlich statt. In diesem Heft heben wir die sonst übliche Heftstruktur
– Beitrag folgt auf Beitrag – auf.
Wir lassen die einzelnen Beiträge miteinander kollidieren und ordnen die Fragmente zu neuen Geschichten.
Ist das möglich? Lassen sich so Geschichten erzählen?
Sieben Zeichnerinnen und Zeichner haben sich mit uns auf dieses Experiment eingelassen.
Die Gruppe deckt das Spektrum von Comic über Illustration und Grafik bis zur bildenden Kunst ab. Gemeinsam ist den Teilnehmenden das Interesse am Medium Zeichnung. Mit der Auswahl der Künstlerinnen und Künstler gehen wir
bewusst über das Comic-Genre hinaus :
Es interessiert uns, wie unterschiedliche Hintergründe, Methoden und künstlerische Positionen ganz unterschiedliche Zugänge zum Erzählen in Bildern schaffen.
Die Künstlerinnen und Künstler treffen nicht nur in der neuen Heftstruktur aufeinander, sondern sind sich auch physisch begegnet :
An einem zweitägigen Workshop im September 2012 im «Kulturfrachter» Alpenhof lernten sich alle Beteiligten kennen.
In den Hügeln des Kantons Appenzell gelegen, beherbergt der Alpenhof die Bibliothek aus dem Nachlass des Wetterbeobachters,
Fotografen, Malers, Verlegers, Filmproduzenten, Kunstsammlers und Mäzens Andreas Züst und dient unterschiedlichen kulturellen Projekten als Treffpunkt. Dieser abgeschiedene und gleichzeitig
inspirierende Ort schien uns ideal, um die STRAPAZIN-Zeichnerinnen und -Zeichner zusammenzubringen: Hier diskutierten sie ihre unterschiedlichen künstlerischen Positionen und mögliche Strategien für Kollisionen. Die von der Redaktion verfassten Texte geben einen Eindruck dieser Auseinandersetzung.
Im Anschluss an das Treffen entwickelten die Künstlerinnen und Künstler ihre individuellen Beiträge zum Thema «Kollision», aus denen wir, die Redaktion, wiederum die Bildsequenzen in diesem Heft gestalteten.
Anlässlich unseres Eintritts ins Herausgeberteam (2011) haben wir unsere Visionen für STRAPAZIN schriftlich festgehalten:
Wir wollen Hefte mit Exklusiv-Beiträgen machen, welche einen erweiterten Begriff des Comics zeigen und unterschiedlichen Ansätzen für das Erzählen in Bildern Raum geben.
Wie reagiert beispielsweise Peter Radelfinger im Vergleich zu Patrick Graf zeichnerisch auf das Thema «Kollision»?
Oder welchen Fokus wählt Cécile Hummel in ihrem Beitrag, die gerade jetzt – in Zeiten politischer Umwälzungen – in Ägypten weilt?
Und was geschieht, wenn all diese Beiträge zu einer Bildsequenz zusammengefügt werden?
Vor diesem Hintergrund haben wir auch dieses Heft mit Sorgfalt konzipiert, mit dem Risiko, grandios zu scheitern oder den Leser zu überfordern.
Wir hoffen, dass wir einige unserer Ansprüche umsetzen konnten und wünschen eine spannende Lektüre.

Julia Marti & Milva Stutz

 

Folgende Personen und Institutionen haben diese STRAPAZIN-Ausgabe unterstützt, wofür wir ihnen danken!
– Ressort Bildende Kunst der Stadt Zürich
– Migros Kulturprozent
– Kulturfrachter Alpenhof, Bea Hadorn und Mara Züst
– Diego Bontognali und Ray Hegelbach
(u.a. Kochen im Alpenhof )

 

 

DAS GESCHRIEBENE WORT

Schöne Gedichte und Avantgarde

Das Geschriebene Wort auf Kollisionskurs von Wolfgang Bortlik

An der Vernissage der verdienst­vollen STRAPAZIN-Ausstellung
im Basler Cartoonmuseum traf ich einen Bekannten, der nach ausgiebiger Betrachtung der Ex-
ponate meinte, dass ihm die STRAPAZIN-Comics zu avantgardistisch seien. Ich wunderte mich ein bisschen, im Zusammenhang mit STRAPAZIN dieses Wort zu hören : Avantgarde. Es stimmt wohl, aber das Wort irritierte mich einfach. Heutzutage noch avantgardistisch? Ja, warum eigentlich nicht ? Wollte man das nicht immer sein, früher, als das Wünschen noch geholfen hat ? Avantgarde nicht nur als Kollision mit der herrschenden Kultur, sondern eben als Vorhut, als Teil der Truppe, der zuerst Feindberührung hat.

Kurz vorher war ich in Lausanne gewesen, in einer Ausstellung des dänischen Malers Asger Jorn (1914 –1973), einem meiner Lieblingskünstler. Den schätze ich vor allem als künstlerischen Gegenpol zu Max Bill, den obersten Schweizer Kunsttüpflischiisser. Der wollte die Welt durch seriell produzierte und nützliche, aber auch schöne Dinge besser machen. Jorn war für das Irrationale und die Kraft des Widerspruchs, der Polemik. Statt harmonischer Ausgewogenheit wollte er Bewegung und Aufruhr. Bills Design-Bauhaus, 1953

in Ulm gegründet, und dessen «guten Form» stellte der zornige Jorn ein «imaginäres Bauhaus» entgegen. Später schuf er auch noch ein «Institut für angewandten Vandalismus».
Bill oder Jorn, was war da aber jetzt die Avantgarde? Im Zweifelsfall immer das Wilde, Ungebärdige? Oder doch das im Gleichschritt Richtung Weltrevolution marschierende Proletariat? Die farbige und lebensfrohe Bildwelt von Asger Jorn zeigt jedenfalls, wie lustig und lustvoll die Avantgarde sein kann. Die Poesie ist die reinste geschriebene Form der Avantgarde, es ist so schön, sich zu verlieren im Spiel.

 

poesie ist kinderspiel
über dem knackenden ei
irrt einer der himmelsboten
auf suche nach seinem antipoden
und das bist du
möglich dass man in so kleiner sphäre
gar nicht denken kann man ärgert
oder langweilt sich ist viel zu sicher
dann ist man für die poesie verloren
es bleibt dir nur ein trost liegst du im sterben
da kommt auch keine langeweile auf
und plötzlich kann dann puppe und ball
spät erinnert dich wissen lassen
die war ich und der war das all

Lucebert (1924 –1994), der Dichter dieser Zeilen, hiess eigentlich Lubertus Jacobus Swaanswijk und gehörte als Schreiber und Maler der Gruppe CoBrA an, die 1948 von Jorn & Co. gegründet wurde. Der Surrealismus war ein stinkender Leichnam und es ging halt um eine neue Avantgarde, diesmal aber nicht mit Paris als Mittelpunkt. Deswegen hiess die Gruppe CoBrA, was Copenhagen, Brüssel und Amsterdam bedeutet.

«L’avangarde se rend pas» schrieb Jorn dann in nicht gerade makellosem Französisch auf eine seiner Übermalungen. Eine Zeitlang kaufte er irgendwelche Ölschinken auf dem Flohmarkt und übermalte sie mit grimmigem Humor. In unserem Falle hat er einem jungen Mädchen im weissen Kleid eine Art napoleonisches Bärtchen aufgemalt und den Satz, von dem ich nicht weiss, ob er ironisch gemeint ist, drumherum geschmiert. Die Avantgarde ergibt sich nicht!
Zürich, die Stadt von Zwingli und Bill, hüpft mittlerweile im Plumpsquadrat, weil 2016 das hundertjährige Jubiläum von Dada dräut. Wie viel Geld will man dafür ausgeben und vor allem : Wem will man es geben?
Die Politiker und Kulturagenten wetzen jetzt schon die Messer und richten die Portemonnaies her. Da muss man halt einfach Vertrauen haben in die unberechenbarsten Figuren.

Von der ersten Dada-Soirée, am 14. Juli 1916 im Saal des Restaurants zur Waag, wird berichtet : Devant une foule compacte, Tzara manifeste, nous voulons
nous voulons nous voulons pisser en couleurs divers. Dann dichtet Richard Hülsenbeck in seinen phantastischen Gebeten von 1916 dazu :

O tscha tschipulala o ta Mpota Mengen
Mengulala mengulala kulilibulala
Bamboscha bambosch
es schliesset der Pfarrer den Ho-osenlatz
Rataplan rataplan

Am 18. August 1980 kam es anlässlich eines Vortrags über Dada im Aarauer Kunsthaus zu Ausschreitungen. Schuld daran war selbstverständlich die vermaledeite Jugendbewegung, die sich jetzt auch als Avantgarde schmückt. Also spring weiter im Viereck, Stadt Zürich.

Es wäre jedoch schade, wenn hier die Lyrik des Surrealismus gänzlich übergangen würde. Für die das hier Lesenden sollte ja nun klar sein, dass das ganze Geschwafel über Avantgarde nur dazu dient, hier schöne Gedichte zu publizieren, die manchmal auch ziemlich direkt und gemein sind.

Der schwarze Schweiss der Schweine
kam nieder mit einem weissen Floh
Feist und quallig wuchs er heran
Und weil er Italiener war
unternahm er seinen schäbigen Marsch auf Rom
und landete eines Tages am dreckigen Arsch des Vatikans
Er war nur noch ne Filzlaus inmitten modriger Christusfiguren
und von seinen Ahnen geschändeter Jungfraun

 

So dichtete Benjamin Péret (1899 –1959), mein Lieblingssurrealist, über Mussolini und das faschistische
Italien. Er kämpfte auf Seiten der Spanischen Revolution und floh vor den Nazis nach Mexiko. Im Gegensatz zu dem von André Breton ist Pérets Grab auf dem Friedhof von Batignolles im Nordosten von Paris ziemlich verwildert.

Eine der merkwürdigsten Figuren der Nachkriegs-Avantgarde war Isidore Isou (1925 –2007), der eigentlich Ioan-Isidor Goldstein hiess. Isou war aus Rumänien, wie der Dada-Ambassador Tristan Tzara, den er aufrichtig hasste. Isou kam mit 20 Jahren nach Paris und gründete dort den Lettrismus. Er war sozusagen der Elvis Presley der französischen Avantgarde und propa-
gierte als Erster den Aufstand der Jugend. Er war für die Zerstörung der Wörter zugunsten der Buchstaben und gab den Zeichen und Lauten ihre Autonomie. Als dann aus den Lettristen die Situationisten hervorgingen und Debord & Co. immer lauter wurden, wurde Isou immer stiller. Auch wenn seine Lautgedichte doch ziemlich laut knirschen, zum Beispiel «Souvenir des alpes sous les skis» (1947/ 50) :

Oualagalhaïa! Oualagalhaïa!
Fnasaga cnaïf
Cnaïf aïgassaga
Ouassaga ouaïf
ouaïff aïhassaga
ïoplidess! ioplidess!
halppahappe haîa
scouégappe scouégappe scouéguescaïa
Guiouiouiou …

Aufhören soll man immer mit seinem Lieblingsdichter. Albert Ehrenstein (1886 –1950) ist einer von der expressionistischen Avantgarde um 1910. Möglicherweise war er der traurigste Mensch der Welt.

Winter
Leise,
wie wider meinen Willen
fallen Flocken
Schnee zu Boden.
Leise,
wie wider meinen Willen
falle ich
zu Boden.

Lesehinweise:
  • Axel Heil : «CoBrA international – Momente einer Utopie».
  • Wunderhorn, Heidelberg 2013,
  • CHF 33.50
  • Benjamin Péret : «Ich esse nicht von diesem Brot».
  • K. Kramer, Berlin 2010,
  • CHF 24.90
  • Uta Brandes / Michael Erlhoff : «DADAs BEST».
  • Nautilus, Hamburg 2009,
  • CHF 17.90
  • Albert Ehrenstein : «Wie bin ich vorgespannt den Kohlewagen meiner Trauer».
  • text & kritik, München,
  • CHF 21.90

DAS MAGAZIN

Altarriba/Kim: «Die Kunst zu fliegen»

Kein Gott, kein Vaterland, kein Herr!

Ein Comic über die Suche nach einem besseren Leben und das Scheitern daran. Über den Tod, das kleine Glück und die Hoffnung auf eine «Heimat in der Menschheit als Ganzes». Ein Neunzigjähriger stürzt sich kurz nach der Jahrtausendwende aus dem Fenster eines Seniorenheimes. Antonio Altarriba Lopez, der Vater des Autoren Antonio Altarriba, ist die Verkörperung der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die während seines Falls vor den Augen der Leser entfaltet wird.

Ein Leben als Suche nach Fluchtwegen aus der Enge, einem freieren Leben, nach
der «Kunst zu fliegen». «Ich war sicher, nie ­wiederzukommen», denkt Antonio, als er ju­gendlich den starren Strukturen auf dem Land Richtung Stadt entflieht. In Saragossa schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch und findet auch hier Barrieren und Mauern, die er gehofft hatte, hinter sich zu lassen.
Er kämpft, angewidert von den autoritären Strukturen des Landes, nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges auf Seiten der Republik. «Kein Gott, kein Vaterland, kein Herr!», schwört er sich mit drei Freunden, den «Musketieren des Anarchismus» zuerst im Kampf für ein freieres Spanien, dann in den Reihen der Résistance gegen die Nazis. Doch das Bündnis im Kampf für eine gerechtere Welt scheitert an der Entwicklung dieser Welt. Die erhoffte Revolution ist verloren, die ehemaligen Kämpfer müssen sich in ein autoritäres, von Militär und Kirche geprägtes Spanien einfügen. Bei seiner Rückkehr nach Spanien, ergibt sich Antonio in die Zwänge der Gesellschaft und versucht zu vergessen : «Um die Gegenwart zu ertragen, musste man der Vergangenheit entsagen, sterben, um weiterzuleben … »

Das Scheitern an den eigenen Idealen zerfrisst ihn und treibt ihn schliesslich zum letzten Schritt. Nun ist es an seinem Sohn zu verstehen. Mit «Die Kunst zu fliegen» hat dieser gemeinsam mit dem Zeichner Kim eine Form geschaffen, die – trotz aller Melancholie, die in den in tristen Grautönen gehaltenen Zeichnungen zum Ausdruck kommt – immer wieder den Anschein des väterlichen Traumes von Freiheit in sich trägt.

Die Literatur, insbesondere Kafkas Erzählungen, waren für den Vater Zuflucht und Bestätigung, Zeichen für die Aussichtslosigkeit des Kampfes und gleichzeitig Hoffnung. Noch kurz vor seinem Tod liest er «Die Verwandlung» und findet sich wieder in den Zwängen Gregor Samsas, sieht sein eigenes Leben gespiegelt in der Metamorphose hin zu einem von der Geschichte vergessenen Aussenseiter, der aber zumindest in der Literaturgeschichte niemals vergessen werden wird.

Ein ebensolches Denkmal hat Antonio Arrabia seinem Vater geschaffen. Was bleibt, ist der Traum, alle Zwänge hinter sich zu lassen, sich vom Boden zu erheben und das Fliegen zu erlernen. Zumindest im Comic. Für die Kunst und eine bessere Welt.

Jonas Engelmann

  • Antonio Altarriba /Kim : «Die Kunst zu fliegen».
  • avant-verlag, 208 Seiten, Softcover, s/w,
  • CHF 35.40 / Eur 24.95

Jonas Engelmann/Anders Nilsen: «Grosse Fragen»

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Abstürze

«Es waren Ereignisse von grosser Tragweite. Es war verwirrend», fasst Philo, ein Graufink, das über 600-seitige Album «Grosse Fragen» zusammen. Ein Baum verschwindet, ein Flugzeug stürzt ab, eine Bombe explodiert, viele Vögel sterben, ein Bruchpilot hat Albträume, eine mysteriöse Schlange windet sich durch die Geschichte : Kein Wunder, dass Philo verwirrt ist. «Grosse Fragen» widmet sich
vor allem einer Frage, danach nämlich, was ­passiert, wenn eine Ordnung zusammenbricht. Über die überschaubare, mit reduziertem Strich skizzierte Graufinkenwelt, deren Leben aus Fressen und Philosophieren besteht, bricht die Tragödie herein : Ein Flugzeug wirft eine Bombe ab, die nicht explodiert, die Vögel halten sie für ein übergrosses Ei. Sie setzen sich zum Brüten auf den vermeintlichen Blindgänger, der schliesslich hochgeht und viele Finken in den Tod reisst. Auch das Leben einer alten Frau – einer Futterspenderin für die Vögel – und ihres behinderten Enkels wird zerstört. Die Frau stirbt, kurz darauf stürzt das Flugzeug in ihr Haus. Die Ereignisse deuten an : Es ist Krieg in der Menschenwelt, die Ordnung ist zusammengebrochen. Die Vögel versuchen, die Ereignisse in die eigene Weltsicht zu integrieren und sich dabei der menschlichen Philosophie und Religionsgeschichte zu bedienen, doch erklären können sie damit nichts. Am Ende der grossen Fragen steht die banale Antwort von Morris, dem Hobby-Philosophen-Graufink : «Es zeigt sich mal wieder, dass man sich auf nichts im Leben verlassen kann. Man sollte jeden Tag so leben, als wäre es der letzte.»

Mehr als diese Binsenweisheit gibt Anders Nilsen dem Leser als Antwort auf die grossen Fragen nicht mit auf den Weg. Um Antworten geht es auch gar nicht. Das Album ist vielmehr eine Studie von Gruppendynamiken, eine Feldstudie der Gesellschaft – seien es Graufinken oder Menschen – angesichts von Extremsituationen, von Krieg, Verlust, Tod. Mit ihrem Leid sind die Vögel alleine, ihr Versuch, sich gegenseitig Trost zu spenden, kippt immer wieder in ein Kreisen um das eigene Elend. Die Bewältigungsstrategie des Absturzpiloten, gefangen in hervorgerufenen Traumata, ist die Wut : Letztendlich schiesst er auf die ihn beobachtenden Vögel. Keiner weiss, wie die Welt, in die alle gemeinsam geworfen wurden und die nicht mehr nach den bekannten Regeln funktioniert, repariert werden soll. Der Baum bleibt verschwunden, das Haus zerstört und die Toten abwesend.

Die Abbildung dieser Hoffnungslosigkeit ist es, was Nilsens Album so nachhaltige Wirkung verleiht : Er nimmt sich die Zeit, seitenlang seinen Charakteren in aussichtslosen, minimalistischen Tätigkeiten zu folgen, ihre Leere angesichts des Verlustes deutlich zu machen, und dennoch in der pseudophilosophischen Selbstironie der Vögel einen Schimmer Hoffnung durchscheinen zu lassen. Der Skeptiker Curtis fasst dies so zusammen : «Die Welt ist auch, ohne dass wir uns magische Gründe für die Dinge ausdenken, kompliziert genug !»

Jonas Engelmann

  • Anders Nilsen : «Grosse Fragen».
  • Atrium, 602 Seiten, Hardcover, s/w,
  • CHF 53.90 / Eur 39.95

Mark Twain: «Der geheimnisvolle Fremde»

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Das schlechteste Tier

Das illustrierte Buch liegt im Trend. Dagegen wäre nichts einzuwenden – wären die meisten illustrierten Bücher nicht so vorhersehbar : Ein Zeichner fertigt in einem «passenden» Stil um die zwanzig Bilder an, die schön regelmässig und möglichst nicht störend im Buch verteilt werden.

Interessant ist ein illustriertes Buch jedoch erst, wenn zwischen Text und Bildern ein echter Dialog entsteht, eine Auseinandersetzung mit Reibungen, eine Interpretation. Darauf achtete der kürzlich verstorbene Armin Abmeier in den von ihm herausgege­benen Die Tollen Hefte, das macht auch Henning Wagenbreth immer wieder vor – und das gegenwärtig vorbildlichste illustrierte Buch ist Mark Twains «Der geheimnisvolle Fremde», bebildert von Atak.

Dieser Fremde ist nichts anderes als ein Teufel namens Satan, der im späten Mittelalter ein österreichisches Dorf aufsucht. Er freundet sich mit einer Handvoll Buben an und führt ihnen erbarmungslos alle Unzulänglichkeiten des Menschen vor, seine Winzigkeit angesichts des Unendlichen und seine Unfähigkeit, Gut und Böse zu verstehen, geschweige denn zu unterscheiden. Düster und pessimistisch, böse und hochkomisch – «Der geheimnisvolle Fremde» ist Mark Twains posthum veröffentlichter Abgesang auf den Menschen, das schlechteste Tier von allen.

Ataks Bildsprache führt die Stimmungen und Aussagen der Novelle nahtlos weiter. Die Bilder sind bunt, vordergründig wirken sie durchaus naiv und dekorativ, doch Atak spielt auch hier virtuos mit Klischees und Zitaten und reichert seine Bilder mit fiesen Details an. Besonders begeisternd ist das Zusammenspiel von Bildern und Text. Die weit über hundert Illustrationen verzahnen sich dank Gestaltung und Typographie zu einem neuen Werk. Zu einem echten illustrierten Buch, nach dessen Lektüre man sich den Text nicht mehr ohne die Bilder vorstellen kann. Der einzige Wermutstropfen : Dieses wundervolle Buch hätte einen festen Einband verdient.

Christian Gasser

  • Mark Twain : «Der geheimnisvolle Fremde», illustriert von Atak.
  • Carlsen Verlag, 176 Seiten, Softcover, farbig,
  • CHF 36.40 / Eur 25.90

Joe Daly: «Doppeltes Glück mit dem roten Affen»

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Affenfüsse und Riesenmeerschweinchen

Was für eine Freude! Was für ein Spass! Und was für eine Überraschung : Joe Dalys «Doppeltes Glück mit dem roten Affen» auf Deutsch! Ein Comic, den eigentlich niemand braucht, der aber allen Leserinnen und Lesern, die sich einen Funken kindliche und pubertäre Liebe zum Comic bewahrt haben, ein Glücksgrinsen auf das Gesicht zaubern wird.

Der rote Affe ist kein Tier, sondern der Spitzname des rothaarigen Dave, eines glücklosen Comic-Zeichners aus Kapstadt, der mit zwei Affenfüssen (!) zur Welt kam. Sein bester Kumpel ist der ständig abgebrannte, Didgeridoos schnitzende und bizarren Schimären hinterher schlurfende Lebenskünstler Paul. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach John Wesley Harding – nein, nicht nach Bob Dylans Platte, sondern nach einem Capybara, eine Art Riesenmeerschweinchen, das aus einem Zoo in ein tropisches Feuchtgebiet geflohen ist.

Bald schon stolpern die beiden stets leicht bekifft und immer sehr überfordert wirkenden Typen unter der erbarmungslos sengenden südafrikanischen Sonne in ein Abenteuer, in welchem sie sich mit Aliens herumschlagen müssen, mit den apokalyptischen Visionen eines besessenen Sehers, mit den skrupellosen Geschäften eines Immobilienhais und Kunstsammlers, mit den eitlen Sprüchen eines Privatdetektivs, über dessen Inkompetenz man sich bis zum Schluss nicht im Klaren ist, und womöglich sogar mit den Folgen des Klimawandels etc. etc. etc.

Haarsträubend – und doch sehr klassisch : Nicht wenige Momente verweisen auf alte «Tim und Struppi»-Bände (vor allem auf «Die schwarze Insel») und andere Klassiker. Auch die Bildsprache – klare Linien und knallbunte Farben – sowie die lineare Erzählweise sind klassisch. Der Plot jedoch torkelt dank der Neigung von Dave und Paul zu paranoiden Wahnvorstellungen und Verschwörungstheorien immer knapp jenseits der Grenze zum Absurden oder zumindest Abstrusen vor- und seitwärts. Dazu führen sie mit gros­ser Leidenschaft endlose Gespräche von stupender Belanglosigkeit – und köstlicher Komik.

«Doppeltes Glück mit dem roten Affen» ist also genau die Art von Comics, die heute niemand zu brauchen glaubt. Trashig, witzig, bizarr und ohne jeglichen welt- und leserverbessernden Anspruch. Warum soll man heute so einen Comic lesen? Ganz einfach: Weil er auf seine liebenswert schräge Weise einzig­artig und hoch komisch ist und glücklich macht.

Christian Gasser

  • Joe Daly : «Doppeltes Glück mit dem roten Affen»,
  • Avant-Verlag, 112 Seiten, Softcover, farbig,
  • ca. CHF 29.– / Eur 19.95

Robert Weaver: «A Pedestrian View/The Vogelman Diary»

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Der Traum vom Fliegen und die Schwerkraft

Eigentlich wollte Robert Weaver (1924 –1994) Wandmaler werden, doch stattdessen wurde er, nachdem er in Venedig die Kunst des Freskos studiert hatte, zu einem begehrten amerikanischen Illustrator. Statt von Mauern herunter kommunizierte er ab 1952 auf den Seiten von so namhaften Pressetiteln wie The New York Times, Life oder Esquire mit der Öffentlichkeit. Dabei verstand er sich immer auch als Journalist und scheute sich nicht davor, in seinen rauen und malerischen Bildern seine Haltung sichtbar zu machen. Am liebsten arbeitete er vor Ort, mit Skizzenblock und Bleistift, und begnügte sich selten mit Einzelbildern, sondern leuchtete die Komplexität und die Widersprüchlichkeit eines Themas lieber in Bildsequenzen aus.

Das macht ihn zu einem Pionier des Visual Essays und zu einer Schlüsselfigur im Bezug auf die aktuelle Wiederentdeckung der Zeichnung als journalistisches Werkzeug. Deshalb erscheint die erste adäquate Buchpublikation seines grossartigen Bildessays «A Pedestrian View/The Vogelman Diary» von 1982 heute zum gerade richtigen Zeitpunkt.

Dieser Essay erzählt zwei Geschichten ohne direkten Zusammenhang. Den oberen Teil der Seite nimmt eine gemalte Strassenszene ein ; unten stehen ein bis zwei Sätze aus dem Tagebuch des fiktiven Clarence Vogelman.

Die Bildfolge zeigt einen Spaziergang durch eine Grossstadt aus der Perspektive eines Fussgängers. Der Blick ist schräg nach unten gerichtet, wir sehen Beine von Passanten, Arbeitern, Polizisten und Strassenmusikern, aber kaum Gesichter. Wir sehen Asphalt,
Mülleimer, den unteren Teil von Fassaden und Schaufenstern, Autoräder und Schriftbilder. Unspektakulär, aber authentisch.

Als Kontrast dazu denkt Vogelman über die Verwandtschaft vom Träumen und vom Fliegen nach, er schwärmt von der Schwerelosigkeit im Traum und wagt die Vermutung, das Fliegen im Traum sei eine Metapher für das Träumen.

Bilder und Texte sind schon isoliert betrachtet ein Genuss. Ihre Konfrontation schafft zusätzlich eine überaus anregende Spannung zwischen dem Traum vom Fliegen und der irdischen Schwerkraft. Durch diese Verknüpfung schafft Robert Weaver, auch wenn er sich jede Schlussfolgerung verkneift, eine Aussage, die weit mehr ist als die Summe der beiden Ebenen – und genau darin liegt das eigentliche Potenzial des Visual Essays.

Christian Gasser

  • Robert Weaver : «A Pedestrian View/The Vogelman Diary».
  • Kettler Verlag, 144 Seiten, Hardcover, farbig,
  • ca. CHF 35.– / Eur 24.90

Jens Bonnke: «Der andere Wagen war absolut unsichtbar, und dann verschwand er wieder»

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Versicherungsblüten

Es lässt sich darüber streiten, ob die hier zitierten Passagen aus Originalbriefen von Versicherungskunden versuchen, einen Betrug vorzutäuschen. Unbestreitbar ist, dass sie ausserordentlich unterhaltsame und ungewollt komische Stilblüten treiben. Der Titel der 38. Ausgabe von Die Tollen Hefte «Der andere Wagen war absolut unsichtbar, und dann war er weg» gibt bereits einen ersten Vorgeschmack auf die kuriosen Beschreibungen, Ausflüchte und Erklärungen, die manch Versicherte in den standardisierten Formularen für Schadensmeldungen hinterlassen. Gesammelt wurden die Zitate von Bernd und Uta Ellermann für das Buch «Ich habe Schmerzen bei jedem Fehltritt», das dem Illustrator Jens Bonnke als Textquelle diente. Für Armin Abmeiers Reihe Die Tollen Hefte hat Bonnke nun eine Auswahl von 36 Zitaten getroffen und bebildert, was ihm sichtlich Spass gemacht hat.

Äusserst versiert und pointiert setzt der Fachmann für «editorial illustration» verschiedene Stile der Illustration ein, um den Zitaten visuell eine weitere Ebene hinzuzufügen, welche die Absurdität der inhaltlichen Aussage unterstreicht. Es ist ein kurzweiliges Heft geworden, das zum Vor- und Zurückblättern animiert und ein jedes Mal zum Schmunzeln einlädt. Was nicht verwunderlich ist bei Beschreibungen von Autofahrern wie z.B. «Ich sah ein trauriges Gesicht langsam vor­überschweben, dann schlug der Herr auf dem Dach meines Wagens auf» oder «An der Kreuzung hatte ich einen unvorhergesehenen Anfall von Farbenblindheit.»

Leider war es das letzte Mal, dass Armin Abmeier für die Herausgabe von Die Tollen Hefte verantwortlich zeichnete. Er ist im Juli letzten Jahres im Alter von 72 Jahren verstorben. Sein Tod ist ein grosser Verlust für die Illustration und den Comic. Und wer – so wie ich – das Glück hatte, ihn persönlich kennen zu lernen, der hat darüber hinaus einen ganz besonderen Menschen und Freund verloren. Armins Vermächtnis lebt weiter in seinen zahlreichen Publikationen und Projekten, die er zum Thema Bildergeschichten herausgegeben bzw. initiiert hat, sowie in den vie-
len Kontakten, die er zwischen Illustratoren, Autoren, Verlegern und Buchliebhabern hergestellt hat. Auch Die Tollen Hefte werden weiterhin für Unterhaltung sorgen, Rotraut Susanne Berner wird die Herausgabe dieser Kleinode der Illustrationskunst betreuen. R.I.P. Armin Abmeier, du wirst uns noch lange begleiten.

Matthias Schneider

  • Jens Bonnke : «Der andere Wagen war absolut unsichtbar, und dann verschwand er wieder».
  • Edition Büchergilde, 32 Seiten, Softcover, farbig,
  • CHF 24.90 / Eur 16.90

Christine Vogt (Hg.): «Ulf K. Der Poet unter den Comic-Zeichnern»

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Poet der Comic-Zeichner

Es ist in Deutschland immer noch eine Besonderheit, wenn sich ein Museum oder eine Galerie darauf spezialisiert, Comics auszustellen. Die Ludwiggalerie im Schloss Oberhausen ist so ein Fall. Zum ganz besonderen Verdienst dieser Kunstliebhaber gehört es nämlich, dass sie es als Erste geschafft haben, eine Ausstellung mit dem genialen und öffentlichkeitsscheuen Walter Moers zu ermöglichen. Darüber hinaus finden sich im Ausstellungsprogramm der Galerie neben Malern und Fotografen wie Keith Haring, Roy Lichtenstein, Georg Baselitz oder Elliott Erwitt mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit auch Comic-Zeichner wie Ralf König und Ulf K. «Der Poet unter den Comic-Zeichnern» – wie Ulf Keyenburg im Titel des Ausstellungskataloges genannt wird – wurde in Oberhausen geboren. Der aufschlussreiche und liebevoll gestaltete Comic-Katalog greift unweigerlich diese erste Station des Zeichners auf, schliesslich finden sich auch in Keyenburgs Comics diverse Verweise auf seine Jugend im Ruhrgebiet. Des Weiteren gibt der Katalog einen detailreichen Einblick in das Werk von Ulf K., das von Comics über Siebdrucke bis hin zu Illustrationen reicht, und verrät uns einiges über seine frühen Inspirationen, von Yves Chaland bis zur allmächtigen Ligne Claire. Vor allem präsentiert der Katalog die zahlreichen und verschiedenartigen Arbeiten des inzwischen in Düsseldorf lebenden Zeichners, die zum Teil nur in Frankreich oder in längst vergriffenen Eigenpublikationen erschienen sind.

Ergänzt werden die ausführlichen Bildbeispiele durch Texte der Direktorin der Ludwiggalerie – Frau Christine Vogt – sowie von Andreas Platthaus, Volker Hamann und Nina Dunkmann. Es sind einerseits die Liebe zum Detail sowie die feinen Beobachtungen, welche sich in Ulf K.’s klaren Strichen und Zeichnungen wiederfinden, andererseits die aufwendig gestalteten und gedruckten Publi-
kationen, die ihm den Titel des «Poeten unter den Comic-Zeichnern» eingebracht haben. Wer weiss, vielleicht würde Ulf K. diesen Titel gerne einmal abgeben. Denn im Grunde möchte er nur Comics und Illustrationen gestalten, ohne kategorisiert zu werden. Aber wahrscheinlich ist es genau das, was Ulf K. so besonders macht. Man könnte ihn mit Schroeder bei den Peanuts vergleichen, der einzig Klavier spielen möchte. Was um ihn herum passiert, ist ihm relativ egal. Ulf K.’s künst­lerisches Werk ist wohl nicht zuletzt deshalb so unaufdringlich und so stark in seiner Reduktion.

Matthias Schneider

  • Christine Vogt (Hg.) : «Ulf K. Der Poet unter den Comic-Zeichnern».
  • Edition 52, 80 Seiten, Hardcover, farbig,
  • CHF 27.50 / Eur 19.90

Jeff Lemire: «Underwater Welder»

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Fünf Faden tief

Jack Joseph hat keinen besonders glamourösen Beruf. Als Unterwasserschweisser auf einer Bohrplattform vor der Küste seines Heimatortes – einem halbvergessenen Städtchen
im kanadischen Bundesstaat Nova Scotia – repariert er, was immer unter dem Meeresspiegel zu reparieren ist. Sein Vater war ein ziemlich erfolgloser, dem Schnaps verfallener Wracktaucher, der sein Leben lang vom grossen Schatz irgendwo in Mexiko träumte, deshalb liegt Jack das Tauchen im Blut – und bald wird er selber Vater eines Kindes sein. Aber statt sich darauf zu freuen, vertrödelt Jack seine Tage ohne Ziel und Zweck, weit weg von allem, als wäre er ununterbrochen hundert Meter tief im Wasser.

Damit wären die wichtigsten Punkte der packenden Graphic Novel «Underwater Welder» von Jeff Lemire benannt, die Story ist aber um einiges vielschichtiger. In verschiedenen Besprechungen wurde das Buch mit einer Episode von «The Twilight Zone» verglichen, was ihm, wie ich meine, nicht gerecht wird, denn «Underwater Welder» ist alles andere als eine langatmige und harmlose Story, eher schon eine Art zeichnerische Antwort auf Ambrose Bierces berühmte Kurzgeschichte «Ein Vorfall an der Owl-Creek-Brücke». Jack gelingt es, einen Moment lang die Zeit anzuhalten, was ihm Gelegenheit gibt, über seine Familiengeschichte, den Sinn des Lebens, erlittene Verluste, über Schicksal und Vorbestimmung nachzudenken. Ohne bereits zu viel zu verraten (der Comic hält noch einige unvorhersehbare Wendungen bereit!), berührte mich die Geschichte vor allem dort, wo Lemire über die Last der Vergangenheit sinniert und über die schmerzhafte, uns allen gut bekannte Idee, vieles wäre besser herausgekommen, wenn wir uns in bestimmten Momenten anders entschieden hätten.

Der junge kanadische Zeichner Lemire machte sich vor ein paar Jahren mit «Essex County» einen Namen, einer Sammlung von lose zusammenhängenden, stimmungsvollen, nostalgischen, manchmal auch lustigen Geschichten, die alle im ländlichen Kanada des letzten Jahrhunderts spielen. Lemires sofort wiedererkennbare poetische Tusche-Krakeleien erinnern an die Schwarzweiss-Zeichnungen eines McKeever, McKean oder Mattotti ; in «Underwater Welder» fügt er noch etwas Grau hinzu, was speziell in den Unterwasserszenen und den Flashbacks für interessante Effekte sorgt. Lemire ist kreativ und spielerisch in der Seitengestaltung, ohne zu übertreiben ; seine Stärken als Geschichtenerzähler liegen im Rhythmus und in seiner Fähigkeit, Gefühle und Stimmungen zu erzeugen. Wenn seine Dialoge auch nicht perfekt sind, so wirken sie doch fast immer authentisch und aufrichtig.

Während der letzten paar Jahre arbeitete Lemire als Superhelden-Zeichner für DC Comics. Zwar kann man ihm nicht vorwerfen, sich finanziell interessanteren Arbeiten zu widmen, doch hoffe ich, dass er trotzdem hin und wieder für Kleinverlage tätig sein und noch weitere Alben im Stil von «Underwater Welder» veröffentlichen wird. Es wäre sehr traurig – so traurig wie eine von Lemires ­eigenen Geschichten – wenn wir diesen originellen Erzähler ganz an die Mainstream-Industrie verlieren würden.

Mark David Nevins

  • Jeff Lemire : «Underwater Welder».
  • Top Shelf Books, 224 Seiten, Softcover, s/w,
  • ca. $ 20

Kurz und Gut

von Christian Meyer

In den letzten Jahren schwingt sich die Comic-Kunst zu immer neuen Höhen auf. Jüngstes Beispiel dieser Meisterschaft ist «Quai d’Orsay» von Christophe Blain und Abel Lanzac. Ersterer ist hinlänglich bekannt durch seine Serien «Isaak der Pirat» und «Gus»; letzterer arbeitete unter dem fran­zösischen Aussenminister Dominique de ­Villepin als Redenschreiber. Seine Erlebnisse rund um den bevorstehenden Afghanistankrieg hat er nun mit Hilfe von Blains ­dynamischen Farbzeichnungen als teils komische, teils expressive, aber immer spannende Analyse der diplomatischen Machenschaften zwischen Idealismus und Machterhalt umgesetzt. Ein grossartiges Werk.

  • Christophe Blain & Abel Lanzac : «Quai d’Orsay».
  • Reprodukt, 200 Seiten, Hardcover, farbig, CHF 47.90 / Eur 36

Bastien Vivès hat sich mit «Der Geschmack von Chlor» und «In meinen Augen» als genauer Beobachter von Liebesbeziehungen erwiesen. Mit «Das Gemetzel» widmet er sich abermals dem Thema und beschreibt skizzenhaft all die Höhen und Tiefen einer Beziehung. Eine spielerische, aber treffende kleine Arbeit.

  • Bastien Vivès : «Das Gemetzel».
  • Reprodukt, 88 Seiten, Softcover, farbig, CHF 21.90 / Eur 15

Vor einem Jahr starb mit Jean Giraud ein wegweisender Comic-Künstler. Als Gir stand er für den Western «Leutnant Blueberry», als Moebius hingegen erschuf er surreale Science-Fiction-Welten in psychedelischen Bildern. Der Verlag Cross Cult fährt nun mit seiner grossen «Moebius Collection» fort : Nach «Die hermetische Garage» und «Arzak» erscheinen nun zugleich fünf Hardcover-Sammelbände, die kurze und längere Ge- schichten aus den 70er-Jahren versammeln, darunter Geschichten um «Major Gruber» sowie «The Long Tomorrow», die eigentliche Vorlage für «Blade Runner» und sehr exemplarisch für Moebius› Mix aus Science Fiction und Noir-Krimi. Eine grossartige Sammlung, die viel wenig Bekanntes ausgräbt. Der Verlag Ehapa veröffentlicht mit «Arzak – der Raumvermesser» Moebius› letztes grossformatiges Werk von 2009. Damit fährt er noch einmal alle Zutaten seines Universums auf : surreale Geschichten, psychedelische Farbgebung und grotesker Humor.

  • Moebius : «Arzak – der Raumvermesser».
  • Ehapa, 80 Seiten, Hardcover, farbig, CHF 35.40 / Eur 25
  • Moebius : «Moebius Collection».
  • Cross Cult, 7 Bände, je 56 Seiten, Hardcover, farbig, je CHF 23.40 / Eur 16

Jeff Lemire hat schon mit seiner melancholischen «Essex-Trilogie» begeistert. Jetzt erscheinen zwei weitere Arbeiten, die diese Gefühlswelt ins Genre überführen : «The Nobody» ist eine Variante von H. G. Wells› «Invisible Man». Der Vermummte wirkt in dem kleinen Kaff, in dem er auftaucht, wie ein Katalysator für Affekte. Am Ende ist nichts mehr, wie es war. «Sweet Tooth» ist eine postapokalyptische Fantasie, in der ein Junge mit Geweih zu einer Gruppe gejagter Kinder gehört. Die krakeligen Zeichnungen sind hier massenkompatibel koloriert, was sie ein wenig der melancholischen Stimmung be- raubt, der existentiell Furcht erregenden Geschichte aber nicht viel anhaben kann. Der dritte Teil «Die Flucht» erscheint Mitte April (beide bei Panini).

  • Jeff Lemire : «The Nobody».
  • Panini, 148 Seiten Hardcover, s/w, CHF 28.40 / Eur 19.50
  • Jeff Lemire : «Sweet Tooth».
  • Panini, je 128 Seiten, Softcover, farbig, je CHF 21.90 / Eur 14.95

Mit «Die falschen Gesichter» erzählen David B. & Tanquerelle von Bankräubern, die über die Jahre mit einer ausgeklügelten Strategie die Pariser Polizei in Atem halten. Für David B. ist dieses spannende Genrestück sicher ungewöhnlich, aber die genaue Charakterzeichnung und Milieustudie steht ganz in der Tradition eines Tardi – ebenso wie die Zeichnungen.

  • David B. & Tanquerelle : «Die falschen Gesichter».
  • Avant-Verlag, 152 Seiten, Softcover, zweifarbig, CHF 28.40 / Eur 19.95

«Der Tag im Moor» von Oliver Grajewski ist ein dicker Brocken, der unterschiedlichste Bild- und Erzähltechniken miteinander kombiniert. Autobiografisch inspiriert, erzählt die Geschichte von einem Besuch bei den Eltern, der von Erinnerungen durchzogen ist und bei Recherchen zu einem alten Artikel in eine magische Gegenwart führt. Ein faszinierendes Werk, das viele (popkulturelle) Fussnoten setzt.

  • Oliver Grajewski : «Ein Tag im Moor».
  • Breitkopf Editionen, 352 Seiten, Softcover, s/w, ca. CHF 32.– / Eur 25

Der zweite Teil von Igorts Berichten aus der ehemaligen Sowjetunion setzt sich mit der 2006 ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja auseinander. «Berichte aus Russland» ist harter Stoff, werden doch die Gräueltaten während des Tschetschenienkriegs, die Folter seitens der Militärs und die Einschüchterungsversuche innerhalb der Pseudodemokratie schonungslos aufgezeigt. Zugleich ist Igorts Buch ganz im Sinne seiner Protagonistin ein Plädoyer für die Menschlichkeit – und ein Denkmal für die Opfer der Unterdrückung.

  • Igort : «Berichte aus Russland».
  • Reprodukt, 176 Seiten, Softcover, farbig, CHF 34.40 / Eur 24

«Koma» von Pierre Wazem und Frederic Peeters erzählt in sechs Bänden von Addidas und ihrem Vater. Beide leben als Schornsteinfeger in einer düsteren, diktatorischen Metropole. Science Fiction, Fantasy und Märchen kreuzen dieses Spektakel. Nachdem die Ereignisse in den ersten beiden Bänden Vater und Tochter auseinandergerissen haben, findet die Familie im dritten Band «Wie im Wilden Westen» zwischen Arbeitslager und unterirdischer Parallelwelt wieder zusammen. Im vierten Band werden sie aber weiterverfolgt und flüchten durch eine surreale Fantasiewelt in «Das Hotel». Niedlich-brutal, düster und bunt – «Koma» ist eine wirklich aussergewöhnliche Serie.

  • Pierre Wazem & Frederic Peeters : «Koma».
  • Reprodukt, 6 Bände, je 48 Seiten, Softcover, farbig, je CHF 17.90 / Eur 12

Mit «White Line» entführt uns auch Calle Claus auf eine böse surreale Reise, dessen Pointe an Polanskis «Der Mieter» erinnert. Nach einer Party geht der Protagonist mit einer Frau mit und landet in einem irren Albtraum. Ein hermetisches Spiel voller boshafter Ideen. Gegensätzlicher dazu könnte Ulf K.’s neues Album «Dolomiti Jahre» kaum sein. Ulf K. erzählt Kindheitserinnerungen, die sowohl heimelige Geborgenheit als auch die Gefahren hinter der nächsten Ecke thematisieren – alles aus der fantasievollen Perspektive eines Kindes und in schönen, leicht nostalgischen Farbzeichnungen.

  • Calle Claus : «White Line».
  • Edition 52, 144 Seiten, Softcover, s/w, CHF 25.90 / Eur 18
  • Ulf K. : «Dolomiti Jahre».
  • Edition 52, 48 Seiten, Softcover, farbig, CHF 17.90 / Eur 12

Noch eine Spaziergängerin : Anke Feuchtenberger hat eine ganze Generation von ZeichnerInnen mit ihrem Stil beeinflusst. Zusammen mit Stefano Ricci veröffentlicht die Hochschulprofessorin im Verlag Mami freiere Arbeiten, bei Reprodukt erscheinen ihre Comics. So auch «Die Spaziergängerin», eine Sammlung mit Geschichten zu verschiedenen Städten, die mal abstrakt-assoziativ, mal vage narrativ sind.

  • Anke Feuchtenberger : «Die Spaziergängerin».
  • Reprodukt, 80 Seiten, Hardcover, s/w und farbig, CHF 28.90 / Eur 20

In eindrucksvollen, bunten Zeichnungen erzählen Brüno und Fabian Nury Eugène Sues Roman «Atar Gull» als Comic. Sue war Mitte des 19. Jahrhunderts sehr populär, heute ist er kaum noch bekannt. Dessen Wendung zum politischen Engagement hin ist auch in der Geschichte um den Sklaven Atar Gull, der sich raffiniert an seinem Sklavenhalter rächt, bestens erkennbar. Spannend ist nicht nur die Story, sondern auch die widersprüchliche Charakterzeichnung, die das Gute und das Böse nicht einfach auf simple Art abhandelt.

  • Brüno & Fabian Nury : «Atar Gull».
  • Avant-Verlag, 86 Seiten, Hardcover, farbig, CHF 28.40 / Eur 19.95

Wer sich die Nase am Schaufenster des Taschen-Verlags platt drückt, weil dort Robert Crumbs Sketchbook-Sammlung für ein paar Hundert Euro zu haben ist, kann sich über eine erschwingliche Anthologie in vier Bänden von Reprodukt mit Stories aus den Skizzenbüchern des Meisters freuen. Den Anfang macht «Nausea» mit Geschichten aus den 80er- und 90er-Jahren zu Literatur und Literaturbetrieb.

  • Robert Crumb : «Nausea».
  • 112 Seiten Hardcover, s/w, CHF 39.90 / Eur 29